Sauerbruch war gestern
Strenge Hierarchien wie in Zeiten des Chirurgen Sauerbruch sind passé. Junge Ärzte und Pflegeprofis wünschen sich eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Auf dem Deutschen Pflegetag in Berlin zeigte der Nachwuchs, wie das gelingen kann. Von Thomas Hommel
Schulterschluss statt Grabenkampf:
Angehende Ärzte und junge Pflegeschüler haben den vergangenen Pflegetag in Berlin genutzt, um für eine neue Kultur der Zusammenarbeit in Kliniken, Pflegeeinrichtungen und in der ambulanten ärztlichen Versorgung zu werben. Diese neue Arbeitskultur müsse geprägt sein von Offenheit und gegenseitiger Wertschätzung, machte der Nachwuchs deutlich. Die Verantwortung für Behandlungsergebnisse sei auf allen Schultern gleichmäßig zu verteilen. Macht dürfe nicht von einer Profession ausgehen, sie sei partnerschaftlich zu teilen.
„Zusammenarbeit im Gesundheitswesen darf kein Glücksfall sein. Patientinnen und Patienten müssen sich auf eine kooperative Arbeit der Gesundheitsberufe verlassen können“, betonte auch Irina Cichon, Senior Projektmanagerin Gesundheit bei der Robert Bosch Stiftung. Gemeinsam mit dem AOK-Bundesverband, der AOK Nordost und der PflegeZukunfts-Initiative gehörte die Stiftung zu den Initiatoren einer Diskussionsrunde, die im Rahmen des Pflegetages stattfand. Die Runde gab zahlreiche Anstöße, wie Ärzte, Pflegeprofis und andere Gesundheitsberufe im Berufsalltag stärker auf Augenhöhe agieren und Entscheidungen – wenn möglich – gemeinsam treffen können.
„Interprofessionelle Zusammenarbeit bedeutet für mich, dass sich alle Beteiligten auf gleicher Ebene begegnen, eine kooperative Atmosphäre unterstützen und Hand in Hand ein gemeinsames Ziel verfolgen.“
Matthias J. Witti, Krankenpfleger aus München, schreibt zurzeit an seiner Dissertation
„Es besteht die Chance, dass die neue Generation in Medizin und Pflege jetzt mit einer neuen Form der Zusammenarbeit startet und Hierarchien und Kompetenzgerangel hinter sich lässt“, zeigte sich Dr. Katharina Graffmann-Weschke, Leiterin der PflegeAkademie der AOK Nordost, überzeugt. Interprofessionelle Zusammenarbeit gelinge dort am besten, „wo man kollegial die Kompetenzen der anderen anerkennt, wertschätzt und vor allem nutzt und nachfragt“. Darin liege der stärkste Beweis von gegenseitigem Respekt, so Graffmann-Weschke.
Teamarbeit erlernen.
Ein Schlüssel für eine neue Arbeitskultur liegt den Experten zufolge in der Aus- und Weiterbildung. Die Robert Bosch Stiftung hat bereits vor Jahren ein Programm aufgelegt, das unter dem Titel „Operation Team“ mittlerweile 24 Projekte zum gemeinsamen Lernen fördert. Am Universitätsklinikum Greifswald etwa trainieren Medizinstudierende und Pflegeschüler in verschiedenen Fallszenarien, wie Notfallpatienten im Team besser versorgt werden können.
„Es ist wichtig, der jeweils anderen Berufsgruppe mit Offenheit und Interesse zu begegnen. Keiner sollte sich über- oder unterlegen fühlen.“
Carolin von Streit, Kinderkrankenpflegeschülerin aus Freiburg
Im Rahmen des InHAnds-Projekts – Interprofessionelle Health Alliance Südniedersachsen – in Göttingen wiederum finden am städtischen Gesundheitscampus interprofessionelle Lehrmodule statt. Studierende der Humanmedizin, der Pflege und der Therapiewissenschaften tauschen sich dort über Sicht- und Denkweisen aus und lernen so die Erwartungen und Kompetenzen der jeweils anderen Profession besser kennen.
Mit einem Besucherrekord von rund 10.000 Teilnehmern ist Mitte März der 6. Deutsche Pflegetag in Berlin zu Ende gegangen.
Der AOK-Bundesverband war als Gründungspartner des dreitägigen Kongresses wieder mit einem eigenen Fachprogramm und einem Messestand vertreten. Auf Einladung der AOK fand unter anderem eine hochkarätig besetzte Podiumsdiskussion zur Frage der künftigen Finanzierung der Sozialen Pflegeversicherung statt.
Hintergrund sind aktuelle Forderungen, den Eigenanteil von Pflegebedürftigen an den Heimkosten zu begrenzen. Mehrere Bundesländer hatten zuletzt entsprechende Initiativen in die Länderkammer eingebracht.
Der Vorstandschef des AOK-Bundesverbandes, Martin Litsch, betonte bei einem Pressegespräch zum Pflegetag, dass sich die Gesundheitskasse als „Partner der Pflege“ verstehe. „Als größte Pflegekasse in Deutschland haben wir sowohl den Anspruch, die Versorgung für unsere Versicherten und ihre Angehörigen mitzugestalten als auch die Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte voranzubringen.“
Konkret bedeute das, mit besseren Arbeitsbedingungen dem Fachkräftemangel in der Pflege entgegenzuwirken und mehr Menschen für den Pflegeberuf zu gewinnen sowie langfristig im Job zu halten. „Zweifellos gehört eine angemessene Bezahlung zu den Schlüsselfaktoren in dieser Frage. Sie ist ein Zeichen dafür, was uns als Gesellschaft gute Pflege wert ist.“ Dieses Geld müsse aber auch beim Pflegepersonal ankommen, so Litsch. „Hier sind wir noch nicht am Ziel.“ Entsprechende Vorschläge bringe die AOK in die Arbeitsgruppen der Konzertierten Aktion Pflege (KAP) der Bundesregierung ein.
Der Präsident des Deutschen Pflegerates, Franz Wagner, sagte, der Mehrwert der KAP liege darin, dass unterschiedliche Akteure an einem Tisch zusammenkämen. „Dabei treffen aber auch sehr unterschiedliche Interessen aufeinander. Das ist Chance und Begrenzung zugleich.“ Die Erwartungen der Pflegenden an ein mutiges Handlungspaket seien groß. Außerdem müsse dringend etwas gegen die personellen Engpässe getan werden. „Pflege ist offiziell ein Mangelberuf.“
„Mit unserem Programm adressieren wir gezielt die berufliche Sozialisation angehender Mediziner, Pflegekräfte und Therapeuten“, so Irina Cichon von der Robert Bosch Stiftung. „Auf diese Weise soll der Fachkräftenachwuchs schon in der Ausbildungsphase an die Kooperation in einem berufsübergreifenden Team herangeführt werden.“
An den Schnittstellen klemmt es.
Dass sich die Zusammenarbeit von Ärzten und Pflegekräften verbessern lässt, zeigen Modellprojekte und Erhebungen zu diesem Thema. So macht ein früheres gemeinsames Modellvorhaben von Bundesärztekammer und Deutschem Pflegerat Optimierungsbedarf sowohl in der Kommunikation als auch in der Kooperation beider Berufsgruppen im Krankenhaus aus.
„Augenhöhe funktioniert wie jede zwischenmenschliche Arbeitsbeziehung: durch Wertschätzung, Respekt und Verständnis für andere Sichtweisen. Und damit muss ICH anfangen.“
Daniel Hartmann, Medizinstudent aus München
Das gilt insbesondere für wichtige Schnittstellen wie die Patientenaufnahme, die Visite oder die Entlassung des Patienten. Hier ist eine abgestimmte Vorgehensweise aller Beteiligten wichtig, aber eben nicht immer selbstverständlich. Eine Umfrage für den Picker Report von 2014 unter 11.000 Pflegefachkräften und 5.000 Ärzten bestätigt den Befund: Gut ein Viertel (27 Prozent) der befragten Pflegekräfte und ein Drittel (37 Prozent) der Ärzte erleben die Übergabe von Patienteninformationen danach als unstrukturiert.
Paradebeispiel Visite.
Für den langjährigen Berliner Krankenhausmanager und heutigen Vorsitzenden der PflegeZukunfts-Initiative, Elimar Brandt, entscheidet sich daher vor allem an den gemeinamen Schnittstellen, „ob Augenhöhe zwischen Medizin und Pflege gelingt“. Als Beispiel führte Brandt die Visiten im Krankenhaus an.
„Augenhöhe gelingt am besten, wenn Pflege und Medizin vollends einsehen, dass sie einander brauchen.“
Jonas Schüle, Gesundheits- und Kinderkrankenpflegeschüler aus Freiburg
„Diese sollten partnerschaftlich von Ärzten und Pflegekräften durchgeführt werden.“ Fach- und Erfahrungskompetenzen würden so gleichberechtigt wahrgenommen und eingebracht. Denkbar sei auch, dass die Leitung der Visite wechselseitig mal von einem Arzt, mal von einer Pflegefachkraft wahrgenommen werde. In Psychiatrie und Geriatrie fänden solche „Visiten auf Augenhöhe“ teilweise schon statt.
Natürlich weiß auch Brandt, dass sich über Jahre gewachsene Strukturen nicht einfach über Nacht beiseite schieben lassen. Aber knapper werdende Ressourcen machten „ein abgestimmtes und von Wertschätzung geprägtes Miteinander der Berufsgruppen“ nötig.
„Teammitgliedern freundlich begegnen, eigene Wünsche und Anliegen formulieren und aktiv nach Unterstützungsbedarf seitens der anderen Profession fragen. Sich bedanken, wenn eine Situation für einen selbst durch die Zusammenarbeit mit dem anderen besser gelaufen ist.“
Sebastian Friedrich, Assistenzarzt aus Freiburg
Katharina Graffmann-Weschke von der AOK Nordost sieht das ähnlich: „Es muss uns gelingen, mit immer weniger Fachkräften weiterhin Qualität vor Quantität in der Versorgung zu erhalten.“ Das gelinge aber nur, wenn Ärzte und Pflegeprofis sich als Orchester verstünden und nicht als Solisten auftreten würden. Der Benefit liege in besseren Patientenergebnissen, höherer Berufszufriedenheit und geringeren Behandlungskosten.