Thema des Monats

Beitrag oder Steuer?

Die Finanzierung von Corona-Lasten hat die Debatte um Fremdleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung und den steuerfinanzierten Bundeszuschuss neu belebt. Prof. Dr. Klaus Jacobs wirbt dafür, dass sich die Politik wieder auf die Stärken der solidarischen Beitragsfinanzierung besinnt und Weichen für ihre zukunftsfeste Ausgestaltung stellt.

Seit 2004 gibt es in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) einen steuerfinanzierten Bundeszuschuss. Weil die damalige rot-grüne Bundesregierung ohne Mehrheit im Bundesrat war, musste sich seinerzeit Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt beim GKV-Modernisierungsgesetz mit der Union verständigen. Deren Verhandlungsführer Horst Seehofer sagte im September 2003 im Bundestag: „Ich finde, es ist ein großer Fortschritt, dass versicherungsfremde Leistungen künftig nicht mehr aus Beitragsmitteln, aus Sozialversicherungsbeiträgen, sondern aus Steuermitteln finanziert werden. Das wird jetzt Wirklichkeit.“ Damals wurde beschlossen, dass der Bund einen festen Zuschuss an die GKV leistet, und zwar – so steht es bis heute im Gesetz – „zur pauschalen Abgeltung der Aufwendungen der Krankenkassen für versicherungsfremde Leistungen“.

Was damit genau gemeint ist, wurde aber bis heute nicht spezifiziert. Die Rede war vor allem von Leistungen im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Mutterschaft. Hierfür sollte der Zuschuss 4,2 Milliarden Euro betragen, die planmäßig in drei Schritten 2006 erreicht wurden (siehe Grafik „Auf und Ab beim Bundeszuschuss“).

Keine drei Jahre später änderte die nun amtierende Große Koalition ihren Kurs und beschloss im Rahmen des Haushaltsbegleitgesetzes 2006, den soeben erst eingeführten Bundeszuschuss zur GKV wieder abzuschaffen. Der erste Schritt hierzu war bereits erfolgt, als sich dieselbe Regierung nur wenige Monate später abermals umentschied: Mit dem 2007 beschlossenen GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz wurde der Bundeszuschuss wiederbelebt – sogar deutlich umfangreicher als zuvor. 2007 und 2008 sollte er jeweils 2,5 Milliarden Euro betragen und danach jährlich um 1,5 Milliarden Euro bis zu einer Gesamtsumme von 14 Milliarden Euro wachsen. In der Gesetzes­begründung war jetzt davon die Rede, dass die GKV „gesamtgesellschaftliche Lasten“ trage, wie insbesondere die beitragsfreie Mitversicherung von Kindern, und damit einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung gesamtgesellschaftlicher Solidarität leiste.

Grafik: Bundeszuschuss zur gesetzlichen Krankenversicherung von 2004 bis 2021 (geschätzt)

Keine berechenbare Größe: Seit seiner Einführung geht der Bundeszuschuss mal rauf und mal runter. 2009 bis 2011 wurde er in der weltweiten Finanz­krise außerplanmäßig stark angehoben und 2013 bis 2015 zur Konsolidierung des Bundeshaushalts abgesenkt. Jetzt wird er unter Hinweis auf Corona wieder erhöht und soll im Wahljahr 2021 19,5 Milliarden Euro betragen. Aber auch der aktuelle Ausgangswert von 14,5 Milliarden Euro ist rein willkürlich gesetzt.

Quelle: Eigene Darstellung nach BMG

Auch dieser Plan hatte nicht lange Bestand. Denn vor dem Hintergrund der weltweiten Finanzkrise wurde der Bundes­zuschuss im Rahmen des Konjunkturpaktes II zusätzlich erhöht: 2009 um 3,2 und 2010 um 6,3 Milliarden Euro, um eine vo­rübergehende Senkung des Beitragssatzes zum Gesundheitsfonds um 0,6 Prozentpunkte ab Mitte 2009 zu kompensieren. Von versicherungsfremden Leistungen war jetzt keine Rede mehr.

Das gilt auch für zwei weitere Sonderzahlungen des Bundes von 3,9 (2010) und 2,0 (2011) Milliarden Euro zur Vermeidung konjunktur­bedingter Defizite der GKV. Aber damit nicht genug: Der mittlerweile 2012 wieder bei seinem Zielwert von 14 Milliarden Euro angekommene Bundeszuschuss wurde in den drei Folgejahren als Beitrag zur Haushaltskonsolidierung des Bundes gekürzt. Danach hat der Gesundheitsfonds ab 2017 immerhin dreimal den neuen Zielwert von jährlich 14,5 Milliarden Euro vom Bund erhalten. Doch dann kam Corona.

Obergrenze für Beitragslast gesetzt.

Für 2020 hat sich die Bundes­regierung in ihrem Corona-Konjunkturpaket darauf verständigt, den Bundeszuschuss zur GKV um 3,5 Milliarden Euro zu er­höhen und erstmals auch einen Bundeszuschuss von 1,8 Mil­liarden Euro an die soziale Pflegeversicherung (SPV) zu bezahlen. Dies geschieht im Rahmen der vollmundig als „Sozial­garantie 2021“ bezeichneten Ankündigung, die Sozialversicherungsbeiträge insgesamt bis Ende 2021 bei maximal 40 Prozent zu deckeln, nötigenfalls durch erhöhte Steuerzuschüsse. Begründung: Schutz der Nettoeinkommen der Arbeitnehmer sowie Verlässlichkeit und Wettbewerbsfähigkeit für die Arbeitgeber, also auch hier keine Rede von versicherungsfremden Leistungen. Für das Wahljahr 2021 hat sich die Bundesregierung eine beson­ders trickreiche Lösung ausgedacht: Der mittlere Zusatzbeitrag der Kassen soll um 0,2 Prozentpunkte steigen – dann läge der Gesamtsozialversicherungsbeitrag bei genau 39,95 Prozent. Der Bundeszuschuss soll um fünf auf dann 19,5 Milliarden Euro erhöht werden. Doch die Hauptlast der Beitragssatzstabilisierung soll die Sozialisierung von Kassenreserven zugunsten des Gesundheitsfonds tragen. Sozialgarantie des Bundes?

Zuschuss als Manövriermasse.

Ein Blick auf die schon jetzt recht wechselhafte Entwicklung des Bundeszuschusses zeigt, dass der Gesetzgeber den Begriff der versicherungsfremden Leistungen zu keinem Zeitpunkt näher klären wollte. In einer Ausarbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages aus dem Jahr 2016 (siehe Kasten „Lese- und Webtipps“) heißt es, dies sei offenbar bewusst geschehen. Diese Einschätzung liegt insoweit nahe, als die Gründe für Veränderungen beim Bundes­zuschuss nur selten mit seinem gesetzlichen Bestimmungszweck zu tun hatten und stattdessen konjunktur-, haushalts- oder beschäftigungspolitischer Natur waren. Jede Form einer festen Regelbindung hätte der Politik einen derart flexiblen Einsatz dieses Instruments zwangsläufig erschwert und würde dies auch künftig tun.

Definition versicherungsfremder Leistungen fehlt.

In der Vergangenheit war es immer ein Anliegen der GKV, dass der Bundeszuschuss nicht nach Kassenlage oder in Abhängigkeit von Wahlterminen erfolgt, sondern möglichst planbar und transparent und ohne die Autonomie der sozialen Selbstverwaltung beim (Zusatz-)Beitrag infrage zu stellen. Dies setzt allerdings hinreichend klare Konzepte zur Abgrenzung der versicherungsfremden Leistungen voraus. Gibt es die überhaupt? Die Aus­arbeitung der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages enthält eine Übersicht von Analysen, in denen versicherungsfremde Leistungen abgegrenzt und quantifiziert werden. Besondere Beachtung gebührt dabei einer Pressemitteilung des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) vom 7. März 2013. Dort gibt es eine detaillierte Aufstellung von Leistungen der GKV, für die die steuerliche Beteiligung des Bundes erfolge. Hierbei ist explizit von der Unterstützung familienpolitischer Leistungen die Rede. Deren Ausgabenvolumen hatte das BMG damals auf über 30 Milliarden Euro geschätzt und festgestellt: „Letztlich deckt der auf Dauer vorgesehene Bundeszuschuss von 14 Milliarden Euro nur rund 40 Prozent der familienpolitischen Leistungen der GKV ab.“

Die Krankenkassen zahlen viele Milliarden Euro für Leistungen, die Sache des Staates sind.

In zwei aktuelleren Untersuchungen wird der Begriff der versicherungsfremden Leistungen noch weiter gefasst. Das gilt zunächst für eine 2018 vom langjährigen DIW-Experten Volker Meinhardt für die Hans-Böckler-Stiftung erstellte Studie, die die gesamte Sozialversicherung in den Blick nimmt (siehe Lese- und Webtipps). Für die GKV nennt Meinhardt neben familienpolitischen Leistungen, die der GKV-Spitzenverband zwischenzeitlich auf nunmehr 36,6 Milliarden Euro geschätzt hatte, die nicht ausgabendeckenden Beiträge, die der Bund für Bezieher von Arbeitslosengeld II entrichtet. Die Differenz zwischen den tatsächlichen Ausgaben für ALG-II-Bezieher und den für sie gezahlten Beiträgen hatte das Berliner IGES-Institut im Auftrag des BMG für 2016 auf rund 6,1 Milliarden Euro geschätzt. Damit kommt Meinhardt für dasselbe Jahr auf ein Gesamt­volumen versicherungsfremder Leistungen der GKV von 42,7 Milliarden Euro.

Das Leipziger WIG2-Institut definiert die versicherungsfremden Leistungen der GKV in einer im Mai 2020 veröffentlichten Studie noch weiter, nämlich als „medizinische und nicht-medizinische Sach- und Geldleistungen, die (auch) außerhalb der Gruppe der Mitglieder wirken (sollen) und keinen direkten oder indirekten Bezug zu einem (potenziellen) Krankheitsfall innerhalb dieser Gruppe aufweisen“ (siehe Lese- und Webtipps). Neben familienpolitischen Leistungen und der Bezuschussung der ALG II-Empfänger werden so etliche weitere Kassenleistungen identifiziert. Hierzu zählen ein Großteil der Präventionsaufgaben, die Beteiligung an Infrastrukturinvestitionen wie beim Krankenhaus-Strukturfonds, aber auch Schutzimpfungen oder die Finanzierung von Versorgungsforschung. Insgesamt kommt das WIG2-Institut bei seiner Schätzung versicherungsfremder Leistungen für 2016 auf einen Gesamtbetrag von stolzen 56,5 Milliarden Euro. Hiervon deckte der in diesem Jahr gezahlte Bundeszuschuss von 14 Milliarden Euro gerade einmal rund ein Viertel ab.

Was lässt sich aus diesen unterschiedlichen Schätzergebnissen schlussfolgern? Zunächst wird deutlich, dass es „die“ unstrittige, wissenschaftlich abgeleitete Definition versicherungsfremder Leistungen nicht gibt. Das gilt selbst für die beitragsfreie Mitversicherung von Kindern und Jugendlichen. Denn betrachtet man die Aussage des Bundesverfassungsgerichts (Urteil von 2005 zum Risikostrukturausgleich), wonach die Familien­versicherung in einer langen sozialversicherungsrechtlichen Tradition stehe und zu denjenigen Sozialleistungen gehöre, die das Bild der klassischen Sozialversicherung mitgeprägt hätten, dürfte es schwerfallen, diese Leistung als (sozial-)versicherungsfremd zu bezeichnen. Das gilt auch für den GKV-internen Einkommensausgleich, den der Sachverständigenrat Wirtschaft auch schon einmal als „versicherungsfremd“ klassifiziert hatte.

Damit stellt sich allerdings eine Grundsatzfrage: Inwieweit macht es überhaupt Sinn, Kriterien einer „normalen“ Versicherung auf die Sozialversicherung zu übertragen? Wie immer die Antwort auf diese Frage ausfällt, eines ist klar: Letztlich handelt es sich bei der Definition von „Fremdleistungen“ der GKV immer um eine politische Entscheidung. Das darf jedoch keinesfalls mit Willkür und Beliebigkeit gleichgesetzt werden.

Sozialversicherungen über einen Kamm geschert.

Um eine rein politische Entscheidung handelt es sich auch bei der 40-Prozent-Grenze für die gesamten Sozialversicherungsbeiträge, die die Bundesregierung unter dem fragwürdigen Namen „Sozial­garantie 2021“ vereinbart hat. Hiermit verbindet sich zugleich eine recht schlichte Sicht auf die unterschiedlichen Zweige der Sozial­versicherung, die sich von ihrem Charakter her teilweise deutlich unterscheiden. Die Arbeitslosen- und Rentenversicherung haben in erster Linie die Aufgabe, die Versicherten gegen den Ausfall des Erwerbseinkommens abzusichern. Hier gibt es demzufolge sowohl einen klaren Erwerbsbezug als auch eine Äquivalenzbeziehung zwischen Beitrag und Leistung.

Eine von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) eingesetzte Kommission hat im August 2020 Vorschläge für eine Reform der Sozialversicherungssysteme vorgelegt. Das Reformkonzept für die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) basiert auf zwei Annahmen: Zum einen gibt es in der Gesundheitsversorgung nennenswerte Ineffizienzen. Zum anderen können diese durch konsequentes Versorgungsmanagement im Rahmen von versorgungsorientiertem Kassenwettbewerb vermindert werden. Um ent­sprechende Anreize zu setzen, orientiert sich der einkommens­abhängige, paritätisch finanzierte Beitrag zum Gesundheitsfonds am jeweils günstigsten Versorgungsmanagement-Tarif, der auf Basis von Selektivverträgen zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern angeboten wird. Durch Ausübung der Kassen- und/oder Tarifwahl steht dieser Tarif grundsätzlich allen Versicherten offen. Nur wer ihn nicht wählt, muss einen einkommensunabhängigen Zusatzbeitrag ohne Arbeitgeberbeteiligung entrichten.

Der günstigste Versorgungsmanagement-Tarif wäre auch Anknüpfungspunkt für die Einbeziehung der Privatversicherten. Sie würden wie die GKV-Mitglieder einen einkommensabhängigen Beitrag an den Gesundheitsfonds entrichten und erhielten im Gegenzug denselben risikoadjustierten Betrag als „Grundstock“ ihrer Versicherungsprämie, wie ihn die Krankenkassen im Risikostrukturausgleich für ihre Versicherten zugewiesen bekommen. Zusätzliche Prämienzahlungen würden „klassischen“ PKV-Prinzipien folgen – speziell im Hinblick auf ihre risikoäquivalente Ausgestaltung oder den Aufbau von Alterungsrückstellungen.

Klaus Jacobs

Dagegen zählt zu den Hauptaufgaben der GKV und teil­weise auch der SPV die Bereitstellung einer qualitätsgesicherten Versorgung. Das bedeutet gleich zweierlei: Zum einen passt es nicht zusammen, wenn die Gesundheits- und Pflegewirtschaft ständig als zukunftsweisender Jobmotor gefeiert wird, ihre zentralen Finanzierungssäulen aber gleichzeitig als beschäftigungshemmende Kostenfaktoren gelten. Zum anderen haben die Leistungen von GKV und SPV weit überwiegend keinen Erwerbsbezug, und es gibt keine direkte Äquivalenzbeziehung zwischen Beitrag und Leistung. Das war noch anders, als die GKV einmal vor allem als Krankengeldversicherung gegründet wurde. Doch das ist viele Jahrzehnte her. Deshalb wäre es längst an der Zeit, den Rollenwechsel der GKV von einer Einkommensersatzversicherung zu einer Versorgungsversicherung mit Gestaltungsfunk­tion für die Bevölkerung endlich auch bei der Finanzierung nach­zuvollziehen. Die damit einhergehende Ausweitung der Basis der solidarischen Beitragsfinanzierung würde unmittelbar zu niedrigeren Beiträgen führen.

Politik greift den Kassen in die Taschen.

Unbeschadet der beschriebenen Schwierigkeiten – und letztlich Unmöglichkeit – Ver­sicherungsleistungen eindeutig abzugrenzen, verschwimmen die Grenzen zwischen Beitrags- und Steuerfinanzierung schon seit einiger Zeit. Dieser Eindruck hat sich unter den Bedingungen von Corona verstärkt. Ein vom Branchendienst OPG (Ausgabe 20/2020 vom 22.7.2020) berichtetes Zitat von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn aus einer Videokonferenz mit Vertragsärzten zur Finanzierung von Coronatests ist hierfür symptomatisch: Im Grunde sei es egal, ob ein Test über ein ÖGD-Formular oder als Kassenleistung abgerechnet werde, denn „am Ende zahlen es die Kassen und am Ende zahlt es der Bundeszuschuss“. Diese Aussage gilt für einen Bundeszuschuss, der noch zu keiner Zeit regelhaft an das Ausgabenvolumen eines definierten Leistungspakets geknüpft war und jetzt davon abhängig gemacht werden soll, ob die Beiträge unterschiedlicher Sozialversicherungszweige in der Summe eine willkürlich festgelegte Obergrenze nicht überschreiten. Hierfür ist die Bundesregierung sogar gewillt, unter Missachtung der Finanzautonomie der Krankenkassen deren Rücklagen anzugreifen.

Große Allianz für höheren Bundeszuschuss.

Hinter der Forderung nach einem höheren Bundeszuschuss versammelt sich gegenwärtig ein breites Spektrum aus Vertretern unterschiedlicher politischer Parteien, von beiden Bänken der sozialen Selbstverwaltung, von Krankenkassen und ihrem Spitzenverband. Sie alle eint das verständliche Interesse an der (Zusatz-)Beitragsstabilität – auch und gerade in Corona-Zeiten. Bemerkenswert ist allerdings, dass der Verband der privaten Krankenversicherung (PKV) in dasselbe Horn stößt. Das WIG2-Gutachten zum Umfang versicherungsfremder Leistungen – mit dem bislang bei weitem höchsten Schätzergebnis – hat nicht etwa der GKV-Spitzenverband gefördert, sondern der PKV-Verband. Die Beweggründe dürften auf der Hand liegen. Gerade zu Corona-Zeiten ist der PKV überaus wichtig, ständig auf die Wahrnehmung ihrer gesellschaftspolitischen Verantwortung hinzuweisen. Dabei ist ihr jedes Argument recht. So reklamiert sie etwa im Krankenhausbereich Zusatzeinnahmen der Kliniken komplett für sich. Dabei handelt es sich jedoch um freiwillige Wahlleistungen von gesetzlich wie privat Versicherten, wie Einzelzimmer oder Chefarztbehandlung, die viele Patienten lediglich über eine private Zusatzversicherung finanzieren.

Steuerlasten ungleich verteilt.

Bei der auch von ihr geforderten Steuerfinanzierung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben verweist die PKV auf eine überproportionale Beteiligung der Privatversicherten. Aber auch das ist nicht ganz so einfach. Natürlich trifft es zunächst zu, dass die Privatversicherten bei der Steuerfinanzierung überhaupt beteiligt sind – das ist bei der solidarischen Beitragsfinanzierung nicht der Fall. Unbestritten ist auch, dass Privatversicherte im Durchschnitt über ein vergleichsweise hohes Einkommen verfügen, das 2016 nach Berechnungen des WIdO im Vergleich zu den GKV-Versicherten sogar mehr als das Doppelte betrug. Doch tragen die am Leistungsfähigkeitsprinzip ausgerichteten direkten (Einkommens- und Unternehmens-)Steuern insgesamt nur etwa zur Hälfte zum gesamten Steueraufkommen bei. Rund die andere Hälfte machen dagegen indirekte (Verbrauchs-)Steuern wie die Mehrwertsteuer aus, die vor allem Geringverdiener vergleichsweise stark belasten. Das zeigen Analysen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zur Verteilung der Steuer- und Beitragslast nach dem Haushaltsbruttoeinkommen der Bevölkerung (siehe Lese- und Webtipps). Laut DIW ist die Steuerbelastung insgesamt – also durch direkte und indirekte Steuern zusammen – „nur schwach progressiv“.

  • BDA-Kommission: Zukunft der Sozialversicherungen: Beitragsbelastung dauerhaft begrenzen. Bericht der Kommission vom 29.7.2020. Download
  • Stefan Bach et al.: Wer trägt die Steuerlast? DIW-Wochenbericht 51+52.2016. Download
  • Volker Meinhardt: Versicherungsfremde Leistungen der Sozialversicherung. Hans-Böckler-Stiftung, Study Nr. 60, April 2018. Download
  • WIG2: Versicherungsfremde Leistungen der gesetzlichen Krankenver­sicherung in Deutschland: Verteilungswirkungen und Verteilungsgerechtigkeit. Mai 2020. Download
  • Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages: Versicherungsfremde Leistungen in der Gesetzlichen Krankenversicherung sowie in der Sozialen Pflegeversicherung. WD 9 – 3000 – 051/16. Download

Dass ein Mehr an Steuerfinanzierung automatisch zu einer Stärkung der Leistungsfähigkeit führt, entpuppt sich bei näherem Hinsehen somit als Illusion. Es kommt maßgeblich darauf an, wie die Gegenfinanzierung ausfällt. Insofern basiert auch das vom WIG2-Institut simulierte Alternativszenario, bei dem die versicherungsfremden Leistungen der GKV ausschließlich über höhere direkte Steuern finanziert werden, auf einer hehren Annahme. Jedenfalls entspricht sie in keiner Weise der aktuellen Verteilung der Steuerlast, aber auch nicht früheren Erfahrungen: Bei der Einführung des Bundeszuschusses 2004 wurde zur Gegenfinanzierung die Tabaksteuer erhöht, die speziell Geringverdiener weit überproportional belastet.

Solidarische Finanzierung genießt hohe Akzeptanz.

Vom Grundsatz her ist die solidarische Beitragsfinanzierung mit eingebautem Einkommensausgleich also gar nicht so schlecht und genießt überdies hohe Akzeptanz in der Bevölkerung. Natürlich könnte das Leistungsfähigkeitsprinzip im Beitragssystem noch gestärkt werden. Das gilt gewiss für die – wie gezeigt – längst nicht mehr gerechtfertigte einseitige Beitragsbemessung an Arbeitsentgelt und Rente, aber womöglich auch für die Höhe der Beitragsbemessungsgrenze, am besten in enger Abstimmung mit einer umfassenden Reform der Einkommenssteuer. Mehr Verteilungsgerechtigkeit ließe sich aber vor allem durch die Erweiterung des Personenkreises erzielen, der an der solidarischen Finanzierung beteiligt ist. Wenn aktuell bei der Finanzierung von Corona-Lasten Kritik an der mangelnden Beteiligung der PKV geäußert wird, geht es nicht um die Institution PKV, sondern um die Beteiligung der Privatversicherten. Wie die Bewältigung von Corona einmal mehr gezeigt hat, ist die PKV – wie auch die Beihilfe – eine (partielle) Refinanzierungskasse von Privatpatienten, aber kein Versorgungsgestalter.

Ein konkreter Vorschlag zum Ausbau der solidarischen Finanzierung der Krankenversicherung ist gerade von kompetenter Seite gemacht worden. Im August 2020 hat die aus Wissenschaftlern und hochrangigen Arbeitgebervertretern besetzte Kommission „Zukunft der Sozialversicherungen“ der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) ihren Abschlussbericht vorgelegt (siehe Lese- und Webtipps sowie Kasten „Arbeitgeberverbände: Wie sich der Beitrag begrenzen lässt“). Danach könnten alle gesetzlich wie privaten Versicherten an der solidarischen Finanzierung eines von der Kommis­sion als „Versorgungsmanagement-Tarif “ bezeichneten Versicherungspakts beteiligt werden. Dies ermögliche einen fairen Systemwettbewerb zwischen GKV und PKV. Die Vorteile der GKV könnten erhalten bleiben, aber alle Versicherten wären an der solidarischen Finanzierung des Krankenversicherungsschutzes beteiligt und würden im Bedarfsfall auch hiervon profitieren. Wenn es um Corona wieder etwas ruhiger geworden ist, sollte die Politik diesen Vorschlag auf jeden Fall ernsthaft prüfen, spätestens nach der Bundestagswahl im September 2021, wenn Verhandlungen über die Bildung einer neuen Bundesregierung und deren Arbeitsprogramm geführt werden.

Wertschätzung der Krankenkassen statt Missbrauch.

Der Koalitionsvertrag der nächsten Bundesregierung sollte zudem ein klares Bekenntnis zum Stellenwert der selbstverwalteten und solidarisch beitragsfinanzierten GKV enthalten. Eine solche Wertschätzung ist mittlerweile keine Selbstverständlichkeit mehr. Hieraus folgt auch, dass die GKV nicht weiter als Reserve­kasse staatlicher Gesundheitspolitik missbraucht wird. Aufgaben, die erkennbar gesamtgesellschaftlicher Art sind, sollten die zuständigen Gebietskörperschaften finanzieren. Geschieht dies nicht, sind diese Leistungen transparent als Auftragsleistungen der GKV einzustufen und entsprechend ihrem jeweiligen Umfang zu erstatten. Zentrale Finanzierungsquelle der GKV sind und bleiben jedoch die Beiträge ihrer Mitglieder, bei deren Bemessung das Leistungsfähigkeitsprinzip gestärkt werden sollte. Die Beteiligung aller gesetzlich wie privat Krankenversicherten an der solidarischen Beitragsfinanzierung würde nicht nur zur Ent­lastung des GKV-Beitrags führen. Sie wäre auch grundsätzlich ein starkes Signal zur Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Dass es diese Idee jetzt in den Bericht der BDA-Kommission geschafft hat, könnte ihr kräftigen Rückenwind geben. Mit ideologischem Gezänk in dieser Frage sollte es spätestens nach Corona vorbei sein.

Klaus Jacobs ist Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO).
Oliver Weiss ist Illustrator und Designer.
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