Nicht nur in Coronazeiten sind virtuelle Patienten – interaktive, realitätsnahe Fallbeispiele, die sich online bearbeiten lassen – hilfreiche Lernobjekte für Studierende.
Digitalisierung

Virtuelle Patienten im Medizinstudium

Während der Corona-Pandemie mussten Universitäten ihren Lehrbetrieb auf digitale Formate umstellen. Mithilfe virtueller Patienten konnten viele Medizinstudierende dennoch praktische Erfahrungen sammeln. Von Dr. Silke Heller-Jung

Alan Britten fühlt sich nicht gut.

Mit blutigem Husten stellt sich der 62 Jahre alte Lehrer, ein ehemaliger Raucher, in der Klinik vor. Dort wird er ausführlich zu seiner gesundheitlichen Vorgeschichte befragt. Nach einer körperlichen Untersuchung wird seine Lunge geröngt. Außerdem werden verschiedene Laborwerte ermittelt. Die Krankengeschichte von Alan Britten ist detailliert und realistisch. Aber sie ist nicht echt – Alan Britten ist ein virtueller Patient.
 
Fälle wie der seine sind Bestandteil einer interaktiven Lernsoftware, anhand derer Medizinstudierende selbstständig die klinische Entscheidungsfindung üben können. Bei vielen Ärztinnen und Ärzten läuft dieser Prozess aufgrund ihrer beruflichen Erfahrung quasi intuitiv ab. Medizinstudierende müssen die einzelnen Denk-, Handlungs- und Entscheidungsschritte zunächst viele Male systematisch und bewusst durchlaufen und nachvollziehen, bevor sie selbst über eine derartige wissensbasierte Routine verfügen. Eine Möglichkeit dazu bietet das eigenständige Lernen mit virtuellen Patienten wie Alan Britten.

Mit virtuellen Patienten können Studierende schwierige Fälle ohne Angst vor Fehlern durchspielen.

Die Anfänge der virtuellen Lernhelfer reichen zurück bis in die 1970er-Jahren. Die lehrreichen Beispielfälle konnte man zunächst am Computer, mit dem Aufkommen des Internets dann auch online bearbeiten. Mit dem technischen Fortschritt haben sich auch die virtuellen Patienten weiterentwickelt. Die Bandbreite reicht heute von einfachen, statischen Fallbeispielen bis hin zu Angeboten, bei denen die Lernenden in virtuellen Welten mit Avataren kommunizieren, die auf den jeweiligen Input des Nutzenden individuell reagieren.

Entscheiden wie ein Arzt.

Der Nutzen der virtuellen Lernhelfer liegt auf der Hand. Aufgrund der kürzeren Verweildauern im modernen Krankenhausbetrieb stehen für den Unterricht am Krankenbett weniger Patienten zur Verfügung. Studierende haben kaum noch die Chance, bei einem Kranken sämtliche Diagnose- und Behandlungsschritte von der Aufnahme bis zur Entlassung mitzuerleben. Auch in die Behandlung schwerer oder Notfälle sind sie nur begrenzt involviert. Virtuelle Patienten wie Alan Britten sind darum eine gute Möglichkeit, klinisches Handlungswissen zu erwerben.
 
Mit dem Einloggen schlüpfen die Studierenden in die Rolle des behandelnden Arztes. Die Notizen aus dem Anamnesegespräch, die Röntgenbilder, Laborergebnisse und ein Foto von Herrn Britten im Krankenbett stehen ihnen als Ausgangsmaterial zur Verfügung. Die Aufgabe der Studierenden besteht nun darin, eine erste Verdachtsdiagnose zu stellen. Auf dieser Grundlage können sie weitere Untersuchungen veranlassen, um andere Krankheiten mit ähnlicher Symptomatik auszuschließen. Dabei können sie sich die Zeit nehmen, die sie brauchen, und beispielsweise auch etwas nachschlagen. Liegt schließlich eine gesicherte Diagnose vor, gilt es, die weitere Behandlung festzulegen. Im Falle von Alan Britten lautet das Ergebnis: Er leidet an einem inoperablen Lungenkrebs, der bereits etliche Metastasen im ganzen Körper gebildet hat. Für diesen virtuellen Patienten kommt nur noch eine palliative Chemotherapie infrage.

Internationale Kooperation.

Privatdozentin Inga Hege kennt Alan Britten gut – sie hat ihn mit entwickelt. Die Medizindidaktikerin und Informatikerin hat sich bereits in ihrer Promotion mit virtuellen Patienten befasst. Schon damals fand sie es faszinierend, „dass man mit relativ einfachen Mitteln sehr viel simulieren und den Studierenden damit eine Möglichkeit bieten kann, zu üben, bevor sie in die Praxis gehen.“

Innovative digitale Anwendungen eröffnen neue Möglichkeiten im Medizinstudium: Mithilfe der Virtual-Reality-Technologie (kurz: VR) können angehende Ärzte an computergenerierten Patienten neue Behandlungstechniken üben oder heikle Operationen durchspielen. Forscher der Technischen Universität Chemnitz etwa entwickeln derzeit im Projekt „Dynamic HIPS“ Trainingssimulatoren für das Einsetzen von Hüftimplantaten. VR ermöglicht es Studierenden auch, Organe und Gewebe sowie Prozesse im Inneren des Körpers in dreidimensionalen Visualisierungen zu erkunden und per VR-Brille beispielsweise einen virtuellen Spaziergang durch verschiedene Gelenke zu unternehmen.

Mit dem Verbundprojekt „medical tr.AI.ning – Intelligente Virtuelle Agenten für die Medizinische Ausbildung“ ist die Westfälische Wilhelms-Universität Münster (WWU) in diesem Sommer in eine neue Dimension der Lehre eingestiegen: in die Welt von Virtual Reality plus Künstlicher Intelligenz (KI). Das im Rahmen der Bund-Länder-Initiative „Künstliche Intelligenz in der Hochschulbildung“ geförderte Projekt hat den Aufbau einer KI-basierten Simulations- und Trainingsplattform zum Ziel, auf der angehende Mediziner künftig mit und von intelligenten, interaktiven „VR-Agenten“ lernen sollen.

Derzeit leitet Hege an der Medizinischen Fakultät der Universität Augsburg das Projekt iCoViP (International Col­lection of Virtual Patients – Digitized Education in Europe beyond the pandemic), in dem Partner aus Deutschland, Frankreich, Polen, Portugal und Spanien gemeinsam eine Sammlung von insgesamt 200 virtuellen Patienten erarbeiten, die sich flexibel in die verschiedenen Lehrpläne weltweit integrieren lässt. Das Projekt, das mit EU-Mitteln aus der „Erasmus+ Strategic Partnership 2020“ gefördert wird, ist im April dieses Jahres gestartet und endet im März 2023.

Synergien nutzen.

Die Fallbeispiele, die in Summe ein realistisches Patientenkollektiv aus Europa abbilden sollen, wurden zunächst akribisch geplant. Sie umfassen Männer und Frauen, Kinder, Erwachsene und Senioren und decken sowohl häufige als auch seltene Symptome und Erkrankungen ab.
 
Anhand dieser „Blaupause“ arbeitet nun jede der beteiligten Hochschulen ein Paket dieser Fallbeispiele detailliert aus und ergänzt sie mit zusätzlichen Dokumenten, wie zum Beispiel anonymisiertem Bildmaterial aus kooperierenden Praxen und Kliniken. Zum Schluss werden die Fälle mehrfach überprüft und dann übersetzt. Alle Fallbeschreibungen wird es auf Deutsch, Englisch, Spanisch, Portugiesisch, Französisch und Polnisch geben. Diese Vorgehensweise ermöglicht Synergieeffekte bei der Erstellung. Mithilfe der multilingualen Lernangebote können die Studierenden ihr fremdsprachliches Fachvokabular erweitern und sich zum Beispiel auf ein Auslandssemester im Rahmen der Erasmus-Austauschprogramme vorbereiten.

Nachfrage hat sich verzehnfacht.

Schon vor der Pandemie nutzten etliche Universitäten virtuelle Patienten. Durch die pandemiebedingten Einschränkungen hat sich die Nachfrage aus dem In- und Ausland verzehnfacht, berichtet Inga Hege. Sie schätzt, dass mittlerweile allein in Deutschland zwischen einem Drittel und der Hälfte aller medizinischen Fakultäten virtuelle Patienten einsetzt. Rückmeldungen von Lehrenden und Studierenden lassen erwarten, dass viele dieses Angebot auch nach einer Rückkehr zum Präsenzunterricht weiter nutzen werden.

Das findet auch Inga Hege sinnvoll. „Die Arbeit mit virtuellen Patienten ist gut geeignet, um schwierige Situationen oder Fälle erst einmal in einem geschützten Rahmen, ohne Angst vor Fehlern, durchzuspielen.“ Aus ihrer Sicht sind die virtuellen Patienten kein Ersatz, sondern eine Ergänzung zum Training mit Simulationspatienten und zum Umgang mit echten Patientinnen und Patienten. Trotzdem sei diese besondere Lernform bislang kaum in die Curricula der Medizinstudiengänge integriert. Viel zu häufig würden die virtuellen Patienten lediglich „als Zusatzangebot verstanden, das die Studierenden nutzen können, wenn sie Lust und Zeit dazu haben“, bedauert Inga Hege.

Durch die Corona-Pandemie sind die virtuellen Patienten nun stärker in den Mittelpunkt der Wahrnehmung gerückt. Die Medizindidaktikerin hofft daher, dass die iCoViP-Projektpartner ihr gemeinsames Ziel erreichen können: „Wir wollen die Einsatzmöglichkeiten von virtuellen Patienten bekannter machen. Wir wollen ein Bewusstsein dafür schaffen, dass sie nicht nur eine Krücke sind, sondern für Studierende eine gute Möglichkeit darstellen, eigenständig zu lernen und sich auf verschiedene Szenarien vorzubereiten.“

Silke Heller-Jung ist freie Journalistin mit dem Schwerpunkt Gesundheit und Pflege.
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