Ritual mit gesundheitlichen Folgen
Die weibliche Genitalverstümmelung schadet Körper und Psyche von Mädchen und Frauen. Mit der Migration von Menschen aus Ländern wie Somalia rückt die Tradition der Beschneidung in Europa verstärkt in den Fokus, wie Bärbel Triller deutlich macht.
Starke Schmerzen,
heftige Blutungen, chronische Infektionen, Depressionen, Komplikationen bei der Geburt, Schmerzen beim Geschlechtsverkehr: Die Liste der psychischen und somatischen Beschwerden, unter denen Frauen und Mädchen nach einer Genitalbeschneidung leiden, ist lang. Djamila kennt viele solcher Erzählungen von Frauen. Djamila, die ihren richtigen Namen nicht nennen möchte, ist aus dem von Bürgerkrieg und Armut geprägten ostafrikanischen Land geflüchtet und lebt seit 1996 in Deutschland. Sie engagiert sich als Sprachmittlerin und arbeitet als Honorarkraft bei kargah e.V. im Flüchtlingsbüro in Hannover. Einmal pro Woche bietet kargah eine Somali-Sprechstunde an. Zusätzlich finden auch während der Corona-Pandemie wenn möglich kleinere Treffen und, wenn es Lockerungen erlauben, größere monatliche Treffen statt, an denen zwischen 15 und 18 Frauen aus Somalia teilnehmen. In der altersgemischten Gruppe sind die meisten Frauen von Female Genital Mutilation/Cutting (FGM/C) betroffen.
Weltweit Millionen Frauen betroffen.
Die weibliche Genitalverstümmelung, FGM/C, ist seit 1992 von den Vereinten Nationen (UN) als Menschenrechtsverletzung anerkannt. Weltweit sollen mindestens 200 Millionen Mädchen und Frauen FGM/C erlitten haben. In zahlreichen UN-Mitgliedsstaaten ist die grausame Praktik auf dem Papier längst verboten. Auch in Ländern, in denen FGM/C weiterhin traditionell stattfindet: auf dem afrikanischen Kontinent sowie in Regionen Südamerikas, Asiens und des Nahen Ostens. Die Beschneidung wird vorwiegend an Mädchen zwischen dem Säuglingsalter und dem 15. Lebensjahr durchgeführt.
Häufig sind es ältere Frauen, die das Ritual ohne Betäubung praktizieren. Mit Rasierklingen, Messern und Glasscherben entfernen sie die Klitoris sowie innere und äußere Schamlippen teilweise oder vollständig. Die Verstümmelung kann durch Verengung und Zunähen der Vaginalöffnung mithilfe von etwa Zahnstochern oder Akaziennadeln verstärkt werden. Die Beschneiderinnen verfügen kaum über medizinisches Wissen, die Bedingungen sind unhygienisch. Viele Mädchen überleben die Prozedur nicht. Sie sterben an Infektionen und infolge des hohen Blutverlustes. Die Kosten für die Behandlung der Komplikationen von FGM/C sollen laut World Health Organization (WHO) im Jahr 2018 rund 1,4 Milliarden US-Dollar betragen haben. Die WHO-Studie bezieht sich auf 27 Länder, in denen Daten verfügbar waren.
In zahlreichen UN-Mitgliedstaaten ist die weibliche Genitalbeschneidung auf dem Papier längst verboten.
Die Gründe für FGM/C variieren je nach Region und Gemeinschaft. So soll die Praktik die Jungfräulichkeit bis zur Ehe und die Treue als Ehefrau sicherstellen. Ist es üblich, dass ein Brautpreis gezahlt wird, lohnt sich die Beschneidung finanziell für die Familien, da sie mehr Geld für die Braut erhalten. Mitunter gleicht FGM/C einem Initiationsritus, der den Übergang vom Mädchen zur Frau markiert. Verbreitet ist die Vorstellung, dass weibliche Genitalien unrein sind und deshalb beschnitten werden müssten. Die weibliche Genitalbeschneidung ist keine religiöse Pflicht, wie häufig behauptet wird. Sie wird von Christen und Muslimen gleichermaßen praktiziert.
Regierung gibt Schutzbrief heraus.
Im Zuge des globalen Migrationsgeschehens rückt FGM/C in Europa verstärkt in den Fokus. In Deutschland sollen rund 75.000 Frauen mit einer Genitalverstümmelung leben und etwa 20.000 Mädchen gefährdet sein. Zu diesem Ergebnis kommt der Verein „TERRE DES FEMMES – Menschenrechte für die Frau“ (TDF) in seiner Dunkelzifferstatistik 2020. Obwohl FGM/C in Deutschland strafbar ist und daraufhin auch der Aufenthaltsstatus aberkannt werden kann, stellen traditionell lebende Familien das Ritual nicht infrage. Um Mädchen vor der sogenannten Ferienbeschneidung zu schützen, hat die Bundesregierung 2021 den „Schutzbrief gegen weibliche Genitalverstümmelung“ vorgestellt. Mit dem Dokument, das in mehreren Sprachen erhältlich ist, können betroffene Mädchen und Familien ihren Verwandten im Herkunftsland beweisen, dass FGM/C in Deutschland strafbar ist, auch wenn sie im Ausland stattfindet.
Ein brisantes Thema.
Gesicherte Erkenntnisse, dass Beschneidungen auch in Deutschland stattfinden, liegen nicht vor (Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, Stand: Dezember 2020). „Gesetze allein ändern das Verhalten nicht. Weibliche Genitalverstümmelung ist immer noch ein sehr brisantes und generell schwieriges Thema“, weiß Sonja Störmer, TDF-Referentin für FGM/C. Weibliche Beschneidung sei ein schambehaftetes Thema, über das nicht gesprochen werde. Die Verknüpfung mit Körperlichkeit und Sexualität mache es nahezu unsichtbar. „Erschwerend kommt hinzu, dass die Betroffenen, wenn sie sich zur Wehr setzen wollen, ihre eigenen Eltern und ihre Familie anzeigen müssten“, betont Störmer. Dieser Schritt falle vielen Frauen und Mädchen schwer.
Bildung verändert die Haltung.
In Somalia ist die gesetzliche Lage aufgrund der instabilen politischen Situation sehr unterschiedlich, weiß Djamila. Sie schätzt, dass etwa 98 Prozent der Frauen und Mädchen der Praktik ausgeliefert sind. In vielen Familien gilt FGM/C immer noch nicht als Straftat. Die gewalttätige Fremdbestimmung, die auf Frauen ausgeübt wird, erscheint nicht verwerflich. „Die Eltern wollen für ihre Töchter nur Gutes, sie wollen ihnen nicht schaden“, sagt Djamila. Dies ist die Folge der Logik von patriarchalischen Strukturen. „Die Eltern wünschen sich für ihre Töchter einen anerkannten Platz in der Gesellschaft, und in einer Ehe sind die Mädchen gut abgesichert“, betont Djamila. Sind die Mädchen nicht beschnitten, würden auch ihre Chancen auf dem Heiratsmarkt sinken. Einen Einstellungswandel beobachtet Djamila bei jungen Frauen. Bessere Bildung und Zugang zu Informationen über soziale Netzwerke veränderten deren Haltung, auch wenn die Familien Druck auf die Mädchen ausübten. Im Land gebe es Frauengruppen, die Aufklärungsarbeit unter schwierigsten Bedingungen leisten. Djamila hat vor einigen Jahren in Somalia eine dieser Gruppen ins Leben gerufen und weiß, welcher Gefahr die Frauen ausgesetzt sind, wenn sie sich gegen FGM/C aussprechen.
Beratung für geflüchtete Frauen.
Die Gynäkologin Dr. Maryam En-Nosse hat 2018 am Universitätsklinikum Freiburg eine Sprechstunde eingerichtet, um Geflüchtete gezielt zu versorgen. Aus Erfahrung weiß En-Nosse, wie behutsam die Gespräche geführt werden müssen, um Zugang zu den Frauen und deren Nöten und Problemen zu bekommen. „Wir begegnen den Frauen mit Vorsicht und Respekt, Vorwürfe sind kontraproduktiv“, sagt En-Nosse. Das Zentrum an der Uniklinik bietet umfassende Informationen, Beratungen und Hilfen. Zu den Schwerpunkten gehören medizinische Behandlung, klinische Untersuchungen, ob FGM/C vorliegt, Ausstellen von Gutachten unter anderem für das Asylverfahren und operative Therapien wie die Eröffnungsoperation und Rekonstruktion der Klitoris.
- TERRE DES FEMMES: Weibliche Genitalverstümmelung
- Uniklinik Freiburg: Zentrum für Frauen mit Genitalbeschneidung
Darüber hinaus engagiert sich En-Nosse in der Fortbildung von Ärzten, Klinikpersonal und Hebammen und fördert die Vernetzung dieser Berufsgruppen. „Der Wissensstand über FGM/C ist in Deutschland sehr gering, und es besteht eine große Unsicherheit im Umgang mit den Frauen“, sagt En-Nosse. Die Schulungsnachfrage sei hoch, auch die Studierenden zeigten großes Interesse am Lehrangebot in Freiburg. Bisher habe das Thema deutschlandweit aber noch keinen festen Platz in den Lehrplänen gefunden, bedauert die Gynäkologin.
Ebenso engagiert sich TERRE DES FEMMES in zahlreichen Projekten gegen weibliche Genitalverstümmelung, bildet Fachkräfte aus sozialen Berufen fort und leistet Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit in den FGM/C praktizierenden Communities in Deutschland. „FGM/C ist eine soziale Norm, die von innen heraus geändert werden kann“, sagt TDF-Referentin Störmer. Sie warnt davor, dass die Fortschritte im Kampf gegen die weibliche Genitalverstümmelung ins Stocken geraten. Bedingt durch die Corona-Schutzmaßnahmen sind die Familien isoliert und soziale Kontrollen von externen Institutionen wie Schulen, Beratungsstellen und Arztbesuche finden nicht oder seltener statt.