Die Bezahlung in der Pflege zu verbessern, ist ein Ziel der Politik.
Tarife

Erstmals Transparenz beim Pflegelohn

In deutschen Pflegeheimen klafft bei der Bezahlung der Beschäftigen eine gewaltige Lücke zwischen politischem Anspruch und Wirklichkeit. Mehr als zwei Drittel aller Pflegeeinrichtungen bezahlen keinen Lohn nach Tarif. Von Thorsten Severin

Noch die schwarz-rote

Bundesregierung hatte beschlossen, dass ab September dieses Jahres sämtliche Pflegeeinrichtungen ihren Beschäftigten Löhne auf Basis mindestens eines in dem jeweiligen Bundesland angewandten Tarifvertrags zahlen müssen. Alternativ können sie sich an der durchschnittlichen Entlohnung für die Beschäftigtengruppe in ihrem Bundesland orientieren. Alle Einrichtungen sind verpflichtet, den Pflegekassen bis Ende Februar ihr Vorgehen mitzuteilen. Notfalls werden auch Meldungen, die bis zum 31. März eingehen, noch berücksichtigt.

Die Landesverbände der Pflegekassen haben nun erstmals eine Übersicht zur tariflichen Bezahlung in der Langzeitpflege veröffentlicht. Dabei zeigt sich, dass deutlich weniger als ein Drittel (27 Prozent) aller Pflegeeinrichtungen der Tarifbindung unterliegt. „Hier gibt es also noch viel Luft nach oben“, kommentiert die Chefin des AOK-Bundesverbandes, Carola Reimann, die Zahlen. Die Erhebung sei ein wichtiger erster Schritt auf dem Weg zu einer angemessenen Bezahlung des Personals in allen Regionen Deutschlands.

Ost-West-Gefälle.

Der durchschnittliche Stundenlohn über alle Beschäftigtengruppen – das sogenannte regional ortsübliche Entgeltniveau – liegt bundesweit bei 18,95 Euro. Allerdings gibt es deutliche Unterschiede: Während im Westen pro Stunde 20,19 Euro gezahlt werden, kommt der Lohn im Osten der Republik auf 17,98 Euro. 70 Prozent der Einrichtungen, die aktuell bereits tariflich zahlen, unterliegen kirchlichen Arbeitsrechtsreglungen. Die restlichen 30 Prozent sind an Haus- oder Flächentarifverträge gebunden.

Grafik: Regional übliches Entgeltniveau für Pflegekräfte, dargestellt in einer Tabelle nach Bundesländern

Bei der Bezahlung der Pflegekräfte durch die jeweiligen Einrichtungen gibt es regional erhebliche Unterschiede. Vor allem zeigt sich ein Ost-West-Gefälle. Die aufgelisteten Stundenlöhne basieren auf den Meldungen der Pflegeeinrichtungen, die bereits nach Tarif oder nach einer kirchlichen Arbeitsrechtsregelung vergüten. Die Werte geben keine Auskunft über die Höhe der Entlohnung in den nicht-tarifgebundenen Einrichtungen. 

Quelle: AOK-Bundesverband

Durch die gesetzliche Lohnregel können viele Bedienstete damit rechnen, dass sich ihre finanzielle Situation ab September spürbar verbessert. „Erklärtes Ziel dieser Vorgaben ist eine bessere Bezahlung der Beschäftigten in der Langzeitpflege, die den Beruf attraktiver machen und dadurch mittel- und langfristig eine qualitativ hochwertige Pflege sichern soll“, erläutert Reimann. Allerdings werde es erst Anfang September einen Überblick zu den finanziellen Auswirkungen der Regelungen geben. „Interessant ist ja vor allem die Frage, wie hoch heute die durchschnittliche Entlohnung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den nicht-tarifgebundenen Einrichtungen ist.“

Gewinnorientierte Pflegeketten.

„Wir haben es in der Langzeitpflege, also bei den Pflegeheimen und noch mehr bei den ambulanten Pflegediensten, mit einer weitgehend tariffreien Zone zu tun“, stellt der Koblenzer Professor für Volkswirtschaftslehre und Sozialwissenschaften, Stefan Sell, fest. Es sei sicher davon auszugehen, dass in den tariflosen Betrieben oft deutlich unter den genannten regionalen Entgeltniveaus gezahlt werde. Viele der Einrichtungen entlohnten ihre Mitarbeiter nach einem der drei Branchen-Mindestlöhne. Der Grund für die weit verbreitete „Tariflosigkeit“: Der Anteil der privaten, gewinnorientierten Träger in der Altenpflege steigt laut Sell kontinuierlich. Bei den Pflegeheimen seien es mittlerweile fast die Hälfte, bei den ambulanten Pflegediensten zwei Drittel. „Oftmals handelt es sich um einen Einzelunternehmer mit einer großen Distanz zu Tarifverträgen oder um gewinnorientierte Pflegeketten, die alles versuchen, um eine Tarifbindung zu vermeiden.“ Zugleich fehlten auf Seiten der Pflegekräfte die Grundvoraussetzungen für eine Tarifbindung, „denn der gewerkschaftliche Organisationsgrad des Personals in der Altenpflege liegt im molekularen Bereich“, so der Experte.

Höhere Lohnuntergrenzen beschlossen.

Dass es ein Bemühen von politischer Seite gibt, den Pflegepersonen mehr finanzielle Anerkennung für ihre Arbeit zukommen zu lassen, zeigt die Entwicklung bei den Pflege-Mindestlöhnen. Die zuständige Kommission hat sich unlängst einstimmig darauf verständigt, dass diese Lohnuntergrenzen ab dem 1. September in drei Schritten erhöht werden sollen. In der letzten Stufe (1. Dezember 2023) wird der Stundenlohn 14,15 Euro für Pflegehilfskräfte, 15,25 Euro für qualifizierte Pflegehilfskräfte und 18,25 Euro für Pflegefachkräfte betragen. Zunächst aber steigen durch einen seit längerem feststehenden Beschluss zum 1. April die Mindestlöhne auf 12,55 Euro, 13,20 Euro und 15,40 Euro und liegen damit noch deutlich unter den für die Zukunft angestrebten Werten.

Mindestlohn als Auffanglinie.

Ab September, wenn Tariflöhne bezahlt werden müssen, haben die Pflege-Mindestlöhne in der Langzeitpflege vor allem symbolischen Wert. Denn sicher sei, dass die Mindestlöhne dann unter dem regional üblichen und verpflichtenden Entgeltniveau lägen, erläutert Sell. Sie seien aber eine „untere Auffanglinie“ für den Fall, dass die geplante Verpflichtung ab September doch noch nicht komme. Denn die privaten Träger haben bereits eine Klage gegen die aus ihrer Sicht unzulässige faktische Tarifbindung eingereicht. „Hier wird man abwarten müssen, ob diese Klage möglicherweise eine aufschiebende oder gar die Regelung konterkarierende Wirkung haben wird“, beschreibt Sell. Kommt hinzu, dass jeder Betrieb das regional übliche Entgelt nur im Durchschnitt der jeweiligen Beschäftigtengruppe erreichen muss. Unter keinen Umständen darf aber der Pflege-Mindestlohn unterschritten werden.

Nach Ansicht von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil dienen die Entscheidung zur Erhöhung der Mindestlöhne und die ab September vorgeschriebene Bezahlung in Tarifhöhe dazu, die Arbeitsbedingungen in der Pflege spürbar zu verbessern. Diesen Weg werde die Ampel-Koalition weitergehen. Gesundheitsminister Karl Lauterbach nannte die Anhebung des Mindestlohns einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer fairen Entlohnung. „Nur wenn in der Pflege Tarif und mehr die Regel ist, wird der Beruf attraktiv bleiben.“

Der Arbeitgeberverband Pflege trägt die Entscheidung der Pflegekommission „aus Wertschätzung für die Pflegekräfte“ mit. Die Anhebung des Mindestlohns sei jedoch nicht durch die Pflegeversicherung gedeckt, warnt Präsident Thomas Greiner. Wenn ab September dann noch eine faktische Tarifpflicht gelte, würden die Kosten nochmal steigen. Unternehmen könnten weniger investieren und am Ende seien es die Pflegebedürftigen und ihre Familien, die über höhere Eigenanteile für die Mehrausgaben aufkommen müssten.

Sorge vor höheren Eigenanteilen.

„Einer muss die Rechnung zahlen“, betont auch Arbeitsmarktexperte Sell. „Und die wird bei einem deutlichen Lohnanstieg in der Langzeitpflege, der in allen Sonntagsreden gefordert wird, erheblich sein.“ Bei einer Pflegeversicherung, die als Teilleistungsversicherung mit nach oben gedeckelten festen Pauschalen arbeite, müssten Kostensteigerungen von den Pflegebedürftigen oder als letztes Auffangnetz aus der Sozialhilfe („Hilfe zur Pflege“) bezahlt werden.

AOK-Chefin Reimann ist sich der finanziellen Risiken bewusst und mahnt: „Bessere Löhne für die Beschäftigten der Langzeitpflege dürfen nicht dazu führen, dass die Eigenanteile der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen weiter steigen.“ Allerdings müsse die Politik auch die Höhe der Beitragssätze im Auge behalten. Notwendig sei daher die schnellstmögliche Umsetzung des von der Ampel angekündigten Bundeszuschusses für versicherungsfremde Leistungen. Dieser müsse „verlässlich finanziert und regelmäßig dynamisiert“ werden.

Thorsten Severin ist Redakteur der G+G.
Bildnachweis: iStock.com/Andrey Zhuravlev