Digitale Gesundheitsanwendungen

Viel Konfliktstoff bei Gesundheits-Apps

Ob Depressionen, Migräne, Rückenschmerzen oder Ohrgeräusche – bei vielen Leiden können Ärzte Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) verschreiben. Eineinhalb Jahre nach ihrer Einführung sind sie zu einem festen Bestandteil der medizinischen Versorgung geworden. Doch die Kritik an Detailregelungen bleibt. Vor allem die Krankenkassen sind unzufrieden. Von Thorsten Severin

Kalmeda, Vivira und Zanadio sind die absoluten Spitzenreiter. Rund 22.800 Mal wurden die drei Apps nach einer ärztlichen Verordnung genutzt. „Kalmeda“ bietet Patienten mit chronischem Tinnitus eine verhaltenstherapeutische Behandlung. Dazu gibt es Entspannungsanleitungen, beruhigende Natur- und Hintergrundgeräusche sowie einen Wissensteil, lässt das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in seinem Internetverzeichnis wissen. „Vivira“ setzt zur Behandlung von Rücken-, Knie- und Hüftschmerzen auf bewegungstherapeutische Anleitungen. Die App bietet vier Übungen täglich, die auf Basis der Rückmeldungen des Patienten fortlaufend ihre Intensität und Komplexität anpassen. „Zanadio“ wiederum soll Menschen mit Adipositas helfen, durch mehr Bewegung und eine Umstellung der Ernährungsgewohnheiten dauerhaft Gewicht zu reduzieren.

Seit Oktober 2020 haben die rund 73 Millionen Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) Anspruch auf eine Versorgung mit solchen Apps auf Rezept. Die Grundlage bildet das im Dezember 2019 in Kraft getretene Digitale-Versorgung-Gesetz. Inzwischen sind 31 DiGA gelistet. Diese Medizinprodukte helfen mit digitalen Technologien bei der Erkennung, Überwachung, Behandlung oder Linderung von Krankheiten und Verletzungen. Kurzum: Der medizinische Nutzen soll sich in einer verbesserten Gesundheit, einer verkürzten Krankheitsdauer, einem verlängerten Überleben oder einer verbesserten Lebensqualität zeigen.
 
Eine DiGA kann von einem Arzt oder Psychotherapeuten verordnet werden. Das Formular muss der Patient bei seiner Kasse einreichen. Möchte ein Versicherter ohne ein Rezept eine DiGA nutzen, kann er sie bei seiner Krankenkasse selbstständig beantragen. Die Kasse benötigt aber einen Nachweis über die Krankheit, auf die sich die Anwendung bezieht, etwa ein ärztliches Attest oder einen Entlassbrief vom Krankenhaus. Bei einigen DiGA ist die Verordnung durch einen Arzt allerdings zwingend vorgesehen.

Rezeptcode anonymisiert.

Bei beiden Möglichkeiten der Beantragung erhält der Patient von der Kasse einen Rezeptcode, der nur für ihn gilt. Der Code wird direkt in die DiGA eingegeben. Die Abrechnung der Kosten erfolgt zwischen Kasse und Hersteller. So wird sichergestellt, dass der Patient nicht in Vorleistung treten muss und jeder Versicherte die Möglichkeit zur Nutzung einer DiGA hat. Die Apps finden sich in den bekannten Appstores von Apple und Google oder auf Seiten der Hersteller.
 
Die DiGA wird vom Patienten entweder allein genutzt oder idealerweise zusammen mit seinem Arzt. Durch die anonymen Rezeptcodes zur Nutzung der DiGA sollen die Hersteller keinerlei Kenntnis über die Identität des Patienten erlangen. Allerdings nutzen DiGA auch medizinische Daten, die aus Messgeräten stammen oder vom Patienten eingegeben werden. Die Hersteller müssen daher bei der Antragstellung bestätigen, dass sie die Anforderungen an die europäischen Datenschutzregeln einhalten und nur unbedingt erforderliche Daten nutzen. Ab 2023 muss das Unternehmen einen durch eine Prüfstelle ausgestellten Nachweis vorlegen.

Verzeichnis im Internet veröffentlicht.

Einen Überblick über alle geprüften Anwendungen gibt das DiGA-Verzeichnis des BfArM. Aufgeführt werden dort neben dem Produktnamen und dem Hersteller unter anderem Zielsetzung, Wirkungsweise, Inhalt und Nutzung. Eventuelle Zusatzkosten, beispielsweise für Pulsmesser oder hinzubuchbare Funktionen, werden ebenfalls genannt. Für Fachkreise finden sich Angaben zu wissenschaftlichen Studien und medizinischen Daten.

Apps auf Rezept ersetzen nicht den Arztbesuch, sondern sind eine Ergänzung und können Wartezeiten überbrücken.

Nach Angaben des GKV-Spitzenverbandes wurden im Zeitraum vom 1. September 2020 bis zum 30. September 2021 rund 50.000 DiGA ärztlich verordnet beziehungsweise von den Krankenkassen genehmigt. Über den Freischaltcode aktiviert wurden im Endeffekt rund 39.000 Apps und damit knapp 80 Prozent. Die meisten DiGA sollen bei psychischen Erkrankungen helfen, wie etwa Depressionen. Danach folgen Apps aus der Kategorie „Muskeln, Knochen und Gelenke“ sowie aus der Gruppe „Hormone und Stoffwechsel“. Im genannten Zeitraum sind für die GKV Kosten in Höhe von 13 Millionen Euro angefallen. Bis Anfang Januar hatte das BfArM 119 Anträge erhalten. Von den bis dahin abgeschlossenen Verfahren wurden gut sieben Prozent der Anträge abgelehnt und etwa 62 Prozent vom Hersteller zurückgezogen.

Das BfArM zieht laut seinem Präsidenten Professor Karl Broich insgesamt ein positives Zwischenfazit nach eineinhalb Jahren. „Der Aufnahmeprozess ist gut angelaufen und das Interesse an den DiGA, dem Verzeichnis wie auch an unserem Informations- und Beratungsangebot ist enorm hoch.“ Viele DiGA könnten Versorgungslücken schließen, indem sie Patienten einen Zugang zur Versorgung böten, „den sie aufgrund von Mangelsituationen in bestimmten Bereichen nicht rechtzeitig wahrnehmen könnten oder vielleicht auch aus Scham gar nicht erst nutzen“. DiGA seien kein Ersatz für Ärzte und Psychotherapeuten, sondern „ein ergänzendes, unterstützendes Angebot“. Manchmal dienten sie auch dazu, lange Wartezeiten – etwa auf eine Psychotherapie – zu überbrücken.

Kassen sind aufgeschlossen.

Auch die gesetzlichen Krankenkassen sind grundsätzlich positiv gestimmt. „Wir sind davon überzeugt, dass in digitalen Gesundheitsanwendungen das Potenzial steckt, die Versorgung der Versicherten zu verbessern und die Versicherten zu befähigen, ihre Versorgung aktiv mitzugestalten“, sagt Stefanie Stoff-Ahnis, Vorstand beim GKV-Spitzenverband. DiGA könnten dazu beitragen, Sektorengrenzen zu überwinden und Brücken zwischen Patientinnen und Patienten und den Behandelnden sowie unterschiedlichen Fach- und Berufsgruppen zu schlagen.
 
AOK-Bundesverbandschefin Dr. Carola Reimann betont, einzelne Anwendungen hätten das Zeug, die Versorgung der Versicherten sinnvoll zu ergänzen und zu verbessern. „Wenn sie einen Mehrwert bieten, ist es auch gerechtfertigt, dass die Apps und Webanwendungen von der Solidargemeinschaft bezahlt werden.“ Allerdings fänden sich unter den derzeit gelisteten Anwendungen auch digitalisierte Selbsthilfe-Manuale oder Coaches, bei denen der Innovationscharakter begrenzt scheine, bemängeln Stoff-Ahnis und Reimann.

Preisbildung in der Kritik.

Die Kassen halten vor allem mit Kritik an der Preisbildung nicht hinter dem Berg. Das derzeitige System sei „sehr zum Vorteil der Herstellenden“ ausgestaltet, beklagt Stoff-Ahnis. Dabei bezieht sie sich insbesondere auf das Recht der Unternehmen, im ersten Jahr nach der Aufnahme der DiGA in das BfArM-Verzeichnis die Höhe des Preises frei wählen zu können. Denn der GKV-Spitzenverband vereinbart mit den Herstellern Vergütungsbeträge für dauerhaft aufgenommene DiGA, die aber erst ab dem 13. Monat gelten. „Es hat sich gezeigt, dass dies für eine Mehrzahl der Herstellenden Anreiz ist, Extrempreise im ersten Jahr aufzurufen“, kritisiert Stoff-Ahnis. Die Vergütungen bewegten sich zum Teil deutlich über den Preisen, die für die digitalen Anwendungen außerhalb des DiGA-Verzeichnisses aufgerufen worden seien. Sie lägen auch deutlich über der Bezahlung für konventionell erbrachte Leistungen in der GKV. Die Preisfreiheit im ersten Jahr sei daher keinesfalls gerechtfertigt.
 
Auch Broich sieht die teils gravierenden Preissteigerungen mit Skepsis, wie er betont. Die Akzeptanz der Anwendungen werde dadurch nicht gefördert. Laut AOK-Chefin Reimann zeigen sich im Vergleich zu den Preisen für Anwendungen vor Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis Preissprünge von bis zu 500 Prozent. „Das sind keine guten Grundlagen für eine vertrauenserweckende medizinische Versorgung und anstehende Preisverhandlungen.“ Auch Apps auf Rezept müssten dem Wirtschaftlichkeitsgebot entsprechen. Das aktuelle Preisniveau bedeute für die GKV ein „beachtliches Kostenrisiko“.

Umstrittene Regelung.

Anfang des Jahres wurden per Schiedsspruch Regelungen zu Höchstbeträgen und Schwellenwerten eingeführt. Aus Sicht der Kassen werden sie die Situation aber nicht verbessern. Vielmehr würden den Firmen weiter große Spielräume eröffnet. Konkret sieht das Ergebnis des Schiedsverfahrens Höchstbeträge für Gruppen vergleichbarer DiGA wie bei den bereits etablierten Arzneimittelfestbeträgen vor. „Doch die Höchstbeträge werden aus den Herstellerpreisen der gelisteten digitalen Gesundheitsanwendungen abgeleitet, sodass das Modell das Preisniveaus in den ersten zwölf Monaten nicht entscheidend absenken wird“, kritisiert Reimann. Das bewirkten die aktuell sehr hohen Preise. Mit dem komplizierten Modell könne man allenfalls inadäquaten Preisforderungen einzelner Hersteller begegnen.

Unternehmen weisen Kritik zurück.

Dr. Anne Sophie Geier, Geschäftsführerin des Spitzenverbands Digitale Gesundheitsversorgung, verweist hingegen darauf, dass die Preise für DiGA Gegenstand individueller Verhandlungen zwischen den Unternehmen und dem GKV-Spitzenverband sind. Diesen Prozess in einer öffentlichen Debatte zu betrachten und diskutieren zu wollen, könne nicht funktionieren, da er viel zu komplex sei. Hinter der Berücksichtigung des Ausmaßes des positiven Versorgungseffektes steckten viele Detailebenen: „In welchem Stadium der Erkrankung setzt die DiGA an und bei welcher Patientengruppe? Welche Endpunkte wurden zum Nachweis des positiven Versorgungseffektes gemessen? Wie war ihr Ausmaß?“ Auch die Kritik, dass eine DiGA oft deutlich mehr koste als die Vorgänger-App im Selbstzahlermarkt, greift laut Geier zu kurz. „Nur weil ein Anbieter bereits eine Gesundheitsapp vor einer DiGA-Listung vertrieben hat, ist diese nicht mit der gelisteten Anwendung vergleichbar – nicht in ihrer Ausgestaltung hinsichtlich der spezifischen Anforderungen und nicht in dem Umstand, dass für DiGA aus gutem Grund werbefreie und eine strenge, zweckgebundene Datennutzung vorgegeben ist.“

  • Von September 2020 bis Ende September 2021 wurden rund 50.000 Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) verordnet. Die Patientinnen und Patienten haben davon knapp 80 Prozent per Freischaltcode aktiviert. Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) kostete das 13 Millionen Euro.
  • Von den ersten 20 DiGA wurden lediglich fünf mit vorliegendem Nutzenbeleg dauerhaft in das Verzeichnis des BfArM aufgenommen. 15 DiGA hat das Institut hingegen zur Erprobung gelistet. Sie konnten mit der Aufnahme noch nicht die geforderten positiven Versorgungseffekte nachweisen.
  • Die DiGA beziehen sich in der Regel auf Indikationen mit sehr hohen Prävalenzen, wie Rückenschmerzen, Angst- und Schlafstörungen oder Adipositas. Als Schwerpunkt hat sich der Bereich der psychischen Erkrankungen herauskristallisiert (von den ersten 20 DiGA entfielen auf dieses Feld 50 Prozent). Einen weiteren Schwerpunkt stellen Erkrankungen des Nervensystems dar.
  • Mit fast 90 Prozent haben Ärzte und Psychotherapeuten die überwiegende Mehrheit der DiGA verordnet, zehn Prozent kamen nach Genehmigung durch die Krankenkasse zur Anwendung. Rund ein Drittel der „Apps auf Rezept“ haben Hausärztinnen und Hausärzte verschrieben. Danach folgen Verordnungen von Hals-Nasen-Ohren-Ärzten (20 Prozent) und Orthopäden (17 Prozent).
  • Das Spektrum der Herstellerpreise erstreckt sich von 119 Euro für eine Einmallizenz bis zu 743,75 Euro für eine Anwendungsdauer von 90 Tagen. Die Hersteller können die Anwendungsdauer selbst festlegen. Standard sind momentan 90 Tage.  
  • Mit 79 Prozent aller Freischaltcodes wurden die meisten DiGA von Frauen in Anspruch genommen. Das durchschnittliche Alter der Patientinnen und Patienten lag bei 46 Jahren.
  • In den Regionen der Kassenärztlichen Vereinigungen Berlin, Hamburg und Nordrhein wurden im ersten Jahr die meisten DiGA genutzt.

Quelle: DiGA-Bericht des GKV-Spitzenverbandes

Aktuell gibt es laut BfArM unter den gelisteten DiGA eine Preisspanne von 203,97 Euro bis 743,75 Euro für eine Verschreibungsdauer von 90 Tagen. Eine DiGA wird zudem als Einmallizenz für 119 Euro angeboten. Der durchschnittliche Preis aller gelisteten DiGA für eine Verschreibungsdauer von 90 Tagen lag Ende vergangenen Jahres bei 428 Euro. Aus Sicht der Kassen sollten direkt nach Markteintritt dreimonatige Preisverhandlungen beginnen. „Im Ergebnis gilt dann bereits ab Markteinführung und nicht erst ab dem 13. Monat ein Preis, der von beiden Seiten verhandelt worden ist“, erläutert Reimann.

Bundesinstitut überprüft nur Herstellerangaben.

Der Prüfprozess beim BfArM ist ebenfalls umstritten. Dabei handelt es sich um ein „Fast-Track-Verfahren“. Die Bewertungszeit beträgt höchstens drei Monate nach Eingang des vollständigen Antrags. Die Antragsteller müssen nachweisen, dass ihre DiGA als Medizinprodukt mit niedrigem Risiko CE-zertifiziert ist und alle notwendigen Anforderungen etwa an Sicherheit und Leistungsfähigkeit, Qualität und Risikobewertung erfüllt hat. Schließlich werden die Herstellerangaben zu den geforderten Produkteigenschaften – vom Datenschutz bis zur Benutzerfreundlichkeit – geprüft.
 
Außerdem muss der Hersteller anhand wissenschaftlicher Daten nachweisen, dass die App positive Versorgungseffekte hat – dies aber erst innerhalb von zwölf Monaten. Ein Unternehmen kann ein weiteres Jahr Verlängerung bekommen, wenn es bis drei Monate vor Ablauf der Erprobungszeit begründet, warum der Nachweis noch nicht vorliegt. Sollte eine App den Nachweis auf Dauer schuldig bleiben, wird sie aus dem Verzeichnis gestrichen und kann nicht mehr auf Kassenkosten verordnet werden.
 
„Mit Blick auf die Kosten ist es notwendig, einen nachweisbaren und beträchtlich positiven Effekt für die Versorgung einzufordern“, sagt Stoff-Ahnis. Die Tatsache, dass DiGA auch in Erprobung auf den Markt kämen und bis zu zwei Jahre erstattungsfähig seien, ohne dass ein Nachweis der Evidenz und damit ein tatsächlicher Nutzen für die Versicherten bestünden, sei unter dem Aspekt der Sicherheit für die Patienten nicht zu verantworten. Laut Reimann sind die Anforderungen zudem sehr niedrig angesetzt: „Anstelle des medizinischen Nutzens sind patientenrelevante Struktur- und Verfahrensverbesserungen ausreichend, um positive Versorgungseffekte nachzuweisen.“ Anders als in anderen Leistungsbereichen könnten für den Nachweis zudem Studien mit sehr niedriger Qualität und ungeeigneten Vergleichsgruppen herangezogen werden – und ein Vergleich zu etablierten Behandlungsmethoden sei explizit ausgeschlossen. „Für die Nutzenbewertung der DiGAs sollten dieselben Qualitätsanforderungen gelten wie für ärztliche Methoden, Heil- oder Hilfsmittel“, fordert Reimann.

Nutzenbewertung geboten.

Die im Fast-Track geschaffenen Besonderheiten seien damit begründet worden, dass Innovationen schnell in die Regelversorgung einziehen sollten, sagt Stoff-Ahnis. Doch sei nicht jede DiGA automatisch eine Innovation, wenn Inhalte digitalisiert würden, die sonst in einer analogen, konventionellen Form vermittelt würden, etwa in Arzt-Patienten-Gesprächen oder in anderen Selbsthilfeprogrammen.

Die Regierung will DiGA stärker in die E-Health-Infrastruktur integrieren.

Nach Ansicht des Spitzenverbands Digitale Gesundheitsversorgung stehen DiGA und das zugehörige Gesetz für eine neue, moderne Art, drängende Herausforderungen anzugehen, indem eine hohe Qualität und ein zügiger risikoarmer Zugang für Patienten zu Innovationen miteinander verbunden würden. Wegweisend sei das von den Kassen kritisierte Erprobungsjahr, in dem Hersteller bereits eine vom BfArM geprüfte systematische Datenauswertung vor der Listung vorlegen müssten. „Es bildet einen zeitgemäßen Mittelweg zwischen Pragmatismus und wissenschaftlicher Evidenz“, betont Geier. DiGA hätten eindeutig das Potenzial, die Versorgung zu verbessern. Es gehe nun darum, die DiGA „weiter in das digitale Ökosystem einzubetten“. Die Verordnung müsse schnell „volldigital“ ablaufen. Außerdem sollten sie zeitnah an die elektronische Patientenakte angebunden werden, damit Daten aus den DiGA direkt importiert werden könnten und den Ärzten zur Verfügung stünden.

Arzt-Patienten-Kommunikation stärken.

Der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) sieht vor allem „dringenden Verbesserungsbedarf“ in der Arzt-Patienten-Kommunikation, um für eine größere Verbreitung der DiGA zu sorgen. Da Ärztinnen und Ärzte großen Einfluss darauf hätten, welchen Therapieoptionen Patienten vertrauen, müssten sehr viel mehr Mediziner motiviert werden, die Patienten über neue Angebote zu informieren, fordert Gesundheits- und Pflegeexperte Thomas Moormann. Immerhin: Laut einer im Dezember veröffentlichten Studie der „Stiftung Gesundheit“ sind mittlerweile mehr als 80 Prozent der Ärzte mit den Apps auf Rezept vertraut. Und etwa jeder fünfte Mediziner hat praktische Erfahrungen mit dem neuen Instrument gemacht. Zwei Drittel vertraten die Meinung, dass gezielt eingesetzte Apps überaus hilfreich sein könnten, beispielsweise bei Tagebuchanwendungen oder der Ernährungsberatung.

„Wir begrüßen grundsätzlich, dass gesetzlich Versicherte einen Anspruch auf digitale Gesundheitsanwendungen erhalten haben“, sagt Dr. Thomas Kriedel, Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Allerdings werfe der Umstand, wie die DiGA in die Versorgung kämen, in den Praxen eine Vielzahl von Fragen auf. „Für verordnende Ärzte und Psychotherapeuten fehlen kompakte und unabhängige Informationen, die über Eigenangaben der Hersteller hinausgehen“, sagt Kriedel. Das habe insbesondere zu Beginn das Aufklärungsgespräch in den Praxen schwierig gemacht. Um mehr Transparenz zu schaffen, habe das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) das „KV-App-Radar“ geschaffen. Auf diesem Web-Portal können sich Ärzte auch über ihre Erfahrungen austauschen.

Ärzte beklagen Studienqualität.

Notwendig sei darüber hinaus ein „hochwertiger Wirksamkeitsnachweis“, wenn die Akzeptanz von DiGA bei Vertragsärzten erhöht werden solle, sagt Kriedel. „Die Qualität der von den Herstellern vorgelegten Studien reicht da bei Weitem nicht aus.“ Zudem würfen Erstattungshöhen von teilweise mehr als 700 Euro pro Patient Fragen der Wirtschaftlichkeit auf. Bei den Ärzten bestünden Sorgen vor möglichen Risiken durch Wirtschaftlichkeitsprüfungen. „DiGA sind teuer, ohne dass sie eine Evidenz haben.“ Auch werde das Prinzip der Selbstverwaltung ein Stück weit umgangen, da nicht der GBA entscheide, sondern das BfArM. Auch von Kassenseite gibt es immer wieder die Forderung, der GBA solle über DiGA-Zulassungen entscheiden.

Laut BfArM-Präsident Broich wird das Beratungsangebot von den Antragstellern sehr gut angenommen. Der enge Austausch ermögliche es oftmals, Mängel in den Anträgen kurzfristig oder sogar bereits im Vorfeld auszuräumen. Teilweise würden die Anforderungen an Evidenz, Datensicherheit und Datenschutz oder Interoperabilität von den Anbietern unterschätzt. „Daher gibt es noch eine recht hohe Zahl von Anträgen, die im Verfahrensverlauf zurückgezogen werden, zum Beispiel weil die Antragsteller mehr Zeit benötigen, um Mängel zu beheben.“ Es zeige sich aber, dass viele Hersteller ihre Anwendungen anschließend erneut einreichten und dann in den meisten Fällen erfolgreich seien.

Auf ganz praktische Dinge weisen Verbraucherschützer bei der App auf Rezept hin. Soziale und technische Hürden mit Blick auf die Gesundheitsversorgung müssten abgesenkt werden, so vzbv-Experte Moormann. Wichtig seien etwa eine persönliche Ansprache und Unterstützung. Eine Möglichkeit seien auch Terminals mit Hilfsfunktion wie es sie beispielsweise in Apotheken in Sachsen gebe. Sie seien als niedrigschwellige Anlaufstellen auch für Personen geeignet, die sich mit ihren eigenen Geräten überfordert fühlen.

Regierung will Preisentwicklung genau verfolgen.

Bleibt die Frage, ob die Ampel-Koalition aus SPD, FDP und Grünen bei den digitalen Gesundheitsanwendungen Nachbesserungen plant. Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) unter Leitung von Karl Lauterbach teilt auf Anfrage mit, die wichtigste anstehende Änderung sei die „Integration von DiGA in umfassendere, patientenzentrierte Versorgungsabläufe“, vor allem in die wachsende E-Health-Infrastruktur. Studien hätten gezeigt, dass digitale Anwendungen für Patienten immer dann am wirkungsvollsten seien, wenn sie mit der ärztlichen Behandlung oder mit den Leistungen anderer Gesundheitsberufe eng verknüpft würden, also digitale und menschliche Versorgung gut aufeinander abgestimmt seien. Um die umfassenden Potenziale von DiGA zur Entfaltung zu bringen, müssten die Regelungen zum Fast-Track wie auch die weiteren Rahmenbedingungen im Gesundheitssystem „Schritt für Schritt“ weiterentwickelt werden, auf der technischen und organisatorischen Ebene ebenso wie in den Vertrags- und Vergütungsstrukturen.

Insgesamt wurde nach Ansicht des BMG mit den DiGA ein „wichtiger neuer Bereich der Gesundheitsversorgung“ eröffnet. Die Bilanz der eingereichten und positiv beschiedenen Anträge deute darauf hin, dass der gesetzte Rahmen „eine ausgewogene Balance zwischen harten Anforderungen und Innovationsoffenheit“ schaffe. Die Regierung will bei der Preisbildung nach eigenem Bekunden aber wachsam bleiben und die Auswirkungen des neuen Höchstbetragssystems „aufmerksam verfolgen“. Der Spagat dabei: „Ein gut funktionierendes Preisbildungssystem muss die Solidargemeinschaft vor übersteigerten Preisen schützen und zugleich die Hersteller neuer, innovativer Produkte motivieren, sich auf den anspruchsvollen und teils unkalkulierbaren Weg ins System zu begeben“, so das BMG.

Bald DiPA im Pflegesektor.

Auch wenn die Erfahrungen mit den DiGA noch jung sind, so ist bereits sicher, dass es demnächst auch digitale Pflegeanwendungen – kurz DiPA – geben wird. Sie können von Pflegebedürftigen genutzt werden, um den eigenen Gesundheitszustand durch Übungen zu stabilisieren oder zu verbessern. Eine App kann etwa das Risiko von Stürzen ermitteln und vor diesen schützen. Andere Anwendungen bieten Gedächtnisspiele für Menschen mit Demenz an. DiPA können aber auch die Kommunikation mit Angehörigen und Pflegefachkräften verbessern. Das Gesetz ist bereits in Kraft. Aktuell erarbeitet das Ministerium eine Rechtsverordnung zur konkreten Umsetzung. Laut Broich will sein Institut auf dieser Grundlage umgehend das Einreichungsportal für die Anträge und das Verzeichnis entwickeln, einen ausführlichen Leitfaden erstellen und über Antragstellung und Anforderungen an die DiPA informieren.

Thorsten Severin ist Redakteur der G+G.
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