Comeback einer alten Seuche
Im Schatten von Covid-19 droht Lepra aus dem Blick zu geraten. Die von Bakterien verursachte Infektionskrankheit führt in Indien immer noch bei vielen Menschen zu schweren Schäden. Martina Merten hat in Neu Delhi mit Patienten und deren Helfern gesprochen.
Zeenats Leben lag noch vor ihr,
als die heute 30-Jährige bemerkte, dass mit ihrem Körper etwas nicht stimmt. Sie sei etwa 16 Jahre alt gewesen, erinnert sie sich. Erst seien an mehreren Stellen ihres Körpers Geschwüre entstanden. Dann fingen die Schmerzen an, erzählt Zeenat. Sie liegt im Trakt für Frauen des „Mother Teresa Leprosy Home“ der „Missionaries of Charity“ in Neu Delhi, gemeinsam mit vielen anderen jungen Patientinnen. Ärzte, die Zeenat aufsuchte, waren unsicher, was ihr fehlen könnte. Lepra diagnostizierten sie zunächst nicht. Dann traten Lähmungserscheinungen auf, mehrere Monate lang konnte sie ihre Gliedmaßen nicht mehr bewegen. Die Diagnose und Medikamente, die das Schlimmste hätten aufhalten können, kamen zu spät. Eine Gesichtshälfte wirkt wie gelähmt, Zeenat kann ihre Augen beim Sprechen kaum öffnen. Während sie von dieser Zeit berichtet, ringt sie um Fassung. Gleichzeitig betont sie, dass sie ihre Geschichte erzählen möchte, damit keiner diese Erkrankung vergisst.
Fast alle Männer und Frauen, die hier leben, sind körperlich sichtlich gezeichnet. Vielen fehlt ein Bein oder ein Arm, ihre Fingerkuppen sind verkrümmt, versteift, verkürzt – Folgen der zu spät behandelten Infektion. Wieder andere leiden unter offenen Wunden an Beinen und Füßen, die Helfer mit bewundernswerter Präzision mehrfach am Tag reinigen. Häufig wollten die Familien ihre Angehörigen aufgrund der Infektion nicht länger zu Hause behalten.
Abschottung in der Pandemie.
Bis vor wenigen Monaten blieben die Tore jeglicher Lepra-Kolonien in Indien verschlossen. Abschotten wollte die Regierung alle Bewohner, die aufgrund der schweren bakteriellen Infektionserkrankung in einer dieser Kolonien ein temporäres Zuhause gefunden haben. Damit sollten die Patienten vor coronabedingten Gefahren von außen geschützt sein. Gleichzeitig bedeutete dies auch einen erschwerten Zugang für Menschen, die neu mit Lepra infiziert sind. „Wir haben nur Patienten mit negativem Covid-19-Test zu uns gelassen“, erklärt eine der Schwestern aus dem Mother Teresa Leprosy Home.
Mehr als die Hälfte der jährlichen Neuinfektionen mit dem Mycobacterium leprae entfällt auf Menschen in Indien.
Die Einrichtung ist eine von insgesamt 40 Lepra-Kolonien in Neu Delhi. Über das Land verteilt existieren mehrere Hundert. Für Covid-19-Positive war der Zugang zur Lepra-Kolonie grundsätzlich verschlossen. Doch einen Test können sich viele Menschen gar nicht leisten: Er kostet in Indien rund zwölf Euro und ist damit für einen Großteil der Bevölkerung unerschwinglich. Zudem trauen sich Patienten mit der chronischen Infektionskrankheit Lepra kaum in die Öffentlichkeit. Deshalb seien in der Corona-Pandemie nicht viele neue Bewohnerinnen und Bewohner in die Einrichtung gekommen, erzählt die Schwester aus dem Mother Teresa Leprosy Home.
Therapie verhindert Übertragung.
Mehr als die Hälfte der jährlichen Neuinfektionen mit dem Mycobacterium leprae entfallen auf Menschen in Indien. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation wurden 2019 weltweit mehr als 200.000 Neuinfektionen gemeldet. 2005 stoppte die indische Regierung ihre finanzielle Unterstützung, da die Prävalenz im Land bei weniger als einem Fall pro 10.000 Einwohner lag– die Erkrankung galt damit als ausgerottet. Eine fatale Entscheidung, denn vor allem in den Bundesstaaten Bihar und Uttar Pradesh breitet sich die Erkrankung wieder aus.
Die Migration sorgt dafür, dass Infizierte das Bakterium auch in andere Bundesstaaten tragen. „Lepra ist heilbar, es besteht kein Übertragungsrisiko, wenn sie im Frühstadium diagnostiziert und mit der richtigen Behandlung unterstützt wird“, betont Pradeep Bahri, CEO, Rotary Club Alliance for Leprosy Control (siehe Interview). „Bleibt sie unentdeckt, kann sie lebensverändernde und lebensbedrohliche Folgen haben und sich enorm ausbreiten. Eine Person, die an unbehandelter Lepra leidet, kann täglich Dutzende von Menschen anstecken.“ Dabei würden die Infizierten bereits nach einer einzigen Dosis einer Kombitherapie aus mehreren Medikamenten die Krankheit nicht mehr auf andere übertragen.
„Lepra war nie verschwunden“
Im G+G-Interview spricht Pradeep Bahri vom Rotary Club of Delhi South und CEO der Leprosy Control Foundation über die Verbreitung der chronischen Infektionskrankheit, Konzepte zu deren Bekämpfung und Hemmnisse durch Covid-19.
Da Lepra so wenig bekannt sei, mangele es aber auch an Diagnosemöglichkeiten, berichtet Bahri. „Die Tabus und Mythen, die sich um die Verbreitung und die vermeintliche Unheilbarkeit der Krankheit ranken, verschlimmern die Situation.“ Die Unkenntnis über Lepra sei die größte Herausforderung bei der Reduzierung der Krankheit. Mit der Vision, Indien leprafrei zu machen, hat der Rotary Club of Delhi South gemeinsam mit anderen Rotary Clubs das „Leprosy Control Project“ initiiert. „Unser Ziel ist es, ein robustes System zu schaffen, um die dringend notwendige Kontrolle der Lepra zu gewährleisten“, so Rotarian Pradeep Bahri.
Anlass zur Stigmatisierung.
Im Mother Teresa Home leben derzeit 200 Männer und Frauen. Hier erhalten sie Medikation, Physiotherapie und Wundversorgung. Hier können sie erst einmal bleiben. Viele von ihnen kämen zu spät an einen solchen Ort, heißt es von den Mitarbeiterinnen. Wird die Erkrankung nicht diagnostiziert und nicht behandelt, sind die körperlichen Folgen für die Betroffenen verheerend. Durch unbehandelte Geschwüre entstehen Entzündungen. Diese wiederum führen im schlimmsten Fall zum Verlust eines oder mehrerer Körperteile und zu Entstellungen. Hinzu kommen die mit der Erkrankung häufig verbundenen Hautveränderungen. Dunkle Haut wie die der Inder verliert ihre Pigmentierung. Die weiße Färbung lässt unmittelbar auf Lepra schließen – ein weiterer Anlass zur Stigmatisierung.
Corona verschlimmert die Situation.
Der Dermatologe Jitender Chauhan bestätigt, was auch Pradeep Bahri bei der Arbeit im Rotary-Projekt erlebt: „Das Hauptproblem in Indien ist, dass die Menschen nichts über diese Erkrankung wissen – auch nicht, dass sie bei Einnahme von verschiedenen, miteinander kombinierten Antibiotika eine günstige Prognose haben und nicht mehr ansteckend sind.“ Der Arzt hat sich auch während der Corona-Pandemie weiterhin um Lepra-Patienten gekümmert. Er blieb damit eine Ausnahme. „Covid-19 hat die Situation für Leprakranke in Indien weiter verschlimmert“, glaubt Chauhan. Durch die Abschottung der Lepra-Kolonien und die Weigerung der Ärzte, die Patienten zu behandeln, ist die Erkrankung weiter fortgeschritten. Die Wunden sind noch tiefer geworden – nicht zuletzt die inneren Wunden, vermutet Chauhan.
Nichtregierungsorganisationen wie die Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe setzen sich seit vielen Jahrzehnten dafür ein, dass diese schwerwiegende Erkrankung nicht in Vergessenheit gerät. Die offiziellen Fallzahlen halten sie für zu niedrig. In Ländern wie Indien, in denen die Infektion vermehrt vorkommt, liegt der Schwerpunkt ihrer Projektarbeit. Im Leprosy Control Project kooperieren die Rotarier in Indien mit einer britischen Nichtregierungsorganisation, um die stigmatisierte Erkrankung einzudämmen. Ein Schicksal wie das von Zeenat könnte so vielen Menschen erspart bleiben.