Das Arztgeheimnis hat Vorrang
Das Verordnen von Betäubungsmitteln unterliegt einer besonderen Überwachung durch Behörden. Dennoch dürfen diese von Ärzten ohne eine konkrete richterliche Anordnung keine Einsicht in die Patientenakten verlangen. Das hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden. Von Anja Mertens
– BVerwG 3 C 1.21 –
Bundesverwaltungsgericht
In Deutschland können
bestimmte Betäubungsmittel (BtM) ärztlich verordnet werden, wenn dies medizinisch erforderlich ist und der Therapiezweck nicht auf andere Weise erreicht werden kann. Um den Missbrauch sowie das Entstehen oder Erhalten von Abhängigkeiten möglichst gering zu halten, unterliegt der Betäubungsmittelverkehr der staatlichen Überwachung. Hierzu zählt auch die Kontrolle von ärztlichen Verschreibungen. Streitig war in einem Fall vor dem Bundesverwaltungsgericht, ob die Überwachungsbehörde von Ärzten die Vorlage von Rezeptdurchschriften und eine Einsicht in ärztliche Patientenakten verlangen darf.
Anlässlich einer Routinekontrolle in einer Apotheke im August 2013 fiel den Kontrolleuren eine Betäubungsmittel-Verschreibung mit dem Wirkstoff Methylphenidat auf, die ein Diplom-Psychologe und Arzt mit einer allgemeinmedizinischen Praxis für seinen Sohn ausgestellt hatte. Methylphenidat ist unter anderem als Ritalin bekannt, besitzt eine stimulierende Wirkung und dient vor allem der Behandlung von ADHS. Bei zwei weiteren Kontrollen im November 2013 und August 2014 fielen weitere Verschreibungen auch über den Wirkstoff Fentanyl auf, der eine bis zu 100-mal stärkere schmerzstillende Wirkung als Morphin hat.
Die Ermittler forderten vom Arzt, die beanstandeten Verordnungen jeweils medizinisch zu begründen.
Im Oktober 2015 erfolgte eine unangekündigte Kontrolle in der Arztpraxis. Nach Durchsicht der BtM-Rezeptdurchschläge hielten die Kontrolleure 54 Rezepte für auffällig. Ihrer Aufforderung, die medizinische Begründetheit der Verschreibungen durch Vorlage von Patientenunterlagen nachzuweisen sowie die Rezeptdurchschriften einzureichen, kam der Arzt unter Verweis auf seine ärztliche Schweigepflicht nicht nach.
Vorlage der Rezepte verlangt.
Mit Bescheid vom 20. Oktober 2016 verlangte die Behörde, für 14 Patienten alle ausgestellten BtM-Rezepte sowie alle fehlerhaft ausgestellten Rezepte vorzulegen. Zudem wurde der Arzt verpflichtet, die Unterlagen wie zum Beispiel Patientendokumentation, Arztbrief und Befunde vorzulegen, die die Verschreibungen medizinisch begründen können. Dagegen erhob der Arzt Klage. Das Verwaltungsgericht gab ihm teilweise Recht und hob den Bescheid hinsichtlich der Anordnung, Einsicht in die Patientendokumentation zu gewähren, auf. Auf die Berufungen des Klägers und der Beklagten wies der Verwaltungsgerichtshof die Klage ab. Dagegen legte der Kläger Revision ein.
Diese hatte teilweise Erfolg. Das Bundesverwaltungsgericht änderte das Berufungsurteil ab und bestätigte die erstinstanzliche Entscheidung.
Ausnahme Patientenakten.
Zunächst stellte das Gericht klar, dass die mit der Überwachung Beauftragten befugt seien, Unterlagen einzusehen, die für die Sicherheit oder Kontrolle des Betäubungsmittelverkehrs von Bedeutung sein könnten. Jeder Teilnehmer am Betäubungsmittelverkehr sei verpflichtet, die Maßnahmen zu dulden und Einsicht in Unterlagen zu ermöglichen (Paragraf 22 Absatz 1 Nummer 1 sowie Paragraf 24 Absatz 1 Betäubungsmittelgesetz – BtMG).
Daraus ergebe sich, so die Leipziger Bundesverwaltungsrichter, jedoch keine Befugnis, die Vorlage ärztlicher Aufzeichnungen über die Behandlung des Patienten, also insbesondere die Anamnese, Diagnosen, Untersuchungen, Untersuchungsergebnisse, Befunde, Therapien sowie Arztbriefe zu verlangen. Patientenakten seien keine Unterlagen über den Betäubungsmittelverkehr im Sinne von Paragraf 22 Absatz 1 Nummer 1 BtMG. Die Annahme des Verwaltungsgerichtshofs, Patientenakten gehörten dazu, verstoße gegen Bundesrecht. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber den Überwachungsbehörden auch die Einsicht in ärztliche Patientenakten ermöglichen wollte. Für die Kontrolle bestünden strafrechtliche Sanktionen (Paragraf 29 Absatz 1 Nummer 6a BtMG). Bei hinreichendem Tatverdacht gegen den Arzt könne die Staatsanwaltschaft auf richterliche Anordnung die Arztpraxis durchsuchen und Patientenakten beschlagnahmen.
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Gegen die Befugnis der Behörde, Einsicht in Patientenakten zu verlangen, spreche darüber hinaus Verfassungsrecht. Eingriffe in das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient bedürften einer gesetzlichen Grundlage, aus der sich die Voraussetzungen und der Umfang der Grundrechtsbeschränkung klar und für die Grundrechtsträger erkennbar ergäben. Paragraf 22 Absatz 1 Nummer 1 BtMG erfülle diese Anforderungen nicht. Ärztliche Patientenakten beträfen sensible Daten aus dem privaten Bereich des Patienten. Sie seien durch das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes geschützt.
Das allgemeine Persönlichkeitsrecht gewährleiste in seiner Ausprägung als Recht auf informationelle Selbstbestimmung die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung von persönlichen Gesundheitsdaten zu bestimmen. Wer sich in ärztliche Behandlung begebe, dürfe erwarten, dass alles, was der Arzt im Rahmen seiner Berufsausübung über seine gesundheitliche Verfassung erfahre, geheim bleibe und nicht zur Kenntnis Unberufener gelange. Das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient nehme zudem an dem Schutz teil, den das Grundrecht auf freie Berufsausübung dem Arzt vor Eingriffen in seine berufliche Tätigkeit gewähre (Artikel 12 Absatz 1 Grundgesetz).
Anders liegt es dem Gericht zufolge bei der Befugnis der Behörde zur Einsicht in Betäubungsmittelrezepte. Sie finde in den Paragrafen 22 Absatz 1 Nummer 1 des Betäubungsmittelgesetzes und Paragraf 8 Absatz 5 der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung eine hinreichend bestimmte und auch im Übrigen verfassungsgemäße gesetzliche Grundlage.
Kommentar: Der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zugunsten des Arztgeheimnisses ist zuzustimmen. Ob und wie Kontrollen des Betäubungsmittelverkehrs effektiver auszugestalten wären, obliegt dem Gesetzgeber.