Netzwerk geht Wunden auf den Grund
Chronische Wunden schränken die Lebensqualität erheblich ein. Ein Projekt in Bremen und Bremerhaven fördert die ärztliche Zusammenarbeit, um die Wundversorgung zu verbessern. Dabei nutzen die Beteiligten eine digitale Fallakte. Von Jörn Hons
Alle paar Tage
lässt der 53-jährige Patient bei seinem Hausarzt die nässende, vier Zentimeter große und schmerzende Wunde neu verbinden, doch sie heilt über viele Wochen nicht. Solche Krankengeschichten sind nicht selten, denn die Therapie von chronischen Wunden wird oft unterschätzt, unzureichend ausgeführt oder schlecht koordiniert. Deshalb hat die AOK Bremen/Bremerhaven jetzt gemeinsam mit der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Bremen und dem Unternehmen IVP Networks das Projekt „IP Wunde“ (Infrastruktur und Prozesse für optimierte Versorgung von Patienten mit chronischen Wunden – dezentral und regelversorgungsnah in Bremen) aus der Taufe gehoben.
Gemeinsam Ursachen ermitteln.
Sechs spezialisierte Arztpraxen sind in das Projekt bereits eingebunden. Seit dem 1. Juli können sich auch Hausärzte, Internisten, Hautärzte, Chirurgen, Gynäkologen, Orthopäden oder Diabetes-Experten daran beteiligen und mit den Wundspezialisten ein Ärzte-Netzwerk für dieses Thema bilden. Einer der Wundspezialisten ist der Chirurg Dr. Geert-Henning Marencke: „Die richtigen Wundauflagen, Verbände und Pflaster sind nicht der wichtigste Baustein bei dieser Behandlung“, betont er, „viel wichtiger ist, die genaue Ursache der chronischen Wunde zu ermitteln.“ Darum sei die Zusammenarbeit der Ärzte so wichtig. Wenn zum Beispiel eine Durchblutungsstörung der Haut und der darunterliegenden Muskeln vorliegt, muss erst dieses Problem beseitigt werden, bevor die Wunde erfolgreich behandelt werden kann.
In Deutschland leben einer Schätzung zufolge 2,5 Millionen Menschen mit chronischen Wunden. Meist sind das ältere Menschen mit einer Erkrankung wie zum Beispiel Diabetes, die eine gute Wundheilung behindert. Im Stadtstaat Bremen sind das etwa 25.000 Menschen. „Uns ist bewusst, dass die Wundversorgung insgesamt nicht so funktioniert, wie es sein könnte und sein muss“, so Olaf Woggan, Vorstandschef der AOK Bremen/Bremerhaven. Deshalb fördere die AOK in der Hansestadt bereits seit Jahren die Weiterbildung von Ärzten und Praxismitarbeitern im Wundmanagement und versuche jetzt, die Versorgung mit Hilfe von „IP Wunde“ messbar zu verbessern. Das Kompetenzzentrum für Klinische Studien an der Universität Bremen hat die wissenschaftliche Begleitung übernommen.
Komplikationen verringern.
Ein wichtiger Baustein ist eine digitale Wundfallakte, die alle zur Diagnostik und Therapie notwendigen Daten speichert. Die am Netzwerk beteiligten Mediziner können jederzeit darauf zugreifen und ihre Expertise einbringen. Dazu müssen sie sich und ihre Patienten für das Projekt anmelden. Die Patienten werden je nach Fall ausschließlich von Wundexperten oder gemeinsam mit den Hausärzten behandelt.
Ziel ist, Schmerzen, Heilungsdauer und die Gefahr von Komplikationen zu verringern und so die Lebensqualität zu erhöhen. Es geht zudem darum, Abläufe und Strukturen im Gesundheitswesen zu verändern, damit ein Patient nicht mehr wegen einer Wunde alle paar Tage zum Arzt gehen muss. Auch aus diesem Grund fördert der Innovationsfonds das Projekt mit 5,5 Millionen Euro.
Interessenkonflikte vermeiden.
Verschiedene Hersteller von Pflastern und Wundauflagen haben sich darauf spezialisiert, die Wundversorgung der Patienten für niedergelassene Mediziner komplett zu übernehmen. Das entlastet die Arztpraxen zwar, aber die Hersteller haben auch ein Interesse daran, ihre Produkte zu verkaufen und so ihren Umsatz zu steigern. Bei der Auswahl der passenden Wundverbände entstünden so immer wieder Interessenkonflikte, die oft nicht im Sinne der Patienten und ihrer Wundheilung entschieden würden, hat die AOK beobachtet.
Ein Blick auf die Behandlungskosten von Menschen mit chronischen Wunden zeigt: Von durchschnittlich 10.000 Euro pro Jahr und Patient entfallen 44 Prozent auf die Krankenhausbehandlung – vor allem bei Wundkomplikationen –, 48 Prozent aber auf die Kosten der Wundauflagen, Verbände und Pflaster. „Wir wollen die Versorgung chronischer Wunden mit diesem Projekt zurück in die Praxen holen“, betont KV-Sprecher Christoph Fox.