G+G-Wissenschaft

Im Zeitalter der Krisen

Krisen prägen heute weite Teile unseres Alltags. Die erprobten Formen des Krisenmanagements stoßen an ihre Grenzen. Neuartige Krisen erfordern neuartige Lösungen – auch und gerade im Gesundheitswesen. Von Silke Heller-Jung

Die Wurzeln des Begriffs „Krise“

reichen zurück bis in die griechische Antike. Das Wort „krisis“ bedeutete einerseits „Streit“, andererseits aber auch „Entscheidung“ oder „Wendepunkt“. Im Laufe der Zeit spitzte sich der Krisenbegriff zu: Unter einer Krise verstand man schließlich die endgültige, unwiderrufliche Entscheidung zwischen zwei diametral entgegengesetzten Alternativen. Im medizinischen Kontext etwa bürgerte sich der Begriff Krise als Bezeichnung für jene entscheidende Phase des Krankheitsgeschehens ein, in deren Verlauf das Pendel entweder in Richtung Genesung oder in Richtung Tod ausschlug.

Mittlerweile wird der Begriff „Krise“ fast schon inflationär als Bezeichnung für sämtliche dysfunktionalen Entwicklungen verwendet, die sich dramatisch und bedrohlich zuspitzen (könnten). Eine allseits anerkannte Definition der Krise aber gibt es bis heute nicht, und auch über die Entstehung, die Folgen und die Bewertung von Krisen gehen die Auffassungen auseinander. Sind Krisen wirklich immer nur schlecht? Oder bieten sie nicht auch die Chance, an den Herausforderungen zu wachsen, umzudenken und neue, bessere Lösungen zu entwickeln?

„Was heißt heute Krise?“,

fragte Jürgen Habermas sich 1973 in einem Aufsatz. Diese Frage ist bis heute nicht abschließend beantwortet. Grundsätzlich zeichnen sich Krisen dadurch aus, dass angesichts einer existenziellen Bedrohung bei gleichzeitiger fundamentaler Unsicherheit mit hoher Dringlichkeit Entscheidungen getroffen werden müssen, erklären Oliver Ibert und Tjorven Harmsen in der aktuellen G+G Wissenschaft. Sie haben sich mit dem Thema in einem Forschungsprojekt am Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung in Erkner befasst. Den gegenwärtigen Krisen attestieren sie eine qualitativ neuartige Form, nämlich eine soziale, zeitliche und räumliche Entgrenzung. Solche „eingebetteten Krisen“ treten gleichzeitig an verschiedenen Stellen der Gesellschaft auf. Sie sind untereinander verbunden, weil sie auf demselben Ursachenkomplex beruhen, und erfordern neue Konzepte zu ihrer Bewältigung.

Krisen sind häufig ein Grund dafür, dass Menschen ihre Heimat verlassen. Die Fluchtgründe sind vielfältig, der rechtliche Status von Menschen mit Migrations- oder Fluchtgeschichte in Deutschland auch, weiß Kayvan Bozorgmehr, der an den Universitäten Bielefeld und Heidelberg zum Thema Migration und Gesundheit forscht. Wie sich diese Ungleichheit auf zentrale Faktoren der Gesundheit auswirkt, hat er gemeinsam mit Louise Biddle und Nora Gottlieb analysiert. Ihr Fazit: Bei der Entscheidung über den Zugang zu essenziellen Leistungen des Sozial- und Gesundheitssystems sollten ausschließlich die bewährten Prinzipien der Notwendigkeit, Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit von medizinischen Leistungen eine Rolle spielen – nicht aber der rechtliche Status der Zugewanderten.

Auch das Gesundheitswesen ist

vor Krisen nicht gefeit. Das hat die Corona-Pandemie einmal mehr gezeigt. Unterbrochene Lieferketten und andere Krisenfolgen wirken sich auch auf die Gesundheitsversorgung aus. Annka Liepold, Wissenschaftliche Referentin an der acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften, beschreibt, wie das Gesundheitssystem durch kluge Vorbereitung besser für kommende Krisen gerüstet werden könnte. Dabei sieht sie ausdrücklich auch den Staat in der Pflicht: Weil zur staatlichen Daseinsvorsorge auch die medizinische Grundversorgung gehört, sei die Stärkung der Resilienz im Gesundheitswesen nicht zuletzt auch eine politische Aufgabe.