Psychische Gesundheit

Mehr Hilfe für Kinderseelen

In der Corona-Pandemie hat die seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen gelitten. Gebhard Hentschel, Vorsitzender der Deutschen PsychotherapeutenVereinigung, sieht die Politik in der Pflicht, mehr niedrigschwellige Behandlungsangebote zu schaffen.

Gerade haben wir

den dritten Sommer unter Corona-Bedingungen erlebt. Die Pandemie hat die Psyche von Kindern und Jugendlichen stark beeinträchtigt. Die Angst, sich selbst anzustecken oder Familienmitglieder zu infizieren, hat viele belastet. Innerhalb der Familie kam es zu erheblichen Einschränkungen und Veränderungen: Eltern stellten auf Homeoffice um und verzichteten auf soziale Kontakte. Beim Homeschooling ihrer Kinder spielten sie eine wichtige motivierende und strukturierende Rolle. Doch diese Anpassungsprozesse gelangen sehr unterschiedlich. So führten sie auch zu Spannungen bis hin zu einer Zunahme körperlicher Gewalt in Familien. Die Einschränkung der sozialen Kontaktmöglichkeiten, unter anderem durch Schulausfall und Wegbrechen von Vereinsstrukturen, hat die Situation der Kinder und Jugend­lichen geprägt und ihre Entwicklung nachhaltig beeinflusst.

Die COPSY-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf legt in einer dritten Erhebungswelle offen, dass sich das psychische Wohlbefinden und die Lebensqualität der Kinder und Jugendlichen Anfang 2022 im Vergleich mit den Ergebnissen aus zwei Vorerhebungen leicht verbessert hat. Doch immer noch zeigen mehr Kinder und Jugendliche als vor der Pandemie psychische Auffälligkeiten, vor allem aus sozial benachteiligten Schichten.

Psychische Störungen nehmen zu.

Laut einer Erhebung der Deutschen PsychotherapeutenVereinigung hat sich die Zahl der durchschnittlich in einer Woche im Januar 2021 gestellten Anfragen in kinder- und jugendpsychotherapeutischen Praxen im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt. Wir beobachten in unseren Praxen eine Zunahme an krankheitswertigen und behandlungsbedürftigen Störungen wie Depressionen, Angststörungen sowie Ess- und Schlafstörungen. Stress, Zukunfts- und Verlustängste, sozialer Rückzug, Interessensverlust und Schulunlust. Aber auch körperliche Symptome wie Übergewicht bei mangelnder Bewegung und ungesunder Ernährung, Kopf- und Bauchschmerzen, sowie Schlafstörungen kennzeichnen die psychische Belastung von Kindern und Jugendlichen.

Sozioökonomische Faktoren beeinflussen Gesundheit.

Eine Versicherten-Umfrage des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) hat 3.000 Mütter Anfang 2022 zu den Auswirkungen der Pandemie auf die psychische Gesundheit ihrer Kinder befragt. Das Ergebnis: 34 Prozent der Eltern gaben an, dass sich die seelische Gesundheit ihrer Kinder während der Pandemie verschlechtert habe. Knapp 63 Prozent sahen die seelische Situation unverändert und gut zwei Prozent gaben eine Verbesserung an.

Immer noch zeigen mehr Kinder und Jugendliche als vor der Pandemie psychische Auffälligkeiten.

Generell haben sich sozioökonomische Einflussfaktoren bestätigt. Lag das Nettoeinkommen unter 1.500 Euro, so verschlechterte sich die seelische Gesundheit bei mehr als der Hälfte der Befragten (51 Prozent). Bei 48 Prozent zeigte sich keine Veränderung und bei einem Prozent eine Verbesserung. Unterstützung bei der Bewältigung der pandemiebedingten Belastungen erwarteten die Eltern von Sportvereinen (28 Prozent), Schulpsychologen und Sozialarbeitern (25 Prozent), Krankenkassen (23 Prozent), Kinderärzten (22 Prozent), Nachhilfegruppen (17 Prozent) sowie von Psychotherapeuten und Psychiatern (zwölf Prozent). Rund jede zehnte Mutter gab an, dass bei ihrem Kind eine psychische Erkrankung diagnostiziert wurde.

Kapazitäten ausbauen.

Die Versorgungssituation von Kindern und Jugendlichen ist angespannt. In strukturschwachen und ländlichen Regionen bestehen unzumutbar lange Wartezeiten auf den Beginn einer ambulanten Psychotherapie. Die Bundesregierung hat die Weiterentwicklung der Bedarfsplanung im Koalitionsvertrag verankert. Aus unserer Sicht sollten staatliche Programme das psychotherapeutische und psychiatrische Versorgungsangebot strukturiert und niedrigschwellig unter Einbindung der Schulen und schulpsychologischen Beratungsstellen ergänzen. Dabei sollten Lehrerinnen und Lehrer für seelische Belastungsreaktionen ihrer Schüler sensibilisiert und Psychotherapeuten stärker als Ansprechpartner an Schulen eingebunden werden.

Ein Beispiel für ein präventives Gruppenangebot ist Mitte August im Bereich der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein, finanziert durch das Gesundheitsministerium Nordrhein-Westfalen, gestartet. Zielgruppe sind Kinder und Jugendliche im Alter von sechs bis 21 Jahren, bei denen noch keine manifestierte psychische Erkrankung festgestellt worden ist. Mehr solcher niederschwelliger Maßnahmen wären wünschenswert.

Gebhard Hentschel ist Bundesvorsitzender der Deutschen Psycho­therapeutenVereinigung, Psychologischer Psychotherapeut und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut.
Bildnachweis: Foto Startseite: iStock.com/Lacheev