Thema des Monats

Kassen kämpfen gegen Korruption

Betrug und Korruption verschlingen im Gesundheitswesen hohe Beträge. Die Krankenkassen holen davon Millionen Euro zurück. Doch das Potenzial liegt weit höher. Dominik Schirmer, Britta Sielaff und Patrick Sievert fordern deshalb, das Dunkelfeld des Fehlverhaltens erforschen zu lassen.

Fehlverhalten im Gesundheitswesen ist nicht erst mit Berichten über mafiöse Strukturen bei Pflegediensten ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt. Doch der Kampf gegen Betrug und Korruption bekommt angesichts der angespannten Haushaltslage in Krisenzeiten eine zunehmende Bedeutung. Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) erwartet im kommenden Jahr ein Defizit von rund 17 Milliarden Euro. Bereits vor mehr als zehn Jahren hat Transparency International Deutschland die Verluste durch Betrug, Verschwendung und Korruption im Gesundheitswesen auf sechs bis 20 Milliarden Euro geschätzt. Das Europäische Netzwerk gegen Betrug und Korruption im Gesundheitswesen bezifferte im Jahr 2010 den Schaden durch Betrug und Missbrauch für das deutsche Gesundheitswesen auf rund 13 Milliarden Euro. Wenn also Potenziale zur Stabilisierung der GKV-Finanzen gesucht werden, bietet sich die Fehlverhaltensbekämpfung dazu an.

Schaden war so hoch wie noch nie.

Bereits im Berichtsjahr 2016/17 ist die AOK im Kampf gegen Fehlverhalten im Gesundheitswesen überproportional erfolgreich gewesen. Bei einem Marktanteil von damals rund 36 Prozent nach Versichertenzahlen konnten AOK-Ermittler 56 Prozent der GKV-weit gesicherten Forderungen von Delinquenten zurückfordern. Insgesamt holten die Krankenkassen 2016/17 rund 49 Millionen Euro zurück. Der aktuelle Tätigkeitsbericht des AOK-Bundesverbandes für das Jahr 2020/21 weist 35,4 Millionen Euro als gesicherte Forderungen aus – acht Millionen Euro mehr als im Berichtszeitraum 2016/17 (siehe Grafik „Aufdeckung von Fehlverhalten: AOK-Stellen holen Millionen-Beträge zurück“). Dieses Geld steht wieder für die Versorgung der AOK-Versicherten zur Verfügung.

Der Schwerpunkt der gesicherten Forderungen liegt wie im vorherigen Berichtszeitraum im Bereich der häuslichen Krankenpflege und bei den Pflegeleistungen nach Sozialgesetzbuch XI (siehe Grafik „Höchste Rückforderung aus Fehlverhalten im Pflegebereich“). Hier konnten die AOKs insgesamt 11,3 Millionen Euro zurückfordern. Weitere Schwerpunkte betrügerischer Handlungen lagen im Bereich Arzneimittel und Heilmittel. Hier sicherten die AOK-Ermittelnden jeweils 5,2 Millionen beziehungsweise 5,1 Millionen Euro.

Der Gesetzgeber sieht zudem vor, den „entstandenen Schaden“ für die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung auszuweisen, „der durch Prüfungen nicht vermieden werden konnte“. Für die AOK-Gemeinschaft wird dieser im Berichtszeitraum 2020/21 mit 73,1 Millionen Euro beziffert und liegt damit so hoch wie noch nie.

Der Kampf gegen Betrug und Korruption wird als gemeinsame Aufgabe aller Kranken- und Pflegekassen gesehen. Sie obliegt den „Stellen zur Bekämpfung von Fehlverhalten“. Die Krankenkassen stehen bei dieser Arbeit nicht im Wettbewerb, sondern ergänzen sich. Die aktuellen Zahlen für die GKV insgesamt werden Anfang 2023 veröffentlicht. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass auch in diesem Berichtszeitraum die AOK-Gemeinschaft einen überproportionalen Anteil am Erfolg hatte.

Corona beeinträchtigt Prüfroutinen.

Bei insgesamt 1.347 Fällen von Betrug und Korruption informierte die AOK die Staatsanwaltschaft, da ein Anfangsverdacht auf eine strafbare Handlung erkennbar war. Das entspricht ungefähr dem Niveau der Vorjahre. Die Anzahl der eingegangenen Hinweise bei den AOKs ist jedoch um rund 15 Prozent zurückgegangen. Im aktuellen Berichtszeitraum erfassten die AOKs 9.382 interne und externe Hinweise auf Fehlverhalten. Das waren 1.700 Hinweise weniger als im Berichtszeitraum 2018/19. Dies ist insbesondere auf die Auswirkungen der Corona-Pandemie zurückzuführen, da etablierte Prüfroutinen, insbesondere im Bereich der ambulanten Pflege, nicht umsetzbar waren und die Aufklärungsarbeit dadurch beeinträchtigt war.

Grafik: Aufdeckung von Fehlverhalten – AOK-Stellen holen Millionen-Beträge zurück: Säulendiagramm mit Zahlen zu gesicherten Rückforderungen im Vergleich der Berichtszeitträume in Millionen Euro von 2010/2011 bis 2020/2021

Die „Stellen zur Bekämpfung von Fehlverhalten“ haben für die AOK-Versicherten im Zeitraum 2020/2021 rund 35,4 Millionen Euro zurückgeholt. Damit lagen die gesicherten Forderungen um rund fünf Prozent niedriger als im vorherigen Zeitraum, jedoch deutlich über dem Betrag, den die Stellen in den Berichtszeiträumen davor sichern konnten.

Quelle: AOK-Bundesverband, Fehlverhaltensbericht 2020/2021

Auch weiterhin bleibt unklar, welche Auswirkungen die Tätigkeiten der „Stellen zur Bekämpfung von Fehlverhalten“ auf die Aktivitäten der Betrügenden haben. Führen intensivere Prüfungen der Abrechnungen oder verbesserte Prüfalgorithmen nur zu Ausweichbewegungen im Tatverhalten oder sorgen sie für eine Verringerung der Schadensfälle? Dringend nötig ist daher eine Dunkelfeldforschung, um das Phänomen von Betrug und Missbrauch im Gesundheitswesen sowohl kriminologisch als auch gesundheitsökonomisch zu untersuchen.

Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften einrichten.

Um die Erfolge bei der Aufdeckung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen zu sichern und auszubauen, müssen sich die Akteure stärker vernetzen. Ferner geht es darum, die Ermittlungsbehörden durch Weiterbildung sowie durch die Bündelung von Fachwissen über die Abrechnung von Gesundheits- und Pflegeleistungen in die Lage zu versetzen, die Anzeigen der Krankenkassen schneller zu bearbeiten und die Sachverhalte effizienter zu ermitteln. Exekutive und Legislative haben einige dieser Ziele aufgegriffen. So gibt es zunehmend die Tendenz, Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften zu gründen. Beispiel hierfür ist die 2020 gegründete bayerische „Zentralstelle zur Bekämpfung von Betrug und Korruption im Gesundheitswesen“ bei der Generalstaatsanwaltschaft in Nürnberg. Die AOK fordert, in allen Bundesländern spezielle Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften einzurichten, die sich mit landesweiter Zuständigkeit ausschließlich mit Wirtschaftskriminalität im Gesundheitswesen befassen. Analog sollte dies auch für die entsprechenden Strukturen auf Seiten der Kriminalpolizei erfolgen.

Datenschutz anpassen und Vertraulichkeit gewährleisten.

Die zunehmende Professionalisierung und Technisierung im Gesundheitswesen wirken sich auf die Fehlverhaltensbekämpfung aus. Daher müssen die Rahmenbedingungen und Prozesse stetig überprüft und bei Bedarf angepasst werden. So geht es beispielsweise darum, die Datenübermittlungsbefugnisse zu erweitern, Whistleblower wirksam zu schützen, Künstliche Intelligenz einzusetzen und eine gemeinsame Datenbank zur Betrugsprävention aufzubauen.
 
Die Datenübermittlungsbefugnisse der Krankenkassen von und zu anderen Trägern der gesetzlichen Sozialversicherungen, insbesondere Rentenversicherung, Berufsgenossenschaften, aber auch an Gesundheitsämter und weitere Aufsichtsbehörden, sollten erweitert werden, soweit dies der Feststellung und Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen dient.

Bei der nationalen Umsetzung der EU-Whistleblower-Richtlinie darf der Schutz von Hinweisgebern nicht auf die Meldung bei Verstößen gegen EU-Recht beschränkt bleiben. Der Schutz muss auf die Meldung von Verstößen gegen nationales Recht und auf das Sozialgesetzbuch (SGB) V und SGB XI ausgeweitet werden. Laut Paragraf 197a Absatz 2 SGB V kann sich Jede und Jeder mit Hinweisen auf ein Fehlverhalten an die Krankenkassen wenden. Hierfür fehlt nach Auffassung der AOK jedoch eine notwendige Absicherung: Die Stellen zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen können Hinweisgebenden bislang keine vollständige Vertraulichkeit versprechen. Deshalb nehmen Hinweisgebende unter Umständen Abstand von einer Meldung. Die Stellen zur Bekämpfung von Fehlverhalten sollten ein Zeugnisverweigerungsrecht erhalten, damit sie die Identität von Hinweisgebenden künftig auf deren Wunsch hin effektiv schützen können.

Künstliche Intelligenz nutzen und Datenbanken aufbauen.

In der Bekämpfung von Fehlverhalten wird der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) künftig mehr Bedeutung bekommen. Die KI eröffnet neue Möglichkeiten, große Datenmengen zielgerichtet zu bearbeiten und potenzielle, nicht offensichtliche Tatmuster zu erkennen. Das bayerische Landesprüfungsamt für Sozialversicherungen hat die AOK Bayern kürzlich sogar explizit aufgefordert, entsprechende Prüfroutinen zu etablieren. Den Fehlverhaltensstellen sollte es daher erlaubt werden, den Stand der Technik zu nutzen. Dies würde die derzeit bekannten Techniken wie zum Beispiel Data Mining, Process Mining und Text Mining umfassen. Mittels KI-gestützter Systeme sollen so aus kassenübergreifend zusammengeführten Datenbeständen (zum Beispiel Abrechnungsdaten) Muster analysiert werden, die auf Fehlverhalten im Gesundheitswesen hindeuten.

Grafik: Höchste Rückforderung aus Fehlverhalten im Pflegebereich: Balkendiagramm mit gesicherten Forderungen nach Leistungsbereichen in Millionen Euro

Der Schwerpunkt der durch die „Stellen zur Bekämpfung von Fehlverhalten“ bei der AOK gesicherten Forderungen lag auch im Berichtszeitraum 2020/2021 im Bereich der häuslichen Krankenpflege (HKP) und bei den Pflegeleistungen nach Sozialgesetzbuch XI. Hier konnten die Ermittelnden rund 11,2 Millionen Euro zurückfordern.
 
Quelle: AOK-Bundesverband, Fehlverhaltensbericht 2020/2021

Erkenntnisse des Bundeskriminalamtes über den bundesweit organisierten Abrechnungsbetrug durch Pflegedienste haben aufgezeigt, dass zur effektiven Verhinderung von Fehlverhalten der Aufbau einer organisationsübergreifenden GKV-Betrugspräventions-Datenbank erforderlich ist. Deshalb setzen sich die AOKs dafür ein, für den Austausch von personenbezogenen Daten im Rahmen der Fehlverhaltensbekämpfung auch Datenbanken zuzulassen, die von Dritten betrieben werden.

Kosten und Nutzen analysieren.

Mit Wirkung zum 1. Januar 2017 hat der Gesetzgeber den Begriff des „verhinderten Schadens“ in Paragraf 197 SGB V eingeführt. Gemäß der Gesetzesbegründung soll bei der Bezifferung des verhinderten Schadens der Gesamtschaden aufgeführt werden, „der durch Prüfungen der Kranken- und Pflegeversicherungen vermieden werden konnte“. Um die Fehlverhaltensbekämpfung im Gesundheitswesen einer Kosten-Nutzen-Analyse unterziehen zu können, ist der verhinderte Schaden (neben den gesicherten Forderungen und dem entstandenen Schaden) eine unverzichtbare Kennzahl. Das Gesamt-Ausmaß des Fehlverhaltens im Gesundheitswesen ist bisher noch immer weitgehend unklar. Nur mit der Bezifferung des verhinderten Schadens ließe sich Transparenz in der Betrugs- und Missbrauchserkennung herstellen.
 
In der Kosten-Nutzen-Analyse ist unter dem „Nutzen“ die Schadenshöhe zu verstehen, die durch Prüfung, Aufklärung, Abschreckung und Prävention verhindert werden kann. Um den Nutzen zu berechnen, müssen eine Schätzung des entstandenen (gesellschaftlichen) Schadens sowie eine relative Gewichtung des Dunkelfeldes und der unterschiedlichen Fälle erfolgen. Auf der Kostenseite stehen die Prüfungen durch die Stellen zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen bei den Krankenkassen und die externen Ermittlungen, beispielsweise durch Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte, aber auch durch die Medizinischen Dienste.

Begleitforschung zum verhinderten Schaden steht aus.

Der GKV-Spitzenverband hat das Bundesgesundheitsministerium bereits Ende des Jahres 2017 aufgefordert, eine wissenschaftliche Begleitforschung für die Entwicklung einer belastbaren Methode zur Bezifferung des verhinderten Schadens in Auftrag zu geben. Dies ist bislang nicht geschehen. Laut GKV-Spitzenverband ist die projektbezogene Durchführung einer systematischen Kosten-Nutzen-Analyse zur Betrugsprävention im Gesundheitswesen jedoch unverzichtbar, um den gesetzlichen Auftrag der Bezifferung des verhinderten Schadens gemäß Paragraf 197a Absatz 5 SGB V erfüllen zu können.

Porträt von Jürgen Mosler, Rechtsanwalt

„Ermittelnde brauchen Verhandlungsstärke“

Dr. Jürgen Mosler, Rechtsanwalt, leitet den Fachbereich Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen bei der AOK NordWest. Im G+G-Interview spricht er über nötige Kompetenzen von Ermittelnden und kriminelle Energie im Gesundheitswesen.

Zur Orientierung kann ein Blick nach Großbritannien dienen. Dort wurde, um Betrug aufzudecken und entgegenwirken zu können, der verhinderte Schaden (prevented fraud) 2014 definiert. Die Definition geht über die in Deutschland hinaus. Sie sieht auch vor, den verhinderten Schaden anhand der Leistung der Betrugsprävention der jeweiligen öffentlichen Verwaltung zu schätzen. Im jährlich erscheinenden „Cross-Government Fraud Landscape Annual Report“ des Counter Fraud Centre of Expertise informiert die britische Regierung insbesondere über die Betrugsstatistik der öffentlichen Verwaltungen in Großbritannien. In den Berichten wird auch der verhinderte Schaden beziffert. Bei seiner Erfassung fließen ein: alle Betrugsfälle, die durch konkrete Präventionsprozesse verhindert wurden und als Betrugsschaden beziffert werden; Transaktionen, die vor der potenziellen Auszahlung bereits als Betrug identifiziert wurden; laufende Serien von ungerechtfertigten Zahlungen, die gestoppt werden konnten. Eine Berechnung des prevented fraud kann auch auf einem aufgedeckten Betrugsfall basieren, wenn davon auszugehen ist, dass er unentdeckt in den nachfolgenden Perioden zu weiteren Schäden geführt hätte.

Britische Behörde legt Standards fest.

Im November 2017 wurde innerhalb des National Health Service (NHS), dem staatlichen Gesundheitssystem in Großbritannien, die NHS Counter Fraud Authority (NHSCFA) gegründet. Ihre Aufgabe ist die Bekämpfung von Betrug, Bestechung und Korruption im NHS. Die Behörde legt Standards für die Betrugsbekämpfung fest, bewertet die Leistung der NHS-Einrichtungen anhand dieser Standards, der engen Zusammenarbeit mit anderen NHS-Einrichtungen sowie mit der Messung des verhinderten Schadens. Im Business-Plan der NHSCFA für die Jahre 2019/20 ist verankert, dass die Messung des verhinderten Schadens im NHS durch die Erstellung statistisch zuverlässiger Methoden erfolgen soll. Die NHSCFA legt in ihrem Businessplan finanzielle Ziele für den kommenden Berichtszeitraum fest. Für ausgewählte Leistungsbereiche soll über den verhinderten Schaden berichtet werden. Die Ergebnisse werden im Rahmen einer Betrugsstatistik veröffentlicht. Die NHSCFA kann also den Wert des verhinderten Schadens als Ergebnis ihrer Ermittlungstätigkeiten beziffern. Für die Berechnung wird eine einheitliche Methodik genutzt, sodass eine effektive Erfassung und Aufzeichnung des verhinderten Schadens über den gesamten NHS sichergestellt ist. Im Jahr 2020 betrug die Höhe des verhinderten Schadens mit 100 Millionen Pfund (rund 115 Millionen Euro) im NHS nahezu das Zehnfache der gesicherten Rückforderungen.

Systematisches Fehlverhalten aufdecken.

Sozialversicherungen und Gesundheitssysteme benötigen einen Prüfungsansatz, um systematische Fehlverhaltensmuster aufzudecken. Dieser bildet auch die Basis, das Ausmaß des Betrugs zu erfassen und um durch Echtzeitprüfungen unberechtigte Auszahlungen zu vermeiden. Bisher können die Krankenkassen in Deutschland jedoch keine fortgeschrittenen Analysemethoden zur Aufdeckung komplexer Fehlverhaltensmuster anwenden. Weiterreichende statistische Methoden wie Regressions- oder Clusteranalysen zur Entdeckung von Ähnlichkeitsstrukturen in Datenbeständen kommen vor allem in mehr datenbasierten Gesundheitsmärkten (wie beispielsweise in den USA und in den Niederlanden) zur Anwendung. In den USA sind die Kostenträger verpflichtet, auf modernen statistischen Verfahren beruhende Expertensysteme zur Aufdeckung und zur Verhinderung von Verschwendung, Betrug und Missbrauch zu implementieren und zu nutzen.

Wegen des aktuell anhaltenden Anstiegs von Betrug und Missbrauch sowie der medizinischen Kosten in den Gesundheitsmärkten muss die Schadensentwicklung anhand der Schadenshistorie und weiterer aktueller Faktoren berechnet und damit vorhergesagt werden. Aus diesem Grund sind die verschiedenen Kosten-Vorhersage-Szenarien aufzuzeigen und zu diskutieren. Solche Extrapolationen bilden auch die Basis für eine Berechnung des verhinderten Schadens, da bei entsprechendem Leistungsmanagement der Anstieg unkorrekter und ungerechtfertigter medizinischer, pflegerischer und weiterer Kosten abgebremst werden könnte. Daher ist der Kostenanstieg, der durch betrügerisches Verhalten ohne adäquates Schadensmanagement entstanden wäre, auch Teil des verhinderten Schadens. Ebenso notwendig ist es, rechnerisch nachzuweisen, dass die Kosten der Betrugsaufdeckung über den Zeitablauf deutlich geringer sind als der verhinderte Schaden.

Verhalten lässt sich steuern.

Um Versorgungsdefiziten und Ressourcenknappheit im deutschen Gesundheitswesen vorzubeugen, sind insbesondere auf Betrug und Missbrauch basierte Leistungen zu vermeiden. Gesundheitsökonomische und juristische Literatur zeigt auf, dass in internationalen Märkten nicht nur die Maßzahl „entstandener Schaden“, sondern auch die Maßzahl „verhinderter Schaden“ eruiert werden. Mithilfe dieser Kennzahlen sollen nicht nur das Ausmaß von Betrug und Verschwendung aufgezeigt werden, sondern auch die Potenziale und Erfolge der Schadensaufdeckung und -verhinderung. Dafür ist eine auf einer standardisierten Definition von Betrug und Missbrauch basierte Datenerhebung notwendig, um Maßnahmen zur strategischen und operativen Fehlverhaltensbekämpfung umzusetzen.

  • GKV-Spitzenverband: Tätigkeitsbericht Fehlverhaltensbekämpfung 2018/2019. Download – der Bericht 2020/21 wird voraussichtlich im 1. Quartal 2023 veröffentlicht
  • AOK-Bundesverband: Bericht über die Arbeit und die Ergebnisse der Stellen zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen. Berichtszeitraum 2020/2021. Berlin, Dezember 2022. Download
  • Bundeskriminalamt Wiesbaden: Bundeslagebild Korruption. August 2022.
  • Franz Benstetter, Dominik Schirmer: Die ökonomische Dimension von Betrug und Missbrauch in der gesetzlichen Krankenversicherung und die Bedeutung des „verhinderten Schadens“. In: Maik Ebersoll, Roman Grinblat, Marina Hanke-Ebersoll, Thorsten Junkermann (Hrsg.): Das Gesundheitswesen und seine volkswirtschaftliche Bedeutung. Wiesbaden, Springer Gabler, 2022.

Aus den Erfolgen der in anderen Gesundheitsmärkten eingeführten Aufdeckungstools lässt sich für das deutsche Gesundheitssystem ableiten, dass sowohl das Verhalten der Leistungserbringer als auch das der Versicherten gesteuert werden kann. Damit die Anreize wirken, sind regelmäßige und ausführliche öffentliche Berichte über das Ausmaß von Betrug und Missbrauch anzufertigen. Neben den bereits implementierten Berichten über andere Kennzahlen ist auch die des verhinderten Schadens zu vereinheitlichen und zu standardisieren.

Das Dunkelfeld erhellen.

Aus diesem Grund ist es sinnvoll, sich an Beispielen wie dem aus Großbritannien zu orientieren und Möglichkeiten aufzuzeigen, wie sich in Deutschland Betrug und Missbrauch besser erfassen, bekämpfen und vermeiden lassen. Erste pragmatische Berechnungsansätze für Deutschland zeigen die Notwendigkeit auf, sowohl tiefer in die Berechnung des verhinderten Schadens als auch in moderne statistische Methoden zur Aufdeckung von systematischem Betrug und Missbrauch einzusteigen. Zusätzlich sind die gesetzlichen und ressourcenbasierten Möglichkeiten der Schadensprüfung und Missbrauchsaufdeckung auszubauen. Ebenso zeigen Fallbeispiele in Großbritannien, dass für eine erfolgreiche Fehlverhaltensbekämpfung eine zentrale Koordination und fachlich hochqualifizierte Mitarbeitende unverzichtbar sind. Ihnen müssen moderne Informationstechnik sowie die entsprechenden Methoden und Instrumente für eine umfassende Informationsanalytik zur Verfügung stehen.

Das hat auch der GKV-Spitzenverband erkannt. Die „Berliner Sicherheitsgespräche“ des Bundes Deutscher Kriminalbeamter fanden 2022 in Kooperation mit dem GKV-Spitzenverband unter dem Motto „Tatort Gesundheitswesen! Ein Milliardenbetrug?“ statt. Auf der Veranstaltung bekräftigte Gernot Kiefer, stellvertretender Vorstandsvorsitzender des GKV-Spitzenverbandes, dass es eine kriminologische Dunkelfeldforschung brauche. Kiefer erläuterte, dass die Zahl der entdeckten Missbräuche sich bis 2021 verdreifacht habe und der GKV ein hoher zweistelliger Millionenbetrag an Schaden entstehe. Kiefer führte weiter aus, dass die Dunkelziffer zu Fallzahlen und Umfang der Schäden hoch sein dürfte: International gehe man von einem Betrug in Höhe von fünf bis zehn Prozent der Gesamtausgaben aus. Das entspreche in Deutschland einem zweistelligen Milliardenbetrag – etwa die Höhe des erwarteten GKV-Defizits. Daher solle die Bundesregierung Dunkelfeldstudien auflegen. Empirie, so Kiefer abschließend, könne helfen, die Bekämpfung von Fehlverhalten zu verbessern.

Dominik Schirmer, MHBA, ist Beauftragter zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen und Bereichsleiter Verbraucherschutz der AOK Bayern.
Britta Sielaff, B.A., ist Werkstudentin in der Stelle zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen der AOK Bayern.
Patrick Sievert, Diplom-Verwaltungswissenschaftler, leitet die Koordinierungsstelle Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen beim AOK-Bundesverband.
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