Gelassenheit trotz Brexit-Chaos
Pharmaverbände warnen vor Medikamenten-Engpässen durch einen ungeregelten Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union. Was Deutschland angeht, bleibt das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte entspannt. Von Thomas Rottschäfer
Nach der Ablehnung
des Austrittabkommens mit der Europäischen Union (EU) durch das britische Parlament Mitte Januar haben die deutschen Pharmaverbände erneut vor den Folgen eines ungeordneten Brexits gewarnt. Ohne Übergangsphase oder Regelungen für die komplexen Lieferketten für Medikamente könne die Arzneimittelversorgung im Vereinigten Königreich und in der EU empfindlich gestört werden.
Schwarzmalerei übertrieben.
Mit Blick auf die Zulassungen hält AOK-Europaexperte Evert Jan van Lente das Krisenszenario für übertrieben. Bei fast allen neueren Zulassungen handele es sich um Genehmigungen durch die Europäische Arzneimittelagentur EMA. „Die Unternehmen dürften auch für die meisten Produkte mit einer älteren britischen Zulassung längst die EU-Zulassung besitzen“, so van Lente. „Es gebe vermutlich nur noch ganz wenige umsatzschwache Medikamente, die ausschließlich eine britische Zulassung haben und deshalb bei einem harten Brexit nicht mehr in der EU verkauft werden dürften.“
Nach Zahlen des Verbandes Forschender Arzneimittelhersteller (vfa) werden jährlich rund eine Milliarde Arzneimittelpackungen zwischen Großbritannien und den übrigen EU-Staaten gehandelt. Von möglichen Engpässen durch Importbeschränkungen und Zölle wären auch aus vfa-Sicht in erster Linie Patienten in Großbritannien betroffen. Das sieht die britische Regierung ebenso. Gesundheitsminister Matt Hancock hat die Pharmaunternehmen des Landes bereits im Sommer 2018 aufgefordert, als Teil des „No-Deal“-Notfallplans Arzneimittel-Vorräte für sechs Wochen anzulegen. Im Dezember hat er diesen Appell noch einmal wiederholt.
Kein Engpass bei der Arzneiversorgung.
Für Deutschland hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) die möglichen Risiken analysiert. „Die Auswertung ergab, dass mit keinem Versorgungsengpass bei den als versorgungsrelevant eingestuften Arzneimitteln zu rechnen ist“, sagte BfArM-Sprecher Maik Pommer auf G+G-Anfrage. Als versorgungsrelevant gilt eine von der Bundesbehörde geführte Liste von Wirkstoffen. Sie basiert auf Vorschlägen der medizinischen Fachgesellschaften und der Weltgesundheitsorganisation und wird regelmäßig aktualisiert.
Die Bundesregierung hat Mitte Dezember mehrere Gesetzentwürfe mit Übergangsregelungen für den Fall eines ungeregelten EU-Austritts Großbritanniens gebracht. Dazu gehören auch Regelungen, durch die betroffene Bürgerinnen und Bürger in der EU und in Großbritannien bis zu einer endgültigen Regelung weiterhin Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen können.
Über die Auswirkungen des Brexit auf die Kranken- und Pflegeversicherung im zwischenstaatlichen Recht informiert ausführlich das Bundesgesundheitsministerium.
Pommer verweist zudem auf die Verantwortung der Wirtschaft: „Das BfArM hat die pharmazeutische Industrie seit Beginn der Brexit-Planungen wiederholt mit Nachdruck aufgefordert, ihre Hausaufgaben zu machen und rasch zu handeln, wenn Unternehmen neue Zulassungen oder ein neues verfahrensführendes Land benötigen, um einen Übernahmestau kurz vor Inkrafttreten des Brexit zu vermeiden.“
Standortwechsel läuft wie geplant.
Das BfArM selbst ist als größte nationale Zulassungsbehörde intensiv in den Umzug der EMA von London nach Amsterdam eingebunden. Inmitten des Brexit-Chaos verläuft der Standortwechsel vergleichsweise planmäßig. Rund 650 Mitarbeiter ziehen mit ihren Familien in die Niederlande. Am 9. Januar wurde der vorläufige Sitz in Amsterdam eröffnet, der Neubau im Finanzzentrum soll im November bezugsfertig sein.
„Der Brexit darf nicht dazu führen, dass neue Arzneimittel später verfügbar werden oder Risiken von bereits zugelassenen Arzneimitteln weniger engagiert angegangen werden“, betont Pommer. Das BfArM habe inzwischen rund ein Viertel aller Fälle übernommen, die zuvor von der britischen Zulassungsbehörde MHRA bearbeitet wurden. Für diese und weitere zusätzliche Aufgaben rund um die Folgen des Brexit hat das Institut bisher 21 neue Stellen geschaffen.