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Prävention
Digitalisierung fordert Betriebe
Die Digitalisierung verändert unsere Arbeitswelt. Manche heutigen Berufe dürften bald vor dem Aus stehen. Zum Beispiel Fachkräfte in der Automobilfertigung. In vollautomatisierten Fabriken steuern vernetzte Maschinen die Produktion. Selbst für die Übergabe des Neuwagens braucht es keinen Menschen mehr, denn dies kann längst per App erfolgen. Die Beschäftigten von Morgen werden seltener am Arbeitsplatz sein, dafür mobiler, flexibler und vernetzter. Sie werden häufiger autonom entscheiden und seltener mit ihren Chefs persönliche Gespräche führen. Wie sollte sich das Betriebliche Gesundheitsmanagement (BGM) angesichts der fortschreitenden Digitalisierung verändern? Antworten darauf geben rund 70 Fachautoren. Sie zeichnen ein umfassendes Bild von den Stärken und Schwächen des BGM und eröffnen zugleich Zukunftsperspektiven für Management, Forschung und Praxis. BGM 4.0 wird definiert als „strategischer Ansatz“, um die Leistungsfähigkeit der Unternehmen zu erhalten und zugleich die Herausforderungen der Digitalisierung zu meistern. Smartphone, App, Onlinetools bieten auch Chancen: Die Beschäftigten können passgenauer erreicht, umfassender informiert und fortlaufend beteiligt werden, wenn BGM am Arbeitsplatz zum Thema wird und entsprechende Interventionen umgesetzt werden sollen.
David Matusiewicz, Volker Nürnberg, Stephanie Nobis: Gesundheit und Arbeit 4.0. 2018. 495 Seiten. 79,99 Euro. medhochzwei Verlag, Heidelberg.
Medizinbetrieb
Klinikabläufe kritisch hinterfragt
Victoria Sweets Diagnose ist hart: Patientinnen und Patienten werden in Krankenhäusern zwar qualitätsgesichert versorgt, aber zuweilen an ihren Leiden vorbei behandelt. Die Ursachen für die Fehlleistungen liegen in den Strukturen, die das stationäre Umfeld prägen. Patienten werden in Datensätzen erfasst und ausgewertet. Eine eingegebene Fehldiagnose ist in manchen Fällen nicht mehr zu korrigieren. Die US-amerikanische Medizinerin Victoria Sweet hat es selbst erlebt. Als ihr Vater nach einem Krampfanfall in eine Klinik eingeliefert wird, diagnostizieren die Ärzte einen drohenden Schlaganfall und behandeln ihn fortan entsprechend. Sie fixieren den Patienten, schließen einen Katheter an, wollen ihn per Magensonde ernähren. Sie kann die Ärzte nicht für eine alternative Ursachenforschung gewinnen. Die Familie meldet den Vater bei einem Hospizdienst an, um ihn aus der Klinik zu holen. Zuhause erholt er sich bald, die Hilfe wird nicht mehr gebraucht. Sweet kritisiert ein medizinisches Verständnis, das den Körper als Ansammlung von Computern definiert und Heilung als Suche nach einem fehlerhaften Code versteht. Medizin brauche nicht nur Mechaniker, die ihr Handwerk kennen, oder Wissenschaftler, die Zahlen deuten können, sondern auch Gärtner, die das Geschehen reflektieren: „Was hindert die Selbstheilungskraft des Patienten daran, sich zu entfalten?“
Victoria Sweet: Slow Medicine. Medizin mit Seele. 2019. 384 Seiten. 24 Euro. Verlag Herder, München.
Gesundheitsverständnis
Reflexionen über Public Health
Die Bremer Soziologen Thomas Hehlmann, Henning Schmidt-Semisch und Friedrich Schorb fragen kritisch nach: Sind Interventionen und Programme gegen gesundheitliche Ungleichheit sinnvoll in einer kapitalistischen Gesellschaft, die auf soziale Ungleichheit angelegt ist und diese als „unhintergehbares und auch gewolltes Phänomen“ hinnimmt? Das Professoren-Trio empfiehlt den Public-Health-Experten, sich in ihren Konzepten und ihrem Tun grundsätzlich hinterfragen zu lassen. Der von ihnen entwickelte Ansatz einer „Soziologie der Gesundheit“ bietet sich dazu als Reflexionswissenschaft an. Neben der Verquickung von sozialer Ungleichheit und Kapitalismus stellen sie auch das Gesundheitsverständnis auf den Prüfstand. Geht es dabei wirklich um ein „höchstes Gut“ in der Gesellschaft oder ist das Interesse an Wirtschaftlichkeit oder Sicherheit nicht deutlich ausgeprägter? Kann es ein allumfassendes Verständnis von Gesundheit als Basis für die Werte einer Gesellschaft überhaupt geben? Nein, sagen die Soziologen. Denn dahinter stehen immer verschiedene Interessen und gesellschaftliche Aushandlungsprozesse. Die Akteure würden zwar den Begriff „Gesundheit“ verwenden, hätten aber keine gemeinsame Vorstellung davon, was dieser bezeichnen soll.
Thomas Hehlmann, Henning Schmidt-Semisch, Friedrich Schorb: Soziologie der Gesundheit. 2018. 288 Seiten. 27,99 Euro. UVK Verlag, München.
Autismus
Rückzug wegen Reizüberflutung
Als Kai auf die Welt kommt, gilt er bei den Eltern und Freunden als „besonderer Junge“. Vom ersten Lebenstag an gibt Kai Rätsel auf, weil er sich anders verhält als die Gleichaltrigen. So läuft er beispielsweise schon als Kleinkind freundlich auf Fremde zu, hat kaum Ängste, unternimmt waghalsige Abenteuer und liebt es, nonverbal Kontakt mit anderen aufzunehmen. Die Eltern rätseln und suchen weltweit unterschiedliche Ärzte auf. Eine erste Diagnose lautet ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung), eine spätere deutet das Verhalten als Autismus. Die Eltern können das nicht glauben. Sie sorgen sich weiter, bis schließlich die Ehe daran zerbricht. Der Vater von Kai, Henry Markram, ist verzweifelt. Der weltbekannte Hirnforscher hatte Forschungsaufenthalte in Heidelberg, Lausanne, Israel und in den USA und kann seinem eigenen Sohn nicht helfen. Mit seiner zweiten Frau Kamila, ebenfalls eine Wissenschaftlerin, steigt er in die Ursachenforschung ein. Schließlich kommen sie zu dem Schluss, dass Autismus bislang völlig fehlgedeutet wurde. Autismus ist nicht die Folge eines Defizits im Gehirn, sondern eine Reaktion auf die vielen Umweltreize. Kai zieht sich nicht aus Mangel an Empathie zurück, sondern weil er zu viel wahrnimmt und fühlt.
Lorenz Wagner: Der Junge, der zu viel fühlte. 2018. 216 Seiten. 18,90 Euro. Europa Verlag, München.