Wege zu mehr Patientensicherheit
Seit mehr als zwanzig Jahren diskutieren Experten und Öffentlichkeit in Deutschland über die Patientensicherheit. Aber noch zu selten nutzen Kliniken und Praxen die Möglichkeit, aus Fehlern systematisch zu lernen, meinen PD Dr. Max Skorning und Dr. Stefan Gronemeyer. Sie empfehlen, das Potenzial von Meldesystemen stärker zu nutzen.
Fehler passieren überall, wo Menschen arbeiten, auch und gerade in sensiblen Bereichen wie dem Gesundheitswesen. Eine falsche Diagnose, nicht weitergeleitete Befunde, eine nicht korrekte Medikamentengabe oder eine Seitenverwechslung bei Operationen – das sind nur einige wenige Beispiele dafür, was in der Medizin schiefgehen kann. Im Gesundheitswesen ist derzeit das Thema Qualität in aller Munde. Die Sicherheit erscheint dabei oft eher als Anhängsel. Dennoch: „Sicherheit geht vor“, so lautet eine allgemeine Maxime, deren Gültigkeit auch für das Gesundheitswesen wohl kaum jemand abstreiten würde. Doch trifft diese Priorisierung auf die Patientensicherheit in Deutschland zu? Geht eine hohe Versorgungsqualität automatisch mit einer ausgeprägten Patientensicherheit einher? Schon die unterschiedlichen verwendeten Begriffe Schaden, Fehler oder unerwünschtes Ereignis können schnell zu Missverständnissen führen (siehe Glossar). Wissen wir, wo die größten Risiken liegen und wie sich die Patientensicherheit tatsächlich entwickelt?
Sicherer Umgang mit bekannten Risiken.
Der Begriff „Patientensicherheit“ ist spätestens seit der Gründung des Aktionsbündnisses Patientensicherheit (APS) im Jahr 2005 auch in Deutschland fest etabliert. International hatte das Thema bereits zuvor für Furore gesorgt, seit das US-amerikanische Institute of Medicine 1999 seinen Bericht „To Err Is Human“ („Irren ist menschlich“) veröffentlicht hatte. Er stellte klar, dass nicht ausschließlich neue Methoden, Arzneimittel und Technologien für eine Verbesserung der medizinischen Versorgung erforderlich sind, sondern vor allem der sichere Umgang mit längst Bekanntem.
- National Reporting and Learning System (NRLS), freiwilliges Fehlermeldesystem in Großbritannien
- Strategic Executive Information System (StEIS), verpflichtendes britisches Fehlermeldesystem
- „Safety Thermometer“, britisches Verzeichnis häufiger Behandlungsschäden
- AHRQ National Scorecard on Hospital-Acquired Conditions, US-amerikanisches Verzeichnis häufiger Behandlungsschäden
- Adverse Health Events, Department of Health, Fehlermeldesystem im US-Bundesstaat Minnesota
- Slowomirski Luke, Auraaen Ane, Klazinga Niek (2017): The Economics of Patient Safety. Strengthening a value-based approach to reducing patient harm at national level.
Bislang unterschätzte Risiken von vermeidbaren, da fehlerbedingten Schäden durch die Behandlung rückten in den Blick. Der Bericht „To Err Is Human“ legte gewissermaßen den Unterschied zwischen Theorie und Praxis der Patientensicherheit offen. Die Wissenschaftler zeigten darin auf, dass allein in den USA die Zahl der vermeidbaren Todesfälle pro Jahr bei knapp 100.000 liegen könnte. Und es gab keinen Grund anzunehmen, dass andere Gesundheitssysteme in entwickelten Ländern hier wesentlich besser abschnitten.
Fehler vermeiden, Schäden vorbeugen.
Als zentrale Erkenntnis gilt seitdem, dass es nicht einzelne Personen sind, die als Schuldige zur Patientengefährdung führen, sondern unsichere Prozesse, gerade auch bei der interdisziplinären, interprofessionellen und sektorenübergreifenden Zusammenarbeit. Ein Fehler als Grundlage für ein Risiko, das sich in einem Schaden verwirklichen kann, liegt zumeist nicht in einer Person bedingt, sondern in einem Prozess, der ungenügend abgesichert ist. Weil Menschen eben irren und individuelle Fehler machen, müssen diese bei der Gestaltung von Versorgungsprozessen antizipiert werden. Dann besteht einerseits der naheliegende Anspruch, diese Fehler möglichst zu vermeiden oder zu reduzieren. Andererseits müssen Sicherheitsvorkehrungen die Wahrscheinlichkeit minimieren, dass nach wie vor auftretende Fehler von Einzelnen tatsächlich zu einem Schaden führen können. Wenn das gelingt, spricht man von einem resilienten (widerstandsfähigen) System.
Eine weitere zentrale Erkenntnis war und ist daher, dass aus Fehlern gelernt werden muss – und zwar sowohl dann, wenn Patienten zu Schaden gekommen sind, als auch dann, wenn ein Fehler folgenlos geblieben ist. Denn: Man kann nur verbessern, wovon man auch weiß. Voraussetzung dafür ist eine Sicherheitskultur und -architektur, in der Fehler und Schäden offen angesprochen und regelhaft gemeldet werden. Schon die Autoren von „To Err Is Human“ haben deshalb zwei Arten von Meldesystemen empfohlen:
- verpflichtende Meldesysteme, in denen erkannte Fälle mit fehlerbedingten schweren Schäden oder Todesfolge verbindlich zu erfassen sind, und
- freiwillige Meldesysteme, in denen jegliche sicherheitsgefährdenden Ereignisse anonym, niederschwellig und sanktionsfrei gemeldet werden sollen – unabhängig davon, ob ein Schaden entstanden ist oder genannt wird. Diese Systeme werden auch als (Critical) Incident Reporting Systems (CIRS/IRS), „Lern- und Berichtssystem“ oder „Fehlermeldesysteme“ bezeichnet.
Die Patientensicherheit hängt maßgeblich davon ab, dass der Faktor Mensch nicht primär als Schuldiger gesehen, sondern als fehleranfälliges System akzeptiert wird, bei dem es als Sicherheitsmaßnahme eben nicht ausreicht, ihm „einzutrichtern“, dass dieser Fehler nie beziehungsweise nie wieder passieren dürfe. Stattdessen müssen aufgetretene Fehler erkannt, analysiert und transparent gemacht werden, damit sie in Maßnahmen zur Schadenprävention münden, die auf systemischer oder lokaler Ebene in einem Versorgungsprozess ansetzen. Bei einer systematischen Fehlervermeidung steht deshalb nicht das Lernen aus eigenen Fehlern im Fokus, sondern vor allem das Lernen aus Fehlern, die anderen unterlaufen sind. Es versteht sich von selbst, dass vermeidbare Ereignisse, die zu schwerwiegenden Schäden und Todesfällen geführt haben, beim Lernen aus Fehlern oberste Priorität haben müssen.
Weiter große Defizite bei den Kernpunkten.
Seit „To Err is Human“ wurde auch in Deutschland auf dem Gebiet der Patientensicherheit fraglos vieles angestoßen. Das Aktionsbündnis Patientensicherheit veröffentlichte im Jahr 2008 die bis heute viel beachtete Publikation „Aus Fehlern lernen“. Vielen Experten erscheinen diese Inhalte inzwischen als alter Hut, ebenso wie die Vergleiche mit der häufig als Vorbild herangezogenen Luftfahrt, in der zahlreiche Elemente einer Sicherheitskultur seit Jahrzehnten fest etabliert sind. Doch diese Elemente finden in der Medizin entweder noch keine breite Anwendung oder stecken hinsichtlich der Umsetzung in den Kinderschuhen. Dazu gehören beispielsweise Simulationstrainings oder Checklisten für Notfallsituationen. Deshalb brauchen wir nicht in erster Linie andere, komplexere Ansätze für das Verständnis und die Verbesserung der Patientensicherheit als vor 15 oder 20 Jahren. Vielmehr geht es darum, die in der Breite der Versorgung weiterhin bestehenden großen Defizite bei zwei Kernpunkten der Patientensicherheit zu beseitigen, nämlich beim Lernen aus Fehlern und Schäden über Meldesysteme auf der einen und dem Messen des Erfolges anhand von Schäden auf der anderen Seite.
Jeder Fehler bedeutet ein Risiko, denn jeder Fehler kann einen Schaden verursachen.
Auch wenn für Krankenhäuser, die an einrichtungsübergreifenden Fehlermeldesystemen teilnehmen, Zuschläge bereitstehen, sind wir von einer selbstverständlichen und ausgiebigen Nutzung solcher Systeme nach wie vor weit entfernt.
Das spiegelt sich in den Nutzungszahlen wider, wie das Beispiel von CIRSmedical.de, dem größten einrichtungsübergreifenden Fehlermeldesystem in Deutschland, zeigt: In den zehn Jahren, seit dieses System zur Verfügung steht, wurden (Stand: Ende März 2019) gut 6.200 Fälle eingegeben und veröffentlicht – bei 2.000 Krankenhäusern und 100.000 Arztpraxen in Deutschland. Zwei Drittel aller Fälle stammen aus der Anästhesiologie, vier aus der Augenheilkunde, etwas über 40 aus der Neurologie. Im selben Zeitraum gab es in Deutschland mehrere Millionen Operationen am Grauen Star und Schlaganfälle. Bei aller Anerkennung für die Anstrengungen – die im Vergleich dazu sehr geringen Zahlen der gemeldeten Fälle lassen weder auf eine breit etablierte Sicherheitskultur noch auf einen selbstverständlichen Umgang mit Fehlern schließen.
Ohne Datenbasis keine Verbesserungen.
Verpflichtende Meldesysteme zu Schadensfällen existieren in Deutschland nicht. Das bedeutet: Aus vermeidbaren Schäden kann nicht umfassend gelernt werden; ihre Anzahl, Art und die zeitliche Entwicklung bleiben unbekannt. Das führt dazu, dass auch das ebenfalls fundamental wichtige Feedback zu den Punkten unterbleibt, an denen möglicherweise mit großem Erfolg Verbesserungen umgesetzt worden sind. Weder der Frage nach dem Status Quo zu vermeidbaren Todesfällen noch zu weiteren folgenschweren, aber vermeidbaren unerwünschten Ereignissen hat man sich auf systemischer Ebene im Gesundheitswesen bisher intensiv gewidmet. Kritische Fragen in diese Richtung sind bis heute eher dazu geeignet, auch unter Fachleuten die Gemüter zu erhitzen. Wie der Stand der Patientensicherheit in Deutschland wirklich ist und wie er sich in den letzten Jahren entwickelt hat, dazu bestehen vor allem Ansprüche und Überzeugungen. Auf der Ebene wissenschaftlich belastbarer Zahlen, Daten und Fakten gibt es bestenfalls Hinweise, aber keine Nachweise. An vielen Stellen der Versorgung fehlt damit sowohl zur Positionsbestimmung als auch zur Frage der Priorisierung von Sicherheitsmaßnahmen und zum Erfolg derselben schlicht die Faktenbasis – ganz im Gegensatz zu Todesfällen im Straßenverkehr oder durch Arbeitsunfälle, die vollständig erfasst werden und in den vergangenen Jahren mit großem Erfolg verringert werden konnten.
Statistik enthält Lücken.
Viele Fragen zur Patientensicherheit können nicht auf Basis vorhandener Daten beantwortet werden, zum Beispiel: Was sind die häufigsten Meldungen in Fehlermeldesystemen? Welche Sicherheitsmaßnahmen hätten daher höchste Priorität? Welche Fehler führen am häufigsten zu schwerwiegenden Schäden? Welche (dieser) Fehler und der resultierenden Schäden wurden wirksam reduziert? Welche vermeidbaren unerwünschten Ereignisse zeigen den stärksten Rückgang, eine Stagnation oder eine Zunahme? Wie viele und welche Schadensfälle wurden entschädigt? In Deutschland legen lediglich die Ärztekammern und die Medizinischen Dienste der Krankenversicherung (MDK/MDS) Daten über Behandlungsfehler vor. Diese Zahlen sind jedoch keine Behandlungsfehlerstatistiken in dem Sinne, dass mit ihrer Hilfe vollständige oder repräsentative Erkenntnisse über die Art und Zahl aller tatsächlichen oder auch nur aller von Patienten vorgeworfenen Behandlungsfehler erfasst und Aussagen über die Patientensicherheit abgeleitet werden könnten. Die Statistiken spiegeln lediglich wider, wie häufig Patientinnen und Patienten das Beratungs- und Unterstützungsangebot der jeweiligen Institution in Anspruch genommen haben.
- Der AOK-Bundesverband gehörte 2005 zu den Gründungsmitgliedern des Aktionsbündnisses Patientensicherheit.
- Spezialisierte Service-Teams der AOK unterstützen Versicherte vom Melden eines Behandlungsfehler-Verdachts bis zu dessen Klärung. Hilfreich ist auch die 2016 veröffentlichte Faktenbox Behandlungsfehler.
- Der AOK-Bundesverband hat an der Publikation der viel beachteten Broschüren „Aus Fehlern lernen“ (2008), „Reden ist Gold“ (2012) und „Fehler als Chance“ (2014) mitgewirkt.
- 2014 erschien der Krankenhaus-Report des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) unter dem Titel „Wege zu mehr Patientensicherheit“.
- Der von AOK-Bundesverband, Ärztekammer Berlin und AOK Nordost gemeinsam verliehene Berliner Gesundheitspreis widmete sich bereits 2002 dem Thema „Fehlervermeidung in Medizin und Pflege“.
- Die AOK hat die Erprobung eines Fehlermeldesystems in zwölf Kinderkliniken finanziert, sich an einer Infokampagne gegen Verwechslungen bei Operationen beteiligt und das Trainingsprogramm Simparteam für mehr Patientensicherheit im Kreißsaal mitentwickelt.
Zusammenstellung: G+G-Redaktion
Es fehlen sämtliche Fälle, die nicht gemeldet wurden, die nur zwischen Leistungserbringer und Betroffenen (mit oder ohne Beteiligung der Haftpflichtversicherung) entschädigt oder nur vor Gerichten verhandelt wurden. Weder Leistungserbringer noch Haftpflichtversicherungen, Gerichte oder Anwälte legen Berichte zu Behandlungsfehlern vor.
Chance zum Lernen verpasst.
Im Jahr 2018 begutachteten die Schlichtungsstellen der Ärztekammern 5.972 Fälle, die Medizinischen Dienste 14.133. Einige Daten ähneln sich, etwa der jeweilige Anteil der kausalen Behandlungsfehler (1.499 versus 2.799 Fälle) und die Verteilung über die Fachgebiete. Ob sich die Fälle auch überschneiden, ist nicht genau bekannt. Es ist anzunehmen, dass zahlreiche Fälle, die offensichtlich vermeidbar gewesen wären, in diesen Statistiken nicht enthalten sind, da die Leistungserbringer diese möglichst direkt mit den Geschädigten lösen. Das muss für die Betroffenen nicht schlecht sein, sofern mitfühlend mit ihnen umgegangen wird, man sich Zeit nimmt, das Geschehene zu erklären, gesundheitliche Folgen abgemildert werden und sie eine angemessene Entschädigung erhalten. Für andere, eventuell künftig Betroffene, ist dieses Vorgehen hingegen problematischer, befördert es doch meist, dass nicht breit aus den vermeintlichen Einzelfällen gelernt werden kann. An offizielle Stellen muss nichts darüber berichtet werden, eine systemische Analyse unterbleibt. Es wird also nicht das Bestmögliche unternommen, um zu verhindern, dass derselbe Fehler sich aus Unkenntnis an anderer Stelle erneut ereignet und Schaden hervorruft.
Schwachstellen im System.
Allein in den Gutachten der Medizinischen Dienste finden sich weit über hundert sogenannte Never Events; die Ärztekammern weisen solche Fälle nicht aus. Never Events sind eine Untergruppe der vermeidbaren unerwünschten Ereignisse. Es handelt sich um fehlerbedingte Schadenereignisse, die in der Regel schwerwiegende Folgen haben, aber mithilfe typischer Sicherheitsmaßnahmen vollständig vermeidbar wären. Beispiele dafür sind „Wrong Site Surgery“ (Seiten-, Patienten- oder Eingriffsverwechslungen), intraoperativ zurückgebliebene Fremdkörper, Verwechslungen bei Hochrisiko-Medikamenten oder definierte typische Risikokonstellationen, die nicht beachtet oder nicht erkannt wurden. Never Events treten selten auf, haben jedoch eine besondere Bedeutung für die Patientensicherheit und die Sicherheitskultur.
Ereignet sich ein Never Event, zeigt dies nicht etwa einen besonders gravierenden Fehler eines Individuums. Es ist vielmehr ein Hinweis auf einen systemischen Sicherheitsmangel innerhalb eines Versorgungsprozesses, wie zum Beispiel fehlende Doppelkontrollen oder nicht genutzte Checklisten, der dazu führt, dass eine einzelne Unachtsamkeit „voll durchschlagen“ kann. Ein Never Event ist also nicht als bedauerliches Einzelereignis zu betrachten, wie dies in Deutschland im Strukturierten Dialog bei Auffälligkeiten in Qualitätsindikatoren geschehen kann. Es ist vielmehr als Nachweis eines grundsätzlich bestehenden Sicherheitsmangels zu verstehen. Auch und gerade bei Never Events gilt: Jeder Fehler zählt – das setzt allerdings voraus, dass er auch gezählt wird.
Behandlungsfehler-Begutachtung durch den Medizinischen Dienst
Insgesamt 14.133 Fälle von vermuteten Behandlungsfehlern haben die Medizinischen Dienste der Krankenversicherung im Jahr 2018 begutachtet; in 4.006 Fällen konnte ein Fehler bestätigt werden. Hinzu kommt eine hohe Dunkelziffer hier nicht erfasster Fälle. Die Zahl der gemeldeten Verdachtsfälle in einem Bereich lässt nicht auf die Fehlerquote schließen: Zwar bezogen sich die meisten Vorwürfe (31 Prozent) auf das Gebiet Orthopädie und Unfallchirurgie. Davon bestätigte sich aber nur rund jeder vierte (26,8 Prozent).
Quelle: MDS/MDK (Medizinischer Dienst der Krankenversicherung)
Qualität und Qualitätssicherung sind im Sozialgesetzbuch umfassend etabliert. Die Patientensicherheit hingegen wird lediglich in zwei Detailzusammenhängen genannt. Qualität wird meist anhand positiver, gewünschter Behandlungsergebnisse zu einzelnen Interventionen und Operationen gemessen. Als Maßstab für Sicherheit müssten jedoch Schäden beziehungsweise die Abwesenheit unerwünschter Ereignisse betrachtet werden. Die gesetzliche Qualitätssicherung lässt daher nur in geringem Maße Rückschlüsse auf die Patientensicherheit zu.
Auf internationale Vorbilder schauen.
Auf viele Arten hat man sich in anderen Ländern dem Anspruch genähert, als Basis für Verbesserungen Patientensicherheit messbar zu machen. So wurde in Großbritannien im Jahr 2003 für das gesamte Gesundheitswesen ein freiwilliges Meldesystem etabliert, das National Reporting and Learning System (NRLS). Innerhalb weniger Jahre waren hier bereits über eine Million Meldungen jährlich zu verzeichnen. Mittlerweile gehen pro Jahr rund zwei Millionen freiwillige Meldungen ein, die zeitnah ausgewertet werden und in differenzierten „Alerts“ münden. Zusätzlich besteht ein System für verpflichtend abzugebende Meldungen über besonders schwerwiegende Ereignisse („Serious Reportable Events“): Das Strategic Executive Information System (StEIS) erfasst auch Never Events – allein 451 Fälle zwischen April 2018 und Februar 2019. Außerdem werden mithilfe des „Safety Thermometer“ typische Behandlungsschäden, die häufig vermeidbar sind, wie Dekubitus, Stürze im Krankenhaus oder Katheterinfektionen, registriert und transparent gemacht.
Jeder Fehler zählt. Darum sollte auch jeder Fehler gezählt werden.
Auch in den USA werden bestimmte, häufig vermeidbare Schäden bei der Versorgung im Krankenhaus verbindlich erfasst. Die Daten zeigen einen deutlichen Rückgang dieser als Hospital-Acquired-Conditions (HACs) bezeichneten Ereignisse in den vergangenen Jahren, der hochgerechnet viele tausende vermiedene Todesfälle beinhaltet. In vielen US-Bundesstaaten, etwa in Minnesota, sind Never Events verbindlich zu erfassen. Ernüchternd, aber wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass die gemeldeten Ereignisse hier nicht zurückgehen. Gerade solche Fakten sind aber erforderlich, um die Situation kritisch diskutieren und Ansätze für künftige Verbesserungen finden zu können. Zahlreiche weitere Länder mit hoch entwickelten Gesundheitssystemen haben verpflichtende Meldesysteme für schwerwiegende und in der Regel vermeidbare Schadensereignisse eingerichtet, darunter Australien, Neuseeland, Kanada, mehrere skandinavische Länder sowie die Niederlande. Das zahlt sich aus: Eine Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zeigte im Jahr 2017, dass 15 Prozent der Kosten in Krankenhäusern letztlich auf Mängel in der Patientensicherheit zurückzuführen sind und Verbesserungen der Patientensicherheit somit auch ökonomisch große Vorteile bringen.
Sicherheitsanspruch in Deutschland umsetzen.
Sicherheit geht vor – dieser Anspruch ist im deutschen Gesundheitswesen bisher weder klar festgeschrieben noch umfassend umgesetzt. Es ist unabdingbar, dass die Patientensicherheit als messbare Dimension akzeptiert und ernstgenommen wird. Vermeidbare unerwünschte Ereignisse sollten verbindlich erfasst werden, zumindest für ein zu definierendes Set besonders relevanter Ereignisse, das sich an internationalen Listen von Never Events orientiert. Erst dann liegen die notwendigen Fakten für mögliche Erfolgsmeldungen und auch für (weitere) Verbesserungen vor. Präventionsmaßnahmen könnten dann besonders auf solche Schäden fokussiert werden, die vermeidbar sind und (zu) häufig auftreten. Sinnvoll wäre es, erforderliche Strukturen, Prozesse und Regeln zur Patientensicherheit präzise zu definieren und auch zu kontrollieren.
Letztlich muss die Patientensicherheit in allen Bereichen der Versorgung – von der Gesetzgebung über die Qualitätssicherung, die Lehre und die praktische Versorgung bis hin zur Finanzierung – eine erkennbar herausgehobene Bedeutung erlangen. Patientensicherheit sollte in jedem gesundheitsbezogenen Studium und Ausbildungsgang verankert, gelehrt und zum Prüfungsthema gemacht werden. Indem Lehrstühle für Patientensicherheit eingerichtet werden, ließen sich Lehre und Forschung auf diesem Gebiet gezielt verbessern. Internationale Beispiele zeigen, was möglich ist und Teil einer entsprechenden Sicherheitskultur sein sollte. Eine solche Kultur könnte sich nicht zuletzt auch in einem jährlichen offiziellen Bericht zum Stand der Patientensicherheit widerspiegeln.
Glossar
- Patientensicherheit
Abwesenheit unerwünschter Ereignisse in der Gesundheitsversorgung.
- Schaden
Jeder materielle oder immaterielle Nachteil, den eine Person, eine andere Sache oder ein Ereignis erleiden. Bei der Patientensicherheit geht es vor allem um den Schutz vor Gesundheitsschäden.
- Fehler
Eine Handlung oder ein Unterlassen, bei dem eine Abweichung vom Plan, ein falscher Plan oder gar kein Plan vorliegt. Ob daraus ein Schaden entsteht, ist für die Definition des Fehlers irrelevant. Jeder Fehler bedeutet ein Risiko, denn jeder Fehler kann einen Schaden verursachen.
- (Vermeidbares) unerwünschtes Ereignis
Ein schädliches Vorkommnis, das eher auf der Behandlung als auf der Erkrankung beruht. Einem vermeidbaren unerwünschten Ereignis liegt typischerweise ein Fehler zugrunde.
- Never Events
Fehlerbedingte Schadenereignisse, die in der Regel einerseits besonders folgenschwer sind und andererseits durch bekannte Maßnahmen der Patientensicherheit vermeidbar wären.
Quellen: Aktionsbündnis Patientensicherheit, Medizinischer Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen