Interview

„Täterarbeit ist Opferschutz“

Wir müssen den Kreislauf der Gewalt in Familien durchbrechen, sagt die Kriminologin Julia Reinhardt. Sie fordert eine verlässliche öffentliche Förderung von sozialen Trainingsprogrammen für Täter.

Frau Reinhardt, laut Kriminalstatistik sind etwa 80 Prozent der Täter im Bereich häusliche Gewalt Männer. Ist Gewalt ein Männerproblem?

Julia Reinhardt: Die Statistik spricht in der Tat eine deutliche Sprache. Allerdings holen Frauen leider stark auf. In Metropolen werden inzwischen über ein Viertel der Beziehungsstraftaten von Frauen begangen. Wir sollten uns davor hüten, hier Beton anzurühren und von Männern nur als Tätern und Frauen nur als Opfer zu sprechen, obwohl jede dritte Frau im Laufe ihres Lebens mindestens einmal von Partnerschaftsgewalt betroffen ist. In den meisten Beziehungsdynamiken sind beide auf ihre Weise an der Eskalation von Konflikten beteiligt.

Portrait Julia Reinhardt

Zur Person

Julia Reinhardt leitet die Täterarbeitseinrichtung „Contra Häusliche Gewalt!“ in Bad Kreuznach. Die Kriminologin und Erziehungswissenschaftlerin ist stellvertretende Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft Täterarbeit.

Als Frau arbeiten Sie mit männlichen Tätern.

Reinhardt: Als Kriminologin will ich herausfinden, was zu der Gewalttat geführt hat. Was bringt einen Mann dazu, seine Partnerin, die er liebt, zu bedrohen, zu demütigen und massiv körperlich zu schädigen? Über 80 Prozent der Täter sind in ihrer Kindheit oder Jugend selbst Opfer von brutaler Gewalt geworden, meist durch ihre Eltern. Diese Weitergabe gewalttätigen Verhaltens über Generationen will ich mit meiner Arbeit durchbrechen. Wenn das gelingt, ist Täterarbeit gemeinsam mit der Opferarbeit der effektivste Opferschutz, den es gibt.

Was bringt einen Mann dazu, seine Partnerin zu verprügeln?

Reinhardt: Scham ist das zentrale Gefühl, das zu Gewalttaten im häuslichen Bereich führt. Die Scham, das eigene Leben nicht so zu führen, wie der Mann es für richtig hält. Wird das Selbstbild angekratzt, fühlt er sich gedemütigt und kann seine Impulse nicht mehr kontrollieren.

Welche gesundheitlichen Folgen hat Partnerschaftsgewalt?

Reinhardt: Da sind zunächst die sichtbaren Folgen: Arm- und Kieferbrüche, ausgerissene Haare, Verletzungen an inneren Organen. Immer wieder kommt es zu Fehlgeburten aufgrund von Tritten in den Bauch der Schwangeren. Zu den Folgeschäden gehören psychische Erkrankungen, Traumatisierungen, Ängste, Depressionen, posttraumatische Belastungsstörung. Aber auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck, chronische Rückenschmerzen und Schlaganfälle sind immer wieder zu beobachten.

Über 80 Prozent der Täter sind in ihrer Kindheit oder Jugend selbst Opfer von brutaler Gewalt geworden.

Laut einer Studie, die Sylvia Sacco von der Universität Cottbus 2017 veröffentlichte, betragen die Kosten häuslicher Gewalt in Deutschland pro Jahr 3,8 Milliarden Euro. Der größte Teil entfällt dabei auf die Justiz und Polizeieinsätze. Die direkten Gesundheitskosten schlagen mit etwa 450 Millionen Euro zu Buche. Hinzu kommen weitere indirekte Kosten. Allein für die Traumafolgen bei Kindern werden über 550 Millionen Euro jährlich veranschlagt.

Wie viele Männer erreichen Sie mit Ihrer Arbeit?

Reinhardt: Laut Kriminalstatistik werden jährlich etwa 138.000 Fälle häuslicher Gewalt angezeigt. In Rheinland-Pfalz sind es etwa 10.000. Wir arbeiten hier mit etwa 350 Männern pro Jahr. Da ist noch viel Luft nach oben. Selbstverständlich kostet Täterarbeit Geld. Aber angesichts der hohen Folgekosten von häuslicher Gewalt und dem präventiven Charakter der Arbeit macht sich eine verlässliche öffentliche Förderung bereits mittelfristig bezahlt.

Ralf Ruhl stellte die Fragen. Er ist freier Journalist mit Schwerpunkt auf Männer- und Familienthemen.
Bildnachweis: privat