Unser Dorf soll weiterleben
Dorfladen, Kneipe, Bürgerbus, Vereine und auch eine Hausarztpraxis – im hessischen Alheim hat überlebt, was anderswo in der Provinz längst verloren ist. Doch in Zeiten des demografischen Wandels ist das Idyll ein zerbrechliches Gut. Was die Bürgerinnen und Bürger in den zehn Ortsteilen alles tun, damit ihre Gemeinde eine Zukunft hat, zeigt eine Landpartie von Silvia Dahlkamp (Text) und Olaf Hermann (Fotos).
Licherode, Ortsteil von Alheim, 140 Einwohner.
Wer die Idee hatte, die den Ort schließlich rettete? „Mhmmm...“, kann Georg Knierim (75) auch nicht mehr sagen. Aber es war irgendwann Mitte der Achtziger. Sie saßen im Saal bei Döll, der alten Kneipe im Ort, alles braun-rustikal, im Zigarettendunst. Heidi stand hinter der Theke und zapfte Löwenbier. Ach, die Heidi. Die ist jetzt schon 17 Jahre tot. An jenem Abend also, daran erinnert sich Knierim aber genau, saß er als Ortsvorsteher neben dem Architekten vom Planungsbüro. Der war aus Kassel gekommen: 35 Kilometer auf der A7 Richtung Süden, dann eine halbe Stunde über Land und schließlich im Zickzack über den Berg. Dann ist man in Licherode: Fünf Straßen, ein paar Dutzend Häuser.
Auf den Tischen lagen Zettel: „Unser Dorf soll schöner werden.“ Es hätte auch heißen können: Unser Dorf soll nicht sterben. Davor hatten nämlich alle Angst. Innerhalb einer Generation hatte sich die Bevölkerung fast halbiert. Und jedesmal, wenn die Totenglocke der Johanneskirche läutete, jammerten die Alten: „Ach Du mei leiwes Guddche.“ – Ach Du lieber Gott. Seit Jahren gab es mehr Beerdigungen als Taufen.
Vorbild für ökologisches Lernen.
Der demografische Wandel hat in dem kleinen Ort auf den sanften Hügeln Osthessens vor 30 Jahren begonnen. Und nicht nur dort. Überall in Deutschland schrumpfen Dörfer und Kleinstädte: Ärzte suchen verzweifelt Nachfolger, Supermärkte schließen, Busse fahren nicht mehr, Vereine sterben – und mit ihnen das soziale Leben.
Wie wird es erst werden, wenn in zehn Jahren die ersten Babyboomer in Rente gehen und die Pillenknick-Jahrgänge übernehmen? Wenn in Deutschland jeder Dritte älter als 65 Jahre ist, werden weniger Erwerbstätige weniger Lohnsteuern und Sozialabgaben zahlen. Und nicht nur das: Große Arbeitgeber werden noch mehr junge Menschen in die Städte locken, um freie Stellen zu besetzen. Müssen sich dann kleine Gemeinden dem Schicksal beugen und sterben? Oder sollen sie kämpfen, wie Alheim im Landkreis Hersfeld-Rotenburg? Knapp 5.000 Einwohner. Zehn Ortsteile. Einer ist Licherode. Wo die Alten schon in den 80ern dachten: „Dat Kaff is verlur.“ – Das Dorf ist verloren.
Sie haben sich geirrt. Denn „dat Kaff“ ist heute Vorbild für ökologisches Lernen. Eben weil es dort so ruhig, einsam, friedlich ist, in den Tümpeln noch Kröten schwimmen, auf Wildwiesen Bienen schwirren und Küken hinter Entenmüttern watscheln. Perfekt für ein Umweltbildungszentrum. „Verflixt.“ Ex-Ortsvorsteher Georg Knierim erinnert sich wirklich nicht, wer damals in der Kneipe bei Döll die Idee hatte. „Aber es war rappelvoll.“
Wir brauchen Kinder. Verrückte Idee. Oder doch nicht?
Die Landfrauen waren gekommen, die Feuerwehr, Vertreter aller Vereine. Sie diskutierten, wie das Dorf schöner werden könnte: Ochsenrotes Fachwerk, weiße Holzfenster, neue Ziegeldächer. Romantisch. Idyllisch. Aber ohne Menschen? Irgendwann hat jemand gesagt: „Wir brauchen Kinder.“ Verrückte Idee. Oder doch nicht? Georg Knierim war begeistert: „Dann gibt es wieder Leben.“ Wo sollte es hin? An der Lindenstraße verrottete der denkmalgeschützte Weberhof. Im Stall hatte immer der „Ortsplayboy“ gestanden, der Gemeindebulle, der alle Kühe im Dorf bestieg. Das letzte Rendezvous hatte er mit dem Schlachter, dann verließen die alten Bauersleute Licherode. Keines ihrer drei Kinder wollte Landwirt werden. Unkraut wucherte im Hof. Wasser tropfte durchs Dach. Trostlos. Knierim dachte: „Ideal.“ Doch woher das Geld nehmen?
Ein Bauernhof wird Landschulheim.
Obwohl es noch Jahre bis zur Eröffnung dauerte, ist das Ende der Geschichte schnell erzählt: Die Gemeinde kaufte die Hof-Ruine. Das Land sagte Zuschüsse zu. Als die nicht reichten, haben sie ein „ökologisch“ vor Landschulheim gesetzt. Ganz pragmatisch, weil es dafür einen Fördertopf bei der EU gab. 1995 kamen die ersten Schüler. Und heute, 25 Jahre später? Kinder lachen. Türen schlagen. Gleich gibt es Mittagessen in der alten Scheune. Dort ist jetzt der Speisesaal. Draußen beobachten Viertklässler aus Frankfurt Gelbrandkäfer und im Ex-Schweinestall zimmern Grundschüler aus Bebra Boote aus Rinde, anschließend ist eine Dorf-Rallye geplant. 16 Mitarbeiter arbeiten heute hier.
Am Nachmittag wird Renate Knierim (70) den Kiosk im ehemaligen Armenhaus öffnen, in der Nähe der 800-jährigen Gerichtslinde. Die Kinder werden Bio-Limo schlürfen und ihr Mann, der Ex-Ortsvorsteher, wird von alten Zeiten erzählen – als es in Licherode noch eine Kirmes mit genau einem Karussell gab und das ganze Dorf in der Kneipe Fußball geguckt hat: „Weltmeisterschaft 1970, Italien gegen Mexiko. Das tollste Erlebnis meines Lebens.“
Ein bisschen Bullerbü für Stadtkinder. Eines allerdings erzählt Knierim den kleinen Gästen nicht: Dass seine eigenen Kinder nicht mehr hier wohnen und dass er selbst manchmal denkt: „Dat Kaff is verlur“. Gerade stehen wieder vier Häuser leer. Da ist es kein Trost, dass es anderswo viel schlimmer ist, zum Beispiel im Osten schon Tausende Schulen und Kindergärten geschlossen werden mussten. Wie in Licherode flüchtet die Dorfjugend in „Schwarmstädte“ wie Berlin, München, Leipzig, Hamburg, Frankfurt. Im Rhein-Main-Gebiet leben heute schon Zweidrittel aller Hessen. Derweil verkommen die Orte ihrer Kindheit zu Wüsten, so nennt es das Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung. In einigen wird es 2035 auf eine Geburt vier Tote geben. Wer will da schon leben?
Baumbach, 700 Einwohner.
Falsche Frage. „Wie schaffen wir mehr Leben?“ Diese Frage bewegt Bürgermeister Georg Lüdtke (65, SPD). Er sitzt in seinem Büro, sieben Kilometer vom Ortsteil Licherode entfernt. Auf den Fulda-Wiesen nisten Störche. Vom Fenster aus sieht man den Alheimer. Der Berg hat der Gemeinde nach der hessischen Gebietsreform 1972 den Namen gegeben, als zehn bisher selbstständige Orte zu Alheim zusammengepuzzelt wurden. Wer vom östlichsten Zipfel in den Westen will, braucht etwa eine halbe Stunde – wenn er nicht hinter einem Trecker hängt.
Der Weg zum Gemeinde-Chef führt durch einen „Flur of Fame“. Vor lauter Urkunden sieht man kaum noch die Raufasertapete: „Zukunftsstadt“, „Modellkommune der UN-Dekade“, „Klimaschutz Kommune“, „Familienfreundliches Alheim“. Auch Licherode ist vertreten. Der Ortsteil war ein Highlight der Expo-Weltausstellung 2000 in Hannover, ist von der UNESCO mehrmals für nachhaltige Entwicklung ausgezeichnet worden.
Rote Zahlen erfordern neues Konzept.
Doch in Zeiten des Wandels haben auch wegweisende Ideen ein Verfallsdatum. Und die Idee, die Licherode damals rettete, ist jetzt schon 25 Jahre alt. „Stillstand ist Rückschritt, wird radikal bestraft“, sagt Bürgermeister Georg Lüdtke. „Das Umweltbildungszentrum schreibt rote Zahlen“, berichtet er. Der demografische Wandel hat den kleinen Ort wieder eingeholt. Der Grund hat schon in der Zeitung gestanden: Die Schulklassen werden kleiner, reisen oft nur noch mit 18 statt 25 Kindern an, im Winter gar nicht mehr. 50.000 Euro fehlen im Jahr. Der Kreis will helfen, doch erst, wenn ein neues Konzept vorliegt.
Vielleicht würde ein Treffen in der Kneipe bei Döll helfen? Doch nach dem Tod von Heidi, der Wirtin, rottet die vor sich hin. Verrammelte Türen, blinde Fenster. Auch ihre Tochter ist weggezogen. Wie also wird die Geschichte weitergehen, die man ähnlich, aber mit anderen Menschen, aus allen zehn Alheimer Ortsteilen erzählen könnte? Lüdtke hofft, dass sie 2050 mit dem Satz endet: Weil sie nicht gestorben sind, leben sie noch heute... Denn erst 2050 wird der Schrumpfungsprozess vorbei sein, werden in Deutschland zwölf Millionen Menschen weniger leben als heute, schätzen die Demografen. Wird Alheim dann ein weißer Fleck auf der Landkarte sein? Lüdtke sagt: „Nicht, wenn wir unsere Gemeinde flottmachen.“
Sterkelshausen, 326 Einwohner.
Also flott wieder ins Auto. Diesmal in einen knallgrünen Elektro-Flitzer. Er steht an der Ladestation vor dem Rathaus. Meist geht der „Bürgerservice“ damit on Tour und besucht Senioren in ihrem Wohnzimmer, wenn die etwa Formulare ausfüllen müssen, einen neuen Pass brauchen oder einen Schwerbehindertenausweis beantragen wollen. Die Idee für das „Mobile Alheimer Rathaus“ entstand, nachdem der Nordhessische Verkehrs-Verbund wichtige Bus-Verbindungen gestrichen hatte. Wer kein Auto hat, muss mitunter einen Tag für einen Besuch im Amt einplanen. Also fährt die Behörde jetzt zu den Bürgern nach Hause.
Was kann siechende Dörfer retten? Menschen mit Tatkraft.
Keine Region darf abgehängt werden, steht im Grundgesetz. Doch wem nutzt, was niemanden interessiert? In Licherode sind seit Monaten die Handys tot, aber die Telekom reagiert nicht. Oder in Sterkelshausen: Dort warten 326 Einwohner seit zehn Jahren auf schnelles Internet. Kommt nicht. Dafür glitzern auf vielen Dächern blaue Photovoltaikanlagen.
Solarstrom vom Selfmademan.
Die hat der Lars gebaut. Der „Selfmademan“ der Gemeinde hat gerade seinen 48. Geburtstag gefeiert. Er sagt: „Jetzt bin ich auch schon ein alter Sack.“ Als er noch jung war, vor 20 Jahren, boomte der deutsche Solarmarkt. Da hat er mit seiner Firma, der Kirchner Solar Group, 190 Millionen Euro Umsatz im Jahr gemacht. Im Dorf ist er immer noch der Junge, der als Kind die Radios der Nachbarn reparierte, sich von seinem Konfirmationsgeld einen Gabelstapler kaufte und die Solarplatten auf Camper schraubte. Ein bisschen durchgeknallt – eben der Lars.
Über 6.500 Dachanlagen und Solarparks hat sein Unternehmen weltweit gebaut, davon drei in Alheim. Einer liegt auf einem Hühnerhof, der das zum Markenzeichen macht und „Sonneneier“ verkauft, noch ein großer Arbeitgeber in der Gemeinde. Mit der Sonnenenergie kam eine neue Idee: Die Vision von einem Dorf, das sich selbst mit Energie versorgt. „Die Sonne erhöht keine Gebühren“, sagte Bürgermeister Lüdtke in einer Sitzung. Die Abgeordneten quer durch alle Parteien haben genickt. Die Gemeinde versorgt sich heute zu 100 Prozent mit selbst erzeugten Energien. In diesem Jahr wird Alheim auch einen Bürgerbus anschaffen, der Kinder zum Training, Senioren zum Arzt und die Freundin zur Feier im Nachbarort bringen soll – damit niemand mehr vergeblich an einer Haltestelle warten muss.
Kreisstraße 67 Richtung Oberellenbach.
Weiter geht es in dem grünen E-Flitzer, an den Feldern der „Solidarischen Landwirtschaft“ vorbei. Hier pflanzen Günter (52) und Dörte Hufmann (42) Gemüse für 160 Familien an. Noch ein neuer Weg: weg vom industriellen Ackerbau.
Drei Hektar Land bewirtschaftet das Paar. Normalerweise könnte ihre fünfköpfige Familie davon nicht leben. Deshalb bezahlen ihre Kunden nicht fürs Kilo Kartoffeln, sondern überweisen jeden Monat einen festen Betrag, damit der Hof wirtschaften kann. Im Gegenzug bekommen sie dafür Gemüse der Saison. In Kisten liegen die ersten Kartoffeln, Salate, Frühlingszwiebeln, Rhabarber – alles Bio. Davon werden fast 500 Menschen satt. Eine Gesellin, ein Azubi und zwei Freiwillige helfen den Hufmanns auf dem Feld.
Oberellenbach, 400 Einwohner.
In der Ferne taucht ein Kirchturm auf: Oberellenbach, knapp 400 Einwohner, 15 Vereine, 115 Mitglieder bei der freiwilligen Feuerwehr. Noch eine Ortschaft, die überleben will. Ilse (71), Wirtin der Pension Kambach, hat gerade allerdings ganz andere Sorgen. Sie muss in die „City“, zum Arzt nach Heinebach – mit 2.054 Einwohnern der größte der Alheimer Ortsteile und mit Apotheke, Zahnarzt, Physiotherapeutin und einer Kinder- und Jugendpsychotherapeutin auch das Zentrum der Gesundheitsversorgung von Alheim. Per Telefon gibt Ilse ihren Gästen Anweisungen: „Am Scheunentor rechts steht eine Bank, daneben ein Kästchen, darin ist der Schlüssel.“ Ilse muss ihren „Mercedes“ kontrollieren lassen: einen „Herzschrittmacher mit Defibrillator“. Als sie vor vier Jahren die Zwergziegen einfangen wollte, hätte es sie fast erwischt. „Das ganze Herz ist vernarbt.“ Doch der Weg zum Arzt hat sich gelohnt. Sie bringt Neuigkeiten mit: „Der Doktor hat einen Nachfolger. Endlich!“ (siehe Beitrag:„Der Standort ist gesichert“)
Die Bilder des Audiogramms wurden von Olaf Hermann gemacht und stammen aus den Ortsteilen Baumbach und Oberellenbach.
Ilse wurde in Oberellenbach geboren. Früher hatten hier alle eine kleine Landwirtschaft; einen Garten, Kühe und Schweine. Im Herbst haben sie Äpfel, Mirabellen und Birnen geerntet. Sie und ihr Mann hatten die Kneipe. Wenn Treibjagd war, quetschten sich 80 Jäger in die Gaststube. „Alles war voll.“ Die Wirtin zeigt mit strahlenden Augen auf die leere Theke, leere Tische und Stühle: „Da“ und „da“ und „da“. Alles endete, als „Vaddern“ starb, vor 15 Jahren. Da waren sie schon ein Schlafdorf geworden. Die meisten fahren morgens zur Arbeit und kommen erst abends wieder. Vor zwei Jahren bettelten die jungen Leute: „Macht doch wieder auf.“ Ihr Sohn Björn (45) ist weich geworden. Zweimal in der Woche steht er jetzt hinterm Tresen. Morgen ist ein Dart-Turnier.
Mit Tatkraft gegen den Schwund.
Das dörfliche Leben, wie es früher war: die Treffen in der Kneipe, der Schwatz mit den Nachbarn, Kinder, die auf der Straße spielen. Junge, die Alten helfen. Lavendel, Rosenbüsche, selbstgemachte Marmelade – Städter kaufen Hochglanzbroschüren, um sich aus der Hektik der Stadt in die Ruhe auf dem Land zu träumen. Oberellenbach ist ein Vorzeigedorf, weil es in 20 Jahren nur um 2,5 Prozent geschrumpft ist. Es gibt einen Spielplatz mit Bolzfeld und Grillplatz, einen Sportverein, eine Theatertruppe, Dorffeste. Alles, was es anderswo auf dem Land nicht mehr gibt, wo die Jugend wegzieht, so die Landesstiftung „Miteinander in Hessen“. Viele Orte Nordhessens verzeichnen einen Bevölkerungsschwund von 15 Prozent in zehn Jahren und mehr. Was kann siechende Dörfer retten? Ergebnis: „Menschen mit Tatkraft.“ Menschen wie Walter (68), Marlies (68), Siegfried (72), Elke (68) ... – 70 Anwohner haben 1998 in einer Scheune einen Dorfladen eröffnet. Das Wunder: Es gibt ihn noch. Doch es war knapp.
Samstag, 8 Uhr: Ilse war schon da, hat für ihre zwei Gäste sechs Brötchen besorgt. Die kommen vom Bäcker in Heinebach. Drei für jeden. „Essen und Trinken hält Leib zusammen“, wird sie später sagen und den Gästen Marmelade hinschieben: „Na, wonach schmeckt das?“ Grüne Tomaten! Selbstgemacht. Unten im Dorfladen sitzt Ursel (64) an der Kasse und tippt im Akkord. Samstags ist immer viel los. Badreiniger sind im Angebot. „Morgen, Lisl, wie geht’s?“ Man kennt sich, Lisl (84) wohnt nur ein paar Häuser weiter. Der Essig-Reiniger im Angebot rollt übers Band. Es gibt Neuigkeiten: „Der Doktor in Heinebach hat einen Nachfolger.“ Das Wunder macht die Runde.
Der Dorfladen stand auf der Kippe.
War es Nostalgie? Vielleicht. 1995 nahm Oberellenbach am Dorferneuerungsprogramm teil. Umfragen ergaben, dass sich alle nach dem Tante-Emma-Laden zurücksehnten, den es noch Jahre zuvor gegeben hatte. Doch Supermärkte lohnen sich erst ab 5.000 Einwohnern. Was tun? Butter, Milch, Wurst, Klopapier: Die Rentner konnten nicht einmal mehr die Dinge kaufen, die man zum Leben braucht. Vielen ging es wie Lisl. Sie hat keinen Führerschein. Ihr Mann ist gestorben, ihre Töchter sind weggezogen. In Oberellenbach ist heute schon jeder Dritte älter als 65 Jahre. Lisl sagt: „Wenn der Dorfladen schließt, muss ich wegziehen.“ Vom eigenen Hof in ein Heim. Vor zwei Jahren wäre es beinahe so weit gewesen.
12.000 Euro müssen im Monat reinkommen, damit der Laden nicht ins Minus rutscht. Plötzlich waren es aber nur noch 9.000 Euro, manchmal weniger. Nichts lief mehr rund, nachdem die alten Gründer an die jüngere Generation übergeben hatten. Es war so chaotisch, dass sie den Pachtvertrag mit der Gemeinde gekündigt haben: 30 Euro im Monat.
Rathaus in Baumbach.
Auch das noch, dachte Georg Lüdtke, ihr Bürgermeister, drüben im Rathaus, in Baumbach. Gerade hatte die evangelische Kirche die Stelle des Jugendpflegers gestrichen. Begründung: Mitgliederschwund. Und es gab wieder Ärger mit dem Kreis, wegen der Schulumlage. Im Gemeinde-Haushalt klaffte ein riesiges Loch. Lüdtke hat zu den Oberellenbachern gesagt: „Aufgeben ist zu leicht. Löst das Problem.“ Kündigung abgelehnt.
25 Anwohner, ein runder Tisch, jetzt läuft der Laden wieder, der gleichzeitig ein Cafe ist: 110.000 Euro Jahresumsatz, eine schwarze Null, Ziel erreicht: Gemeinschaft als Gewinn. Zwischen Grabbeltisch und Obsttheke stehen ein paar Plastikstühle. Da treffen sich mittwochs alle, die Zeit haben. Ilse ist oft da, Lisl auch. Es gibt viel zu schwatzen: Auf dem Demeterhof gibt es Nachwuchs. Ein Kälbchen. Die Kinder waren schon da und haben es gestreichelt. Und überhaupt, die jungen Bauern, Ilona, 25, und Frederik, 24: „Die sind jetzt auch schon ein Jahr hier. Sehr nett. Ob da wohl auch bald Nachwuchs kommt?“ Einer wusste: Die wollen neben der Käserei einen Besucherraum bauen. Und, ach ja, ganz wichtig: Eine Familie hat ein Haus besichtigt. 100.000 Euro soll es kosten. „Kriegen die im Leben nicht“, ist die Runde überzeugt und diskutiert: „Gibt es noch das Programm ,Jung kauft Alt’?“ – 9.600 Euro für Eltern, die sich mit ihren Kindern für Alheim entscheiden.
Alheim will wachsen.
65 Projekte hat die Gemeinde in zehn Jahren gefördert. Das bedeutet in Zahlen: Etwa 260 Menschen gewonnen, allerdings noch mehr verloren. Georg Lüdtke kennt die Statistiken genau: 4.926 Einwohner leben noch in Alheim, 500 weniger als vor 22 Jahren, als er zum Bürgermeister gewählt wurde. Auch seine zwei Söhne sind weggezogen. Er macht weiter. In der Nähe des Rathauses rollen die „Löschstrolche“ gerade Schläuche aus. Die Feuerwehr hatte Nachwuchssorgen und bietet jetzt Gruppenstunden für Kinder an. Das findet er gut. Am Montag hat er einen Termin beim Städte- und Gemeindebund, am Dienstag ist Ratssitzung, der Sportverein hat Jahreshauptversammlung ...
Ein Leben, um zu überleben: Vor zwei Jahren hat Lüdtke in Düsseldorf den „Deutschen Nachhaltigkeitspreis“ bekommen. Stolz streckte er seinen Daumen in das Scheinwerferlicht. „Danke, dass wir das geschafft haben“, steht auf seiner Facebook-Seite. In zwei Jahren geht er in Rente. Bis dahin will er noch 19 Wohnungen bauen, für ein letztes großes Ziel: Alheim, Gemeinde in Osthessen, mehr als 5.000 Einwohner!
„Ans Alter haben wir gar nicht gedacht“
Sie wollten ihren Kindern eine schöne Kindheit schenken: Die Lehrer Helga (74) und Volker Damm (80) haben vor 42 Jahren ein Haus in Baumbach gebaut.
„Anne war sechs und Jan-Peter zwei Jahre alt. Sie sollten die Welt entdecken: buddeln, verstecken spielen, Hütten bauen. Deshalb haben wir ein großes Grundstück am Hang gekauft: 1.147 Quadratmeter mit Beeten, Obstbäumen, Schaukel und Sandkiste. Ans Alter haben wir gar nicht gedacht. Anne ist noch in Baumbach zur Grundschule gegangen. Heute fahren die Kinder mit dem Bus nach Heinebach und später nach Rothenburg zur weiterführenden Schule. Nach dem Abitur ziehen die meisten weg. Anne lebt als Bauingenieurin im Ruhrgebiet und Jan-Peter ist Wirtschaftsinformatiker in Salzburg.
Wir wohnen seit 26 Jahren allein in dem großen Haus. Zum Glück können wir uns Hilfe im Garten und Haushalt leisten, denn natürlich merken wir das Alter. Ich habe Arthrose in Händen und Knien, mein Mann kann die schwere Heckenschere nicht mehr heben. Im vergangenen Jahr war er schwer krank. Was passiert, wenn einer von uns dement wird oder stirbt? Im Schrank steht eine Akte mit Testament, Patientenverfügung und Anweisungen. Damit keiner unser Grab pflegen muss, wollen wir im Friedwald beerdigt werden. Wir sind zwar beide noch fit, aber irgendwann wird natürlich einer von uns zurückbleiben. Deshalb haben wir vorgesorgt und ein Apartment in der Seniorenwohnanlage 55Plus im Alheimer Ortsteil Heinebach gekauft. Nebenan sind Kindergarten, Grundschule, das Mehrgenerationenhaus und Familienzentrum. Es gibt einen Arzt, eine Apotheke und einige Geschäfte. Wenn es nicht mehr geht, kommt der Pflegedienst. Perfekt.
Doch daran will ich jetzt nicht denken, sondern lieber Qasim (30) die Daumen drücken. Er kommt aus Afghanistan und hat morgen seine Deutschprüfung. Mein Mann und ich sind aktiv in der Flüchtlingshilfe, haben viel zu tun. Natürlich würden wir uns freuen,
wenn unsere Kinder in der Nähe wären. Trotzdem sind wir nie einsam, weil uns viele ehemalige Schüler besuchen. Morgen kommt ein junges Paar mit Kind. Ich muss noch einen Kuchen backen.“
Protokoll: Silvia Dahlkamp