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Die Gesundheitsberichterstattung gibt bisher kaum Aufschluss darüber, wo genau Diabetes Typ 2 wie oft vorkommt. Eine neue statistische Methode ermöglicht nun auch Aussagen auf der lokalen Ebene. Von Helmut Schröder und Gabriela Brückner
Der 54-jährige Thomas R.
war bisher selten beim Arzt. Weil er sich aber gerade nicht wohl fühlte, ließ er sich bei seiner Hausärztin durchchecken. Dabei stellte sich heraus, dass er Diabetes mellitus Typ 2 hat. Thomas R. ist einer von vielen Diabetespatienten: So ist beispielsweise jeder zehnte AOK-versicherte Mann in diesem Alter daran erkrankt.
Zahl der Diabetiker steigt.
Bereits seit einigen Jahren warnt die Weltgesundheitsorganisation WHO vor einer Diabetes-Epidemie in den europäischen Ländern und weist auf vermeidbare Risikofaktoren wie zu wenig Bewegung oder ungesunde Ernährung hin. Deshalb rief sie einen Aktionsplan zur Umsetzung der Europäischen Strategie zur Prävention und Bekämpfung nichtübertragbarer Krankheiten ins Leben. 2017 waren europaweit bereits rund 66 Millionen Menschen ab 18 Jahre an Diabetes erkrankt. Davon hatten 90 bis 95 Prozent Diabetes Typ 2. In Deutschland gibt es besonders viele Fälle: Hier liegt die altersstandardisierte Erkrankungsrate bei mehr als acht Prozent. Im Vergleich dazu sind es in den Nachbarländern Frankreich und Niederlande nur weniger als fünf Prozent.
Für eine bedarfsgerechte Versorgung vor Ort sind Informationen über die Krankheitslast erforderlich.
Dass in Deutschland die Zahl der Typ-2-Diabetiker steigt, belegen zahlreiche Studien. Ursachen sind neben dem demografischen Wandel die zunehmende Bewegungsarmut und falsche Ernährung. Prognosen gehen davon aus, dass bis zum Jahr 2040 zusätzlich 3,6 Millionen Menschen daran erkranken.
Krankheitsrate hängt vom Wohnort ab.
Doch wie lässt sich dieser Trend aufhalten? Um diese Frage zu beantworten, ist es zunächst notwendig, weiterhin zu untersuchen, wie groß der Einfluss verhaltensbezogener Risikofaktoren wie Ernährung oder körperliche Bewegung ist.
Gleichzeitig sind aber auch verhältnisbezogene Risikofaktoren in den Blick zu nehmen, die sich aus strukturbedingten Lebensverhältnissen ergeben können. So weisen Regionen mit einer hohen Arbeitslosenquote und niedrigem Einkommen in der Regel ein erhöhtes Erkrankungsrisiko auf. Weitere wohnortbedingte Faktoren wie Luftschadstoffe, Lärm oder eine Umgebung, die Menschen von der Bewegung an frischer Luft abhält, gelten inzwischen als Risikofaktoren. Somit sollten die lokalen Gegebenheiten bei der Gestaltung öffentlicher Gesundheitsprogramme berücksichtigt werden.
Das neue alters-, geschlechts- und morbiditätsadjustierte Hochrechnungsverfahren hat ergeben: Vor allem in den ostdeutschen Regionen kommt Diabetes Typ 2 besonders häufig vor. Dort liegt der Anteil der Menschen, die daran erkrankt sind (Prävalenz), zwischen neun und 15,2 Prozent.
Quelle: WIdO
Um ein gesundheitsförderliches Lebensumfeld für ihre Bürgerinnen und Bürger zu schaffen, Risikofaktoren zu verringern und notwendige Versorgungsstrukturen vorzuhalten, benötigen Landräte oder Bürgermeister Informationen über das Erkrankungsgeschehen in ihrer Region. Eine Grundlage dafür bietet die im Aufbau befindliche Diabetes-Surveillance des Robert Koch-Instituts. Sie stellt wichtige Informationen zur Diabetesberichterstattung hinsichtlich Krankheitslast, Risikofaktoren und Versorgungsqualität bereit. Auf dieser Basis lassen sich gesundheitspolitische Ziele benennen, die für die Lebensqualität von Diabetes-Patienten förderlich sind und die Zahl der Neuerkrankungen verringern können.
Häufigkeit variiert von Kasse zu Kasse.
Da bislang kaum kleinräumige Analysen für einzelne Regionen vorliegen, stellte sich die Frage, wie sich die Krankheitshäufigkeit für die lokale Ebene ermitteln lässt. Müsste dafür ein neuer umfassender Datensatz aufgebaut werden, der über die vorliegenden Routinedaten der Krankenkassen hinausgeht, oder wäre eine weniger aufwendige Alternative möglich?
Bekannt ist, dass sich die Häufigkeit von Diabetes Typ 2 von Kassenart zu Kassenart deutlich unterscheidet. Die bundesweite, bevölkerungsbezogene Studie des Robert Koch-Instituts zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland aus den Jahren 2008 bis 2011 schätzte die Lebenszeitprävalenz des Diabetes Typ 2 für die Bevölkerung zwischen 18 und 79 Jahren insgesamt auf 7,4 Prozent, für AOK-Versicherte auf neun, für Versicherte der Ersatzkassen auf sieben und für Privatversicherte auf 3,8 Prozent.
Analysen, die die unterschiedlichen Alters- und Geschlechtsstrukturen dieser Versicherten ausgleichen, weisen ähnliche Unterschiede auf. Somit unterscheiden sich die AOK-Versicherten im Vergleich zu anderen Versicherten nicht nur hinsichtlich Alter und Geschlecht, sondern insbesondere auch durch eine höhere Diabetes-Morbidität.
Verfahren gleicht Unterschiede aus.
Damit stellte sich die Frage, ob sich angesichts dieser Unterschiede aufzeigen lässt, in welchen Kreisen Diabetes Typ 2 besonders häufig vorkommt und in welchen seltener. Hierzu haben das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) und die Universität Trier ein kombiniertes Alters-, Geschlechts- und morbiditätsadjustierendes Hochrechnungsverfahren für die Gesamtbevölkerung entwickelt, das kassenartenspezifische Unterschiede hinsichtlich der Erkrankungshäufigkeit ausgleicht und empirisch nachprüfbar ist (zum Hochrechnungsverfahren Breitkreuz et al. 2019, siehe „Lesetipps“).
- Den Diabetes im Griff. Ein Handbuch für Patientinnen und Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2. Dritte Auflage. Hrsg.: AOK-Bundesverband. Berlin 2019. KomPart-Verlag. Download
- Deutscher Gesundheitsbericht Diabetes 2019. Die Bestandsaufnahme. Hrsg.: Deutsche Diabetes Gesellschaft und diabetesDE – Deutsche Diabetes Hilfe. Download
- J. Breitkreuz/G. Brückner/J. P. Burgard/J. Krause/R. Münnich/H. Schröder/K. Schüssel (2019): Schätzung kleinräumiger Krankheitshäufigkeiten für die deutsche Bevölkerung anhand von Routinedaten am Beispiel von Typ-2-Diabetes. In: AStA Wirtschafts- und Sozialstatistisches Archiv. Eine Zeitschrift der Deutschen Statistischen Gesellschaft, 1/2019. Download
Im Ergebnis zeigen sich für 2016 bei der Prävalenz von Diabetes Typ 2 deutliche Unterschiede in den 401 Regionen Deutschlands. Die höchste Diabetes-Rate findet sich in der Prignitz (Brandenburg) und im Burgenlandkreis (Sachsen-Anhalt). Sie liegt dort bei 15,2 Prozent. Die Regionen Freiburg im Breisgau (Baden-Württemberg) und Oldenburg (Niedersachsen) haben mit 5,3 Prozent die niedrigste Diabetikerrate (siehe Grafik „Wie sich Diabetes regional verteilt“). Werden die spezifischen regionalen Alters- und Geschlechtsstrukturen berücksichtigt, reduzieren sich die Unterschiede nur geringfügig.
Gute Versorgung braucht Transparenz.
Insgesamt lassen sich mit dem neuen Hochrechnungsverfahren auf Basis bereits vorliegender Daten kleinräumige Gesundheitsdisparitäten darstellen. Ein aufwendiger Aufbau weiterer Datenpools ist nicht mehr erforderlich, um sich ein Bild davon zu machen, wo in Deutschland bestimmte Krankheiten besonders häufig vorkommen und wo sie im Vergleich dazu seltener sind. Damit steht den Akteuren im Gesundheitswesen ab sofort ein Verfahren zur Verfügung, mit dem sich auf der Basis bereits vorhandener Datenbestände das Gesundheitsrisiko für die Bevölkerung Deutschlands ermitteln lässt. Die so gewonnenen Ergebnisse können dabei helfen, die im Koalitionsvertrag fokussierten Volkskrankheiten wie Diabetes, Krebs, Demenz oder psychische Störungen in den einzelnen Regionen transparent zu machen und die gesundheitliche Versorgung vor Ort passgenau zuzuschneiden.