Hausarzt führt Top Ten bei Versorgung an
Gesundes Klima, guter Boden, viel Wasser und zwei Meere. Schleswig-Holstein ist geprägt von der Landwirtschaft. Idyllisch, sagen Urlauber. Einsam, sagen immer mehr junge Erwachsene und ziehen in die Städte. Was bedeutet die Stadtflucht für die Region, die Wirtschaft, das Zusammenleben in den Dörfern? Und welche Ängste und Erwartungen haben die Menschen, die zurückbleiben – vor allem in Hinblick auf den Ärzte- und Pflegenotstand? Darüber diskutierten Gesundheitsexperten und Politiker beim AOK-Tag der Selbstverwalter in Kiel. Von Silvia Dahlkamp
Grundlage war unter anderem eine Studie
der „Gesellschaft für Sozialforschung und statistische Analyse“ (forsa). Deren Wissenschaftler hatten im Auftrag der AOK NordWest Menschen im Norden gefragt: Wie zufrieden sind sie mit der medizinischen Versorgung vor Ort? Die Ergebnisse sind repräsentativ und zeigen, dass die Bewohner grundsätzlich zwar noch zufrieden sind, aber durchaus Engpässe wahrnehmen – in mittelgroßen Städten stärker als auf den Dörfern.
Quelle: forsa-Umfrage
Doch während vor allem die jüngere Generation technischen Lösungen, wie zum Beispiel Telesprechstunden, positiv gegenübersteht, sind Ältere eher skeptisch. In einem Punkt sind sich allerdings alle einig: Unter den Top-Ten der unverzichtbaren Dinge steht der Hausarzt an erster Stelle (siehe Grafik: Gesundheitliche Infrastruktur hat einen sehr hohen Stellenwert).
Stichwort Infrastruktur:
Sportplätze, Vereine, Restaurants, Supermärkte, Verkehrsanbindungen … – die technische und soziale Versorgung vor Ort entscheidet darüber, wie lebendig eine Gemeinde ist. Worauf möchten sie auf keinen Fall verzichten? – wollten die forsa-Wissenschaftler wissen. Die Antworten der Schleswig-Holsteiner waren eindeutig: Ganz vorn im Ranking steht der Hausarzt (94 Prozent), dann folgen Supermarkt (92 Prozent), Internetverbindung (89 Prozent), Schulen (84 Prozent), Krankenhäuser (83 Prozent) und Apotheken (80 Prozent). Die Mehrheit der Befragten gaben an, dass sie für eine gute medizinische Versorgung auch in Auto oder Bus steigen und einige Kilometer fahren würden.
Stichwort Versorgungsengpässe:
Früher war alles besser. Diesen Satz hörten die Forscher oft, als es um die Zahl der Ärzte in ihrer Stadt oder Gemeinde ging. Besonders kritisch sehen die Einwohner mittelgroßer Städte (bis 100.000 Einwohner) die medizinische Situation vor Ort. Jeder Dritte sagt, es gibt weniger Haus- und Fachärzte als früher. 16 Prozent der Interviewten nimmt eine Verschlechterung bei Kinderärzten wahr.
Durchaus besorgt, aber nicht so pessimistisch, sind auch Menschen in Kleinstädten (bis 20.000 Einwohner). Dort bedauert jeder Vierte, dass es weniger Fachärzte als früher gebe. Jeder Fünfte klagt darüber, dass die Zahl der Kinderärzte abnimmt. In den zwei größten Städten Schleswig-Holsteins – Kiel (246.000 Einwohner) und Lübeck (216.000 Einwohner) – sind die Menschen hingegen mit der medizinischen Versorgung vergleichsweise zufrieden.
Stichwort Praxis-Assistenten:
Da in den nächsten zehn Jahren eine Vielzahl von Hausärzten in Rente gehen, werden in den ländlichen Regionen Schleswig-Holsteins dringend junge Mediziner gesucht. Doch die praktizieren lieber in der Stadt. Die Menschen in den Dörfern und Städten bedauern das, 84 Prozent der Interviewten können sich aber vorstellen, dass unter Umständen auch gut ausgebildete, nichtärztliche Gesundheitsfachkräfte einen Arzt ersetzen.
„Die Erhebung zeigt, dass die Bevölkerung offen ist für innovative Versorgungsformen“, sagt Georg Keppeler, Verwaltungsratsvorsitzender der Versicherten. So bewerteten zum Beispiel 90 Prozent der Befragten ein Projekt mit gut oder sehr gut, in dem Praxis-Assistenten Patienten mit Wundheilungsstörungen oder chronischen Wunden betreuen.
Stichwort mobile Arztpraxis:
„Wir sind nah an den Menschen, kennen ihre Bedürfnisse und setzen uns für eine gute medizinische Versorgung in der Stadt, auf dem Land und auch im Internet ein“, sagt Johannes Heß, Verwaltungsratsvorsitzender der Arbeitgeber. Dazu gehört auch die Frage, ob Menschen eine mobile Arztpraxis aufsuchen würden. Die Antworten, vor allem von Rentnern, fielen eher unschlüssig aus: Grundsätzlich ja, aber nicht, wenn es nicht unbedingt sein muss.
Stichwort Videosprechstunde:
Arzt-Visiten per Video-Konferenz könnten eine Lösung auch für ältere Menschen sein, denen lange Autofahrten und lange Wartezeiten in den Praxen schwerfallen. Zurzeit läuft in Schleswig-Holstein deshalb das Projekt „elektronische Arztvisite in Pflegeheimen (elVi)“. Obwohl es sinnvoll erscheint, müssen sich viele Menschen jedoch noch an den Gedanken gewöhnen, mit dem Arzt via Video zu sprechen, ergab die forsa-Umfrage. Denn die Hälfte aller Befragten lehnt eine Online-Visite für sich persönlich ab. Von der anderen Hälfte halten es 80 Prozent für sinnvoll, zunächst mit dem Arzt über die Befunde zu reden, bevor man sich auf den Weg in die Praxis macht. Überwiegend positiv sehen Eltern von Kindern mit Diabetes Videosprechstunden. In Schleswig-Holstein werden sie bereits seit Jahren über eine „Virtuelle Diabetesambulanz“ betreut und beraten, mit guten Erfolgen.
Stichwort Erwartungen:
Wer hilft nach der Entlassung aus dem Krankenhaus? Wie bekommen Facharzt und Kliniken alle Krankenunterlagen? Wie kommt ein Rentner zum Arzt, der nicht mehr mobil ist? Die Erhebungen zeigen, dass über 90 Prozent der Interviewten von ihrer Krankenkasse erwarten, dass sie sich auch um diese Fragen kümmert.
Das Fazit von Tom Ackermann, Vorstandsvorsitzender der AOK NordWest lautet deshalb: „Wir brauchen eine noch bessere Verzahnung von ambulanter und stationärer Versorgung.“ Dabei ist laut forsa-Studie vor allem eines wichtig: die gute Qualität der Behandlung.