Flexible Arbeit kann krank machen
Die Digitalisierung verändert die Arbeitswelt. Doch mit neuen Freiheiten sind auch Risiken verbunden. Eine Studie zeigt, dass Tele-Mitarbeiter häufiger unter psychischen Beschwerden leiden. Von Markus Meyer und Andrea Waltersbacher
Das Wetter ist so schön.
Deshalb scheint die Entscheidung der Mutter logisch, lieber mit den Kindern in den Zoo zu gehen. Schließlich kann sie sich noch abends an den Schreibtisch setzen, wenn die Kleinen schlafen. Und auch morgens, auf dem Weg ins Büro, kann sie Zeit wettmachen. Im Zug liest und beantwortet sie dienstliche Mails. So kommt sie gut vorbereitet in der Firma an – ist aber irgendwie auch müde und erschöpft.
Familie und Beruf vereinbaren.
Arbeiten, wann und wo man will: Im Betrieb, beim Kunden vor Ort, von unterwegs oder zu Hause. Beschäftigte profitieren in vielerlei Hinsicht von der Digitalisierung. So können Väter und Mütter zum Beispiel Kinder und Beruf besser miteinander vereinbaren, wenn der Arbeitgeber keine starren Arbeitszeiten mehr vorgibt. Wer im Homeoffice arbeitet, spart sich lange Anfahrtswege, nervige U-Bahnfahrten und steht nicht mehr im Stau.
Quelle: AOK-Bundesverband
Und dennoch: Was sich so positiv anhört, birgt auch gesundheitliche Risiken. Denn Tele-Arbeiter leiden häufiger unter Schlafstörungen, sind nervöser und erschöpfter als ihre Kollegen in der Firma vor Ort, so das Ergebnis des aktuellen Fehlzeiten-Reports aus dem Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO). Wer häufiger zu Hause arbeitet, hat mehr Selbstzweifel und ist häufiger niedergeschlagen, zeigt die WIdO-Untersuchung. In Zeiten der Digitalisierung muss das betriebliche Gesundheitsmanagement deshalb auch zu Tele-Mitarbeitern kommen – möglicherweise auch online.
Die Gesellschaft steht derzeit an der Schwelle einer sich wandelnden Arbeitswelt. Schon heute ist mancherorts ein klassischer Arbeitstag von acht bis fünf im Betrieb selten geworden, weil die Digitalisierung die Präsenzpflicht aufhebt, Arbeit flexibel macht. Was sind die Licht- und Schattenseiten jenseits von festen Bürozeiten und festgelegten Arbeitsorten? Dazu befragten die Interviewer in einer repräsentativen Studie über 2.000 Beschäftigte zwischen 16 und 65 Jahren; 40 Prozent von ihnen arbeiten bereits flexibel.
Tele-Arbeitende leiden häufiger unter psychischen Beschwerden als ihre Kollegen in der Firma. Das zeigt eine Umfrage des Wissenschaftlichen Institutes der AOK unter 2.000 Arbeitnehmern zwischen 16 und 65 Jahren. So gaben 73 Prozent der Tele-Arbeitenden an, unter Erschöpfung zu leiden. Unter den Inhouse-Arbeitenden waren es lediglich 66 Prozent.
Quelle: Fehlzeiten-Report
Fazit: Zwei von drei Teilnehmern bewerten „die Freiheit“ als positiv und sind in der Regel auch zufriedener als viele ihrer Inhouse-Kollegen, also Mitarbeiter im Betrieb vor Ort. Als Gründe nannten sie: Sie könnten selbstständiger planen, hätten mehr Entscheidungsfreiheit und Mitspracherechte. Ein knappes Drittel der Befragten würde den Anteil mobiler Arbeit gern erhöhen. Auch, wenn das nicht nur Vor-, sondern auch Nachteile mit sich bringt.
Anrufe nach Feierabend.
So sagte ein Großteil der Befragten, dass mit der Entscheidung fürs Homeoffice auch der private Rückzugsraum schrumpft. Weil das so ist, verändern sich auch der Alltag, das Freizeitverhalten und Familienleben. Wie und weshalb, erschließt sich aus den Antworten auf die Frage, wie die Mitarbeiter im Homeoffice ihre Zeit in den vier Wochen vor der Umfrage eingeteilt hatten. Ergebnis: Flexible Arbeitszeiten bedeuten nicht, dass Arbeitnehmer weniger lange am Schreibtisch sitzen.
Jeder dritte Tele-Arbeiter gab an, dass er sehr häufig am Abend oder am Wochenende gearbeitet hat. Fast ein Fünftel bekam (sehr) häufig auch noch nach Feierabend oder an den Wochenenden Anrufe oder Mails von Vorgesetzten. Mehr als 44 Prozent der Befragten glauben, das wird erwartet. Auf diesen Gedanken kommen allerdings nur 27 Prozent ihrer Inhouse-Kollegen.
Jeder Dritte kann nach der Arbeit nur schwer in den Freizeitmodus wechseln.
Nicht im Büro, aber immer online erreichbar: Das wirkt sich auch auf das Freizeitverhalten aus. So haben knapp 70 Prozent der Tele-Arbeiter ihre privaten Pläne wegen dienstlicher Belange geändert. Knapp 19 Prozent gaben an, dass sie (sehr) häufig Probleme damit hatten, Arbeit und Freizeit zu vereinbaren.
Selbstmanagement ist gefragt.
Wann starte ich, wann mache ich eine Pause oder Feierabend? Der größere Planungsspielraum stellt auch größere Anforderungen an das Selbstmanagement der Menschen. Die Forscher vom WIdO stellten die Frage: Ist es leichter im Homeoffice Feierabend zu machen? Nein, sagten 62 Prozent der Tele-Arbeiter. Jedem Dritten fällt es schwer, nach der Arbeit in den Freizeitmodus zu wechseln. 42 Prozent grübeln noch abends auf dem Sofa über berufliche Probleme. Unter solchen „kognitiven Irritationen“ leiden Beschäftigte seltener, die morgens in die Firma fahren und abends wieder zurück. Von ihnen kann nur jeder Vierte schlecht abschalten. 70 Prozent denken zu Hause nicht an den Job. Der Report wertet diese Aussagen als Zeichen, dass vielen Menschen im Homeoffice die zur Erholung notwendige Abgrenzung von der Arbeit nicht gelingt. Das kann die Psyche belasten.
Tele-Arbeiter melden sich seltener krank.
67,5 Prozent der Tele-Arbeiter sagen, dass sie in den vergangenen vier Wochen unter Nervosität und Reizbarkeit gelitten haben. Zum Vergleich: Inhouse-Kollegen klagen weitaus seltener über solche Symptome (52,7 Prozent). Ein ähnliches Ergebnis gab es bei der Frage nach der Gemütslage. Sowohl bei Tele-Arbeitern als auch bei Kollegen vor Ort ist das Frustpotenzial vergleichsweise hoch. Doch während sich mehr als die Hälfte der Menschen im Homeoffice oft niedergeschlagen fühlen (52,3 Prozent), sind es in der Firma rund zehn Prozent weniger (42,2 Prozent). Auch von Lustlosigkeit, Selbstzweifeln und Schlafstörungen waren Beschäftigte zu Hause häufiger betroffen.
Badura, B./Ducki, A./ Schröder, H./ Klose, J./ Meyer, M.(Hrsg.): Fehlzeiten-Report 2019. Digitalisierung – gesundes Arbeiten ermöglichen. 799 Seiten. 59,99 Euro. Springer-Verlag, Heidelberg.
Obwohl die Vermutung naheliegt, dass höhere psychische Belastungen auch Einfluss auf die Fehlzeiten haben, ist dem nicht so. Denn Menschen mit flexibleren Arbeitszeiten melden sich im Jahr durchschnittlich vier Tage weniger krank als ihre Inhouse-Kollegen, die 11,9 Tage fehlen. Das heißt aber nicht, dass Tele-Mitarbeiter häufiger krank am Schreibtisch sitzen. Die Autoren vermuten, dass der Grund für die geringeren Fehlzeiten damit zusammenhängt, dass sie nicht an feste Arbeitszeiten gebunden sind. Deshalb können sie weniger arbeiten, wenn sie krank sind, aber die versäumte Zeit anschließend nachholen. Beschäftigte, die nach Stechuhr arbeiten, haben diese Möglichkeit nicht. Insgesamt gaben 23 Prozent aller befragten Mitarbeiter an, im Jahr zuvor gegen ärztlichen Rat zur Arbeit gegangen zu sein.
Chancen der Prävention nutzen.
Wie kann man die Freiheiten der Digitalisierung im Beruf nutzen und gleichzeitig verhindern, dass sie negative Auswirkungen auf die Gesundheit haben? Die Ergebnisse des Reports zeigen, dass die Gesellschaft nicht nur die Vorteile der Digitalisierung sehen darf, sondern ihre Risiken identifizieren und minimieren muss. Dabei kann betriebliches Gesundheitsmanagement helfen. Mitarbeiter im Homeoffice könnten etwa über Softwaretools geschult werden. Gesundheitsmanagement darf in Zeiten der Digitalisierung nicht mehr an den Werkstoren enden.