Landarztidylle war gestern
Für die Zukunft der Gesundheitsversorgung auf dem Land ist vor allem eines wichtig: großer regionaler Gestaltungsspielraum. Darin waren sich die Experten bei einer Podiumsdiskussion auf Einladung des AOK-Bundesverbandes einig. Von Thomas Rottschäfer
Kein Bäcker, kein Arzt
und der Bus fährt nur noch zweimal am Tag. CDU-Politikerin Gitta Connemann kennt solche Situationen aus Bürgersprechstunden. Sie vertritt im Bundestag seit 2002 den Wahlkreis Unterems und sagt: „Die romantische Vorstellung vom Landarzt in jedem Dorf ist schon lange Folklore. Ob Hausarzt, Pflege- oder Hebammenversorgung – die Besorgnis der Menschen ist gestiegen.“ Etwas entspannter ist die Situation in Großstädten wie Bremen. Dort hat Dr. Kirsten Kappert-Gonther zuletzt zwölf Jahre als niedergelassene Ärztin praktiziert, bevor sie 2017 für die Grünen in den Bundestag gewählt wurde. „Die Probleme konzentrieren sich hier eher auf soziale Brennpunkte, etwa wenn es keine Nachfolge für einen Kinderarzt gibt“, so die Bundestagsabgeordnete.
Keine Panik verbreiten.
Landarztidylle war gestern. Was kommt morgen? Über diese Frage diskutierten die beiden Politikerinnen mit dem Präsidenten der Bundesärztekammer, Dr. Klaus Reinhardt, und dem Vorstandsvorsitzenden der AOK Baden-Württemberg, Dr. Christopher Hermann, auf Einladung des AOK-Bundesverbandes in Berlin bei der Veranstaltung „AOK im Dialog“.
Nötig seien neue Modelle, die man vernetzt mit anderen politischen Initiativen für die Entwicklung des ländlichen Raum umsetzen müsse: „Wir brauchen Mut für flexible Lösungen. Denn es gibt nicht die ländlichen Räume“, betonte Connemann. Ärztepräsident Reinhardt riet zu Ehrlichkeit: „Wir werden nicht überall eine ärztliche Versorgung hinbekommen, wie wir sie in den letzten 50 Jahren hatten. Deshalb sollten wir aber keine Panik verbreiten, sondern gemeinsam intelligente Lösungen entwickeln, die den Menschen die Sorge nehmen, unversorgt dazustehen.“ Auch Kappert-Gonther betonte: „Es braucht nicht in jedem Ort einen Arzt, aber die Sicherheit, in angemessener Frist medizinische Hilfe zu bekommen.“ Das Modell der Einzelpraxis sei für viele nicht mehr attraktiv und auf Dauer nicht tragfähig. „Wir brauchen eine vernetzte Versorgung mit Verbünden aus ärztlichen und nicht-ärztlichen Gesundheitsberufen. Wir brauchen mehr Delegation.“
Assistentinnen entlasten Hausärzte.
Christopher Hermann verwies auf das Projekt VERAH. Verankert im Hausarztprogramm der AOK Baden-Württemberg mit 5.000 beteiligten Haus- und Kinderärzten und knapp 1,7 Millionen eingeschriebenen Versicherten sind dort inzwischen 2.300 speziell geschulte Medizinische Fachangestellte als Versorgungsassistentinnen unterwegs. „Sie entlasten die Hausärzte um rund 100.000 Routinebesuche pro Jahr“, so der AOK-Vorstand. Auch Klaus Reinhardt beschäftigt in seiner Hausarztpraxis in Bielefeld zwei Versorgungsassistentinnen. Dass es diese inzwischen in ganz Deutschland gebe, sei auch dem Engagement der AOKs zu verdanken. „Wir brauchen solche Möglichkeiten, um die Versorgung auf dem Land zu sichern. Das sollten wir weiter ausbauen“, so der Kammerpräsident.
Einig waren sich die Diskutanten, dass zentrale Regelungen wenig helfen. Entscheidend sei die Situation vor Ort. Die AOK hat deshalb im Frühjahr die Initiative „Stadt. Land. Gesund.“ gestartet. „Als regionale Krankenkasse sehen wir uns in besonderer Verantwortung“, betonte Hermann. „Wir kennen die Probleme vor Ort. Wir haben eine Fülle von Ideen und Projekten und bringen sie auch in Zusammenarbeit mit den Kommunen ein.“ Dafür sei aber ein größerer regionaler Gestaltungsspielraum unabdingbar.
Auch die Telemedizin ist aus Sicht der Runde ein wichtiger Schlüssel zur Lösung von Versorgungsproblemen. Eine noch so intelligente Digitalisierung könne aber am Ende nicht die ärztliche Therapieentscheidung ersetzen, warnten die Ärzte in der Runde. Connemann und Reinhardt plädierten dafür, mehr erfolgreiche Modellprojekte in die Regelversorgung zu übernehmen. „Laborbedingungen lassen sich nicht so leicht eins zu eins übertragen“, gab AOK-Vorstand Hermann zu bedenken. Er plädiert für mehr Freiwilligkeit und eine Abkehr von überbordender Regelungswut.
Mehr Informationen zur Initiative Stadt. Land. Gesund.
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