Schutzpflichten von Heimen präzisiert
Betreiber eines Heims für behinderte Menschen sollten immer die Wassertemperatur in den Badezimmern der Bewohner und die dazu geltenden DIN-Normen im Blick haben. Denn der Heimträger muss die ihm anvertrauten Menschen vor Verbrühungen schützen. Das hat der Bundesgerichtshof entschieden. Von Anja Mertens
– III ZR 113/18 –
Bundesgerichtshof
In betreuten Wohn- und Pflegeheimen
kommt es immer wieder zu schweren Unfällen. Bewohner werden verletzt – mitunter mit lebenslangen Folgen. Solche Vorfälle schockieren nicht nur, sondern werfen oftmals eine Vielzahl rechtlicher Fragen und Probleme auf. So geschehen im Fall einer geistig behinderten Frau, der dem Bundesgerichtshof (BGH) zur Entscheidung vorlag.
Die 1969 geborene Frau, die am Prader-Willy-Syndrom leidet, lebt seit März 2012 in einem Wohnheim für Menschen mit einer geistigen Behinderung. Im April 2013 wollte sie ein Bad nehmen und hatte das mit einer Betreuerin abgesprochen. Sie ließ sich heißes Wasser in eine mobile, in der Dusche bereit gestellte Sitzbadewanne ein. Die Temperatur regelte ein Einhebelmischer, der keine Temperaturbegrenzung hatte. Anders als üblich war aber an diesem Tag das ausströmende Wasser so heiß, dass sie schwerste Verbrühungen an beiden Füßen und Unterschenkeln erlitt. Sie schaffte es nicht, sich alleine aus der Situation zu befreien und schrie um Hilfe. Ein anderer Heimbewohner eilte zu ihr, ließ das Wasser ab und rief eine Pflegekraft herbei.
Schwerste Verbrühungen erlitten.
Die Frau hatte sich so schwere Verbrühungen zugezogen, dass Ärzte in einem Krankenhaus mehrere Hauttransplantationen vornehmen mussten. Dabei kam es zu Komplikationen, in deren Verlauf sich die Frau zudem mit einem multiresistenten Keim ansteckte. Mittlerweile kann sie nicht mehr laufen und braucht einen Rollstuhl. Außerdem hat sie seit dem Unfall große psychische Probleme. Dies äußert sich zum Beispiel in häufigen und anhaltenden Schreianfällen. Die Frau, die rechtlich von ihrer Mutter vertreten wird, war der Auffassung, dass das Heim sie pflichtwidrig ohne Aufsicht und insbesondere ohne Kontrolle der Wassertemperatur baden ließ.
Heime müssen ihre Bewohner vor einer Gefahrenlage schützen, die in einer DIN-Norm beschrieben ist.
Sie klagte gegen die Trägerin des Wohnheims und verlangte Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 50.000 Euro, eine monatliche Rente von 300 Euro sowie die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für weitere materielle und immaterielle Schäden. Die Klägerin stützte ihre Ansprüche darauf, dass das Badewasser annähernd 100 Grad Celsius heiß gewesen sei. Aber selbst bei einer konstanten Einstellung der Wassertemperatur auf „nur“ 60 Grad sei diese zu hoch gewesen. Zur Abtötung etwaiger Keime genüge es, das Wasser einmal am Tag auf 60 Grad aufzuheizen. Die DIN-Norm EN 806-2 für die Planung von Trinkwasserinstallationen aus dem Jahr 2005 empfehle für bestimmte Einrichtungen wie Krankenhäuser, Schulen und Seniorenheime eine Höchsttemperatur von 43 Grad, für Kindergärten und Pflegeheime sogar nur 38 Grad.
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Das Landgericht wies die Klage der Heimbewohnerin zurück. Daraufhin legte sie Berufung beim Oberlandesgericht (OLG) ein, hatte aber auch dort keinen Erfolg. Nach Ansicht der OLG-Richter sei der Heimbetreiber nicht verpflichtet gewesen, die DIN-Norm EN 806-2 einzuhalten. Es handele sich nur um eine technische Regel zur Planung von Trinkwasseranlagen. Außerdem sei die Norm von 2005 und damit Jahrzehnte nach der Errichtung des Wohnheimes in Kraft getreten. Auch die Kontrolle der Wassertemperatur durch eine Betreuungskraft sei nicht erforderlich gewesen. Denn die Klägerin habe in der Vergangenheit problemlos mehrfach selbstständig gebadet, so das OLG.
DIN-Normen sind zu berücksichtigen.
Gegen diese Entscheidung legte die Klägerin Revision beim BGH ein. Die obersten Zivilrichter gaben ihr im Grundsatz recht und verwiesen das Verfahren zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Oberlandesgericht zurück. Ein Heimbetreiber habe die Pflicht, die ihm anvertrauten Bewohner „unter Wahrung der Würde und des Selbstbestimmungsrechts vor Gefahren zu schützen, die sie nicht beherrschen“, so der BGH. Welchen konkreten Inhalt die Verpflichtung habe, die Menschenwürde und das Freiheitsrecht eines körperlich oder geistig beeinträchtigten Heimbewohners zu achten und sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit zu schützen, ließe sich nicht generell entscheiden. Vielmehr seien alle Umstände des Einzelfalls abzuwägen. In diese Einzelfallabwägung könnten auch technische Regelungen wie insbesondere DIN-Normen einbezogen werden. Diese hätten zwar keine normative Geltung. Weil sie aber den allgemein anerkannten Stand der Technik wiedergeben würden, könnten sie dazu herangezogen werden, Inhalt und Umfang von Verkehrssicherungspflichten festzustellen.
Heim muss Schutzvorkehrungen treffen.
Ein Bewohner, der dem Heim zum Schutz seiner körperlichen Unversehrtheit anvertraut sei, könne erwarten, dass man ihn vor einer in einer DIN-Norm beschriebenen Gefahrenlage schützt, wenn er selbst wegen körperlicher oder geistiger Einschränkungen die Gefahr nicht erkennen und angemessen auf sie reagieren könne. Das Wohnheim hätte entweder die Begrenzung der Temperatur des austretenden Wassers entsprechend den Empfehlungen der DIN EN 806-2 technisch sicherstellen müssen. Dies wäre auch ohne Umbau oder Erneuerung der gesamten Heizungsanlage allein durch einen Austausch der Mischarmaturen in der Dusche möglich gewesen. Oder aber eine Betreuungskraft der Einrichtung hätte die Temperatur des Badewassers überprüfen müssen, um die Klägerin vor Schaden zu bewahren.
Kommentar: Das Berufungsgericht muss im neuen Verfahren prüfen, ob die Klägerin nach Art und Ausmaß ihrer Behinderung zum schutzbedürftigen Personenkreis gehört. Wird dies bejaht, haftet das Heim wegen Verletzung einer vertraglichen beziehungsweise einer deliktischen Verkehrssicherungspflicht (Paragrafen 280 beziehungsweise 823 Bürgerliches Gesetzbuch). Praxisrelevant ist das Urteil des BGH deshalb bereits jetzt.