Interview

„Jungen geraten ins Abseits“

Viele Menschen überschätzen die Häufigkeit schwerer Gewalttaten. Andere Risiken unterschätzen sie hingegen – so das exzessive Computerspielen, meint Prof. Dr. Christian Pfeiffer. Der Kriminologe beklagt, dass männliche Jugendliche dadurch den Anschluss verlieren.

Herr Professor Pfeiffer, viele Menschen haben das Gefühl, die Zahl der Gewaltverbrechen habe zugenommen. Wie groß ist das Risiko tatsächlich, Opfer einer Gewalttat zu werden?

Christian Pfeiffer: Unsere Daten zeigen: Je schwerer eine Gewalttat ist, umso stärker ist die Häufigkeit zurückgegangen. Beim Sexualmord beispielsweise beträgt der Rückgang seit Mitte der 80er-Jahre über 90 Prozent. Ähnlich sieht das bei anderen schwersten Delikten aus, wie etwa den Kindestötungen: Ihre Zahl hat um zwei Drittel abgenommen. Viele Menschen überschätzen die Häufigkeit von Gewaltverbrechen. Die Fehleinschätzungen sind umso gravierender, je schwerer die Tat ausfällt. Beispielsweise die Zahl der Schusswaffentötungen halten die von uns dazu Befragten für weitaus höher als sie in Wirklichkeit vorkommen.

Porträt von Prof. Dr. Christian Pfeiffer, Kriminologe

Zur Person

Prof. Dr. Christian Pfeiffer ist Kriminologe und ehemaliger Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen. Von 2000 bis 2003 war Pfeiffer niedersächsischer Justizminister.

Worauf führen Sie das zurück?

Pfeiffer: Wir haben eine dramatische Zunahme der Präsentation brutaler Gewalttaten im Fernsehen, weil das Einschaltquoten erhöht. Die Einschätzungen zur Kriminalitätslage werden aber massiv durch das beeinflusst, was Bilder uns übermitteln. Solange wir nur darüber lesen oder hören, entwickelt sich die Vorstellung des Geschehens von innen nach außen so, dass unsere Seele weitgehend im Gleichgewicht bleibt. Das Fernsehen stülpt den Menschen Bilder über. Gerade in Krimis geschieht das häufig. Daraus resultiert das Phänomen, dass bei sinkender Rate der schwersten Gewalttaten die Menschen glauben: Alles wird schlimmer.

Kommen wir nun zu Risiken, die eher unterschätzt werden. Welches Beispiel haben Sie dafür?

Pfeiffer: Ein Risiko, das völlig unterschätzt wird, ist die Gefahr, dass die männlichen Jugendlichen immer mehr in den Bann des Computerspielens geraten und dadurch die Perspektiven auf ein sinnvolles Berufsleben verlieren. In den USA arbeiten inzwischen 15 Prozent der Männer im Alter von 21 bis 30 nicht, sondern verbringen ihre Zeit fast ausschließlich mit Computerspielen. Das sind 2,37 Millionen junge Menschen, die vom Kurs abgekommen sind.

Wir brauchen attraktive Angebote an Schulen, die spannender sind als Computerspiele.

Ist es nicht eher umgekehrt: Die jungen Männer widmen sich Computerspielen, weil sie keine Arbeit finden?

Pfeiffer: Nein, denn sie geraten bereits als Schüler ins Abseits. Je früher das massive Computerspielen einsetzt, umso schlechter fallen die Schulnoten aus. Daten von uns zeigen, dass in Niedersachsen jeder vierte männliche Jugendliche pro Tag viereinhalb Stunden und mehr am Computer verbringt. Bei den Mädchen sind es nur 2,3 Prozent, die so lange online sind. Darum ist es nicht verwunderlich, dass von 100 15-jährigen Jungen nur 29 das Gymnasium besuchen – bei den Mädchen sind es 38. Beim Sitzenbleiben dagegen dominieren die Jungen. Diese Diskrepanzen setzen sich in Studium und Ausbildung fort. Das ist bedrohlich für ein Land mit Fachkräftemangel. Zudem wächst die Gefahr, dass die Jugendlichen eine Spielsucht entwickeln. Die Ausgangsbeschränkungen während der Corona-Pandemie könnten das Problem verschärft haben: Es gibt allen Grund zur Sorge, dass viele Jugendliche nach einer Phase des Intensivspielens so weitermachen.

Wie lässt sich gegensteuern?

Pfeiffer: Wir brauchen attraktive Angebote an Schulen, die spannender sind als Computerspiele, faszinierende Aktivitäten, verankert im realen Leben und nicht in der virtuellen Welt.

Änne Töpfer führte das Interview. Sie ist verantwortliche Redakteurin der G+G.
Bildnachweis: privat