Interview

„Wir müssen die Pandemie mitbedenken“

Im Umgang mit Covid-19 hat sich das deutsche Gesundheitssystem bewährt, sagt Hessens Gesundheitsminister Kai Klose. Er betont dabei die Rolle der Gesundheitsämter. Zudem will der Grünen-Politiker die Pandemie bei der Krankenhausplanung berücksichtigen.

Herr Minister Klose, hätten Sie zu Ihrem Amtsantritt damit gerechnet, dass gut ein Jahr später das Thema Corona alles andere dominieren würde?

Kai Klose: Nein, das hat so niemand vorhergesehen. Alle Bundesländer und der Bund hatten Pandemiepläne, die waren aber auf eine influenza-ähnliche Erkrankung ausgelegt. Wir konnten manches aus diesen Plänen nutzen, aber es gab auch große Unterschiede. Das Coronavirus ist ein neues Virus, es hat uns vor völlig neue Herausforderungen gestellt. Es galt, darauf sehr beherzt und schnell zu reagieren.

Wie viel Zeit verwenden Sie für das Thema Corona?

Klose: Es gab Phasen im ersten Halbjahr, da waren es gefühlt 110 Prozent. Von März bis April ist das Corona-Kabinett der Landesregierung fast täglich zusammengekommen, um die Maßnahmen in Hessen zu koordinieren. Später gab es wieder ein bisschen Luft, um die zahlreichen anderen Themen dieses Hauses zu bearbeiten, wie andere gesundheitspolitische Themen, Familienpolitik, Arbeitsmarkt, Integration. Es sind aber immer noch 80 Prozent meiner Zeit, in denen es um Corona und die damit zusammenhängenden Fragen geht, etwa Hygieneempfehlungen für die Kitas.  

In der Corona-Politik gibt es unterschiedliche Ansätze. Die einen sagen: Wir bauchen mehr bundesweite Regelungen. Die anderen sagen: Wir brauchen mehr Föderalismus, mehr Vor-Ort-Regelungen. Wo stehen Sie?

Klose: Es gibt kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch. Wenn es etwa um den Umgang mit Reiserückkehrenden geht, dann ist es gut und richtig, dass Bund und Länder sich auf bundeseinheitliche Regelungen verständigt haben. Genauso gibt es Bereiche, die wir so regional und lokal wie möglich regeln.

Zum Beispiel?

Klose: Vor einigen Wochen gab es im Rhein-Main-Gebiet ein erstes verstärktes Infektionsgeschehen. Wir waren in der Lage zu sagen: An bestimmten Orten, in der Stadt Frankfurt, in Offenbach oder in Wiesbaden gelten jetzt verschärfte Regeln. Und wir können noch kleinräumiger denken. Wenn es ein Ausbruchsgeschehen in einem bestimmten Pflegeheim gibt, kann es genügen, genau diesen Ort stärker abzuschotten. Das haben wir in unserem Präventions- und Eskalationsstufenkonzept zusammen mit den Kommunen genau so angelegt.

Eine häufige Frage lautet: Warum ist Deutschland vergleichsweise gut durch die Krise gekommen? Was ist Ihre Antwort?

Klose: Auch die New York Times hat sich unlängst mit dieser Frage befasst und entdeckt: In der Bundesrepublik gibt es etwas ganz Erstaunliches, eine dritte Säule im Gesundheitswesen, die andere Länder so nicht kennen: den Öffentlichen Gesundheitsdienst. Wir haben hier eine klar geregelte Zuständigkeit für die Suche nach Kontaktpersonen, für die Nachverfolgung, für die Unterbrechung der Infektionsketten. Die Gesundheitsämter – sie sind in Hessen komplett kommunalisiert – stehen jetzt mehr im Mittelpunkt als je zuvor. Mit den Gesundheitsämtern haben die Bürgerinnen und Bürger sonst wenig zu tun, von der Schuleingangsuntersuchung abgesehen. Jetzt zeigt sich, wie wichtig sie sind. Deshalb haben Bund und Länder einen Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst geschlossen. Bis Ende 2022 sollen mindestens 5.000 neue unbefristete Stellen geschaffen werden, davon bereits bis Ende 2021 mindestens 1.500 Stellen für Ärztinnen und Ärzte, für weiteres Fachpersonal und Verwaltungsmitarbeiter.

Was ist mit den anderen Säulen, der ambulanten und stationären Versorgung?

Klose: Corona hat gezeigt: Unser Gesundheitssystem ist insgesamt leistungsfähig, weit mehr, als wir es manchmal selbst realisieren, weil es immer auch Unzufriedenheit gibt. Wir haben sehr früh unter dem Eindruck der Bilder aus Bergamo und dem Elsass gesagt: Es darf uns nicht passieren, dass Ärzte entscheiden müssen, dass die Person A an das Beatmungsgerät darf, die Person B nicht. Deshalb haben wir sehr früh reagiert und haben die Kapazitäten im Intensiv- und Beatmungsbereich hochgefahren. Wir haben hier in Hessen einen eigenen Planungsstab für die stationäre Versorgung gegründet, haben die Krankenhäuser untereinander vernetzt – trotz aller Konkurrenz, die es zwischen den Häusern auch gibt. Das hat uns sehr geholfen, durch die kritische Zeit zu kommen. Auch die hervorragende Zusammenarbeit mit den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten ist wichtig, die es übernommen haben, diejenigen zu versorgen, die keine oder nur milde Symptome hatten. Wir haben uns schnell untergehakt, um aus dieser schwierigen Situation gemeinsam das Beste zu machen.

Die Gesundheitsämter stehen jetzt mehr im Mittelpunkt als je zuvor.

Jetzt sagen viele, Corona habe gezeigt, dass die kleinen Krankenhäuser und jedes Bett erhalten werden müssten – obwohl die schwer Erkrankten ja in großen Häusern versorgt wurden.

Klose: Auch in Hessen sollen die Patientinnen und Patienten mit schweren Erkrankungsverläufen in den Häusern versorgt werden, die am leistungsfähigsten sind, nicht nur technisch, sondern auch personell. Was das für die Krankenhausstruktur der Zukunft bedeutet, wird sich zeigen. Eines ist aber klar: Wir müssen die Pandemie mitbedenken. Wir haben gerade unseren Krankenhausplan fortgeschrieben und dort ein Sonderkapitel zu Corona angefügt. Die Notfallversorgung, und dazu gehört auch die Bewältigung einer Pandemie, wird künftig einen höheren Stellenwert einnehmen. Wir werden entsprechende Strukturen vorhalten und  finanzieren. Darüber hinaus gibt es auf den Feldern, die über die Grund- und Notfallversorgung hinausgehen, auch unabhängig von Corona eine Entwicklung hin zur Spezialisierung in Zentren. Das ist ein bundesweiter Trend.

Hessen hat neben der Metropolregion Rhein-Main viele länd­liche Regionen. Mit den Akteuren des Gesundheitswesens haben Sie einen Gesundheitspakt 3.0 geschlossen. Worum geht es da?

Klose: Der Plan betrifft beispielsweise die Ansiedlung von Ärztinnen und Ärzten im ländlichen Raum, die Fachkräftesicherung im nichtärztlichen Bereich sowie die Stärkung der sektorenübergreifenden Versorgung – auch mithilfe von telemedizinischen Anwendungen. Zudem wollen wir in Zusammenarbeit mit Kassenärztlicher Vereinigung, den Kommunen und den Kostenträgern in jedem Landkreis ein Gesundheitszentrum etablieren. Ein Beispiel ist das neue Gesundheitszentrum Breitscheid im Lahn-Dill-Kreis. Es setzt sektorenübergreifend an, vereint Gesundheitseinrichtungen wie die hausärztliche Praxisgemeinschaft, eine Praxis für Physiotherapie, den Hörgeräteakustiker und die Apotheke mit Pflege- und Sozialeinrichtungen wie Gemeindepflegestation, Tagespflege und Wohngemeinschaft mit Intensivpflege unter einem Dach. Das umfassende Leistungsangebot verbessert die Versorgung, attraktive Arbeitsbedingungen im ländlichen Raum entstehen.

Wigbert Tocha führte das Interview. Er ist Chef vom Dienst der AOK-Mitarbeiterzeitung :intro beim KomPart-Verlag.
Bildnachweis: Klaus Helbig