Stationäre Langzeitpflege

Ein Maß für den Personalbedarf

Um gute Pflege sicherzustellen, sollten Heime die Zahl ihrer Beschäftigten um durchschnittlich rund ein Drittel aufstocken. Dabei sind vor allem Assistenzkräfte gefragt. Das zeigt ein Verfahren zur Personalbemessung, das Wissenschaftler der Universität Bremen im gesetzlichen Auftrag entwickelt haben. Studienleiter Prof. Dr. Heinz Rothgang skizziert die nächsten Umsetzungsschritte.

Wie häufig Menschen in Pflegeeinrichtungen unter gesundheitlichen Beeinträchtigungen wie Druckgeschwüren oder Harnwegsinfekten leiden, hängt auch von der Zahl und Qualifikation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ab. Darauf weisen etwa Studien aus den Vereinigten Staaten hin, über die Stefan Greß und Klaus Stegmüller im „Pflege-Report 2018“ berichteten (siehe Lese- und Webtipps). Demnach führten gesetzliche Vorgaben für Mindeststandards bei der Personalbemessung zu einer besseren Personalausstattung von Pflegeeinrichtungen. Positive Effekte auf die Pflegequalität hätten sich vor allem durch die Neueinstellung von Pflegefachkräften ergeben.

Auch wenn die Forschung auf diesem Feld noch rudimentär ist, gilt eine bedarfsgerechte Personalausstattung als zentraler Faktor zur dauerhaften Sicherstellung guter Pflegequalität. Dennoch unterscheiden sich Pflegeeinrichtungen in Deutschland hinsichtlich der Zahl und Qualifikation der Beschäftigten (Care-Mix) im Verhältnis zur Zahl der Bewohnerinnen und Bewohner und deren Pflegegrad (Case-Mix) deutlich. Das lässt angesichts bundeseinheitlicher Pflegebedürftigkeitskriterien auf eine mangelnde Verteilungsgerechtigkeit schließen. Zudem beklagen Fachleute seit vielen Jahren, dass die Personalausstattung für eine fachgerechte Pflege unzureichend, die Bedarfsgerechtigkeit also ebenfalls nicht gewährleistet sei. Unzureichende Personalmengen führen dabei zu einer Überforderung der vorhandenen Pflegekräfte. Das zeigt sich an einem höheren Krankenstand und einer höheren Quote an Erwerbsminderungsrenten. Diese Situation und vorzeitige Berufsausstiege verschärfen die Personalengpässe, was wiederum die Arbeitsbelastung erhöht.

Verfahren kann eingeführt werden.

Mit dem zweiten Pflegestärkungsgesetz hat der Gesetzgeber daher den GKV-Spitzenverband und die Träger der Pflegeeinrichtungen (Vertragsparteien nach Paragraf 113 Sozialgesetzbuch XI) aufgefordert, im Einvernehmen mit dem Gesundheits- und Familienministerium ein Verfahren der Personalbemessung für Pflegeeinrichtungen entwickeln und erproben zu lassen.

Eine Aufstockung beim Personal verbessert nicht automatisch die Pflegequalität.

Nach der Vorgabe des Gesetzgebers war ein strukturiertes, empirisch abgesichertes und valides Verfahren auf der Basis des durchschnittlichen Versorgungsaufwands für direkte und indirekte pflegerische Maßnahmen sowie für Hilfen bei der Haushaltsführung zu erstellen. Dabei galt es, die fachlichen Ziele und die Konzeption des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs zu Grunde zu legen. Für die Entwicklung des Verfahrens waren einheitliche Maßstäbe zu ermitteln, die insbesondere Qualifikationsanforderungen, quantitative Bedarfe und die fachliche Angemessenheit der pflegerischen Handlungen berücksichtigen. Den Auftrag, dieses Verfahren zu entwickeln und zu erproben, hat die Universität Bremen erhalten. Im September 2020 ist der Abschlussbericht erschienen (siehe Lese- und Webtipps). Das Personalbemessungsverfahren kann somit eingeführt werden.

Ist-Situation in Einrichtungen erhoben.

Zur Entwicklung dieses Instruments haben die Wissenschaftler einen kombiniert empirischen und analytischen Ansatz gewählt. Ausgangspunkt war dabei die IST-Situation der Leistungserbringung, also die unter aktuellen personellen und organisatorischen Rahmenbedingungen erbrachten Interventionsmengen und -zeiten sowie die Qualifikation der Pflegekraft, die die jeweilige pflegerische Handlung ausführt (siehe Glossar). Auf Basis der erhobenen IST-Werte lassen sich SOLL-Werte errechnen, indem zeitliche Zu- und Abschläge für eine bedarfsgerechte Versorgung anhand zuvor definierter Kriterien hinzuaddiert werden. Diese Werte haben die Projektbeteiligten in einer Beobachtungsstudie ermittelt. Dazu haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Bremen von März bis Oktober 2018 in insgesamt 62 vollstationären Einrichtungen beziehungsweise Teilbereichen von Einrichtungen rund 2.000 Schichten beobachtet. Einbezogen waren insgesamt 1.380 Pflegebedürftige und 241 Pflegefachkräfte als Datenerhebende, die jeweils eine Pflegekraft „beschattet“ haben. Dabei wurden Daten zu mehr als 144.000 Interventionen (Pflegehandlungen) erhoben.

In jedem Pflegegrad Mehrbedarfe.

Zentrales Ergebnis ist ein als „Algorithmus 1.0“ bezeichnetes Rechenverfahren. Der Algorithmus ermittelt auf Einrichtungsebene aus der nach Pflegegrad differenzierten Zahl der Heimbewohner ein nach Qualifikationsniveau differenziertes bedarfsgerechtes Pflegepersonalvolumen. Dabei zeigen sich in jedem Pflegegrad im Vergleich zu den derzeitigen Pflegeschlüsseln Mehrbedarfe.

Grafik: Neues Bemessungsverfahren: Algorithmus 1.0 errechnet Personalmehrbedarf

Die stationäre Langzeitpflege braucht mehr Kräfte. Das zeigt das neue, vom Gesetzgeber in Auftrag gegebene Personalbemessungsverfahren. Demnach sollte die Zahl der Beschäftigten in Heimen durchschnittlich um insgesamt 36 Prozent wachsen: Versorgt nach dem derzeit gültigen Personalschlüssel eine Pflegekraft 2,5 Bewohner, beträgt das Betreuungsverhältnis nach dem neuen Bemessungsverfahren eins zu 1,8. Der Personalmehrbedarf steigt mit dem Pflegegrad: Während das neue Bemessungsverfahren für Pflegegrad 1 auf 45 Prozent Mehrbedarf kommt, sind es im Pflegegrad 5 64 Prozent (nach Vollzeitäquivalenten: Teilzeitstellen werden in Vollzeit umgerechnet).

Quelle: Rothgang et al. 2020

Als Referenz fungieren hierbei die zum Zeitpunkt der Berichtslegung zur Besetzung zur Verfügung stehenden Personalstellen. Diese ergeben sich aus den bestehenden Personalrichtwerten zuzüglich der 13.000 Stellen nach dem Pflegepersonal-Stärkungsgesetz, die proportional auf die Pflegegrade verteilt wurden. Davon abzuziehen sind die Sonderschlüssel für Pflegedienstleitungen, Betreuung und Qualitätsbeauftragte. Die absoluten und relativen Personalmehrbedarfe steigen mit dem Pflegegrad (siehe Kasten „Algorithmus 1.0 errechnet Personalmehrbedarf“).

Qualifikationsmix ersetzt Fachkraftquote.

Da der bedarfsgerechte Qualifikationsmix der Pflegekräfte von der Pflegegradstruktur der Bewohnerschaft abhängt, ersetzt ein heimindividueller bedarfsgerechter Pflegepersonalmix die aktuell gültige starre Fachkraftquote. Dabei wird nach vier Qualifikationsstufen unterschieden: Niveau 1 umfasst Beschäftigte ohne Ausbildung nach vier Monaten angeleiteter Tätigkeit, Niveau 2 Pflegekräfte ohne Ausbildung mit einem zwei- bis sechsmonatigen Pflegebasiskurs und einjähriger angeleiteter Tätigkeit sowie Betreuungskräfte, Niveau 3 Pflegehelferinnen und -helfer mit ein- oder zweijähriger Ausbildung und Niveau 4 Pflegefachpersonen mit dreijähriger Ausbildung. Mit dem Algorithmus 1.0 lässt sich die SOLL-Zeitmenge je Pflegegrad nach dem Qualifikationsniveau aufschlüsseln. So beträgt der Anteil an durch Pflegefachpersonen (Niveau 4) zu erbringenden Leistungen beispielsweise für den Pflegegrad 1 demnach 19 Prozent gegenüber 64 Prozent für den Pflegegrad 5. Über alle Pflegegrade hinweg ergibt sich für die SOLL-Zeitmenge ein Qualifikationsmix von 38 Prozent der Kräfte auf Niveau 4, 32 Prozent auf Niveau 3, 26 Prozent auf Niveau 2 und vier Prozent auf Niveau 1.

Steigerungsraten für refinanzierbare Stellen.

Bei der bundesdurchschnittlichen Pflegegradverteilung ergeben sich daraus Personalmehrbedarfe von insgesamt 36 Prozent – allerdings weit überwiegend Assistenzkräfte (69 Prozent gegenüber 3,5 Prozent Fachkräften). Die Steigerungsraten beziehen sich dabei jeweils auf refinanzierbare Stellen. Wird das Ergebnis des Algorithmus 1.0 in Relation zu den derzeit besetzten Stellen gesetzt, ergeben sich aufgrund der unbesetzten Stellen höhere Steigerungsraten.

Ein Mass - Grafik: Pflegepersonalmehrbedarf - 800 px

Von den insgesamt 116.532 neuen Stellen in der stationären Langzeitpflege, die nach dem neuen Personalbemessungsverfahren zu schaffen sind, entfällt die große Mehrheit auf Assistenzkräfte. Davon entfallen nach Berechnung des „Algorithmus 1.0“ 88.338 Stellen auf Assistenzkräfte mit einer ein- bis zweijährigen Ausbildung.

Quelle: Rothgang et al. 2020

Bezogen auf eine angesetzte Stellenzahl von 321.912 Vollzeit­äquivalenten (hierbei werden Teilzeitstellen in Vollzeit umgerechnet) für das Jahr 2019 resultieren Pflegepersonalmehrbedarfe im Umfang von insgesamt 116.532 Vollzeitstellen, davon 5.672 Fachkraft- und 110.860 Assistenzkraftstellen (siehe Kasten „Besonders gefragt: Pflegeassistenzkräfte“). Werden diese wiederum gemäß den Ergebnissen aus der Beobachtungsstudie zur Entwicklung des Bemessungsinstruments unterteilt, ergibt sich bei den Pflegeassistenzkräften ohne Ausbildung (Niveau 1 und 2) ein Mehrbedarf von 22.522 Vollzeitäquivalenten und bei den Pflegeassistenzkräfte mit ein- bis zweijähriger Ausbildung (Niveau 3) ein Mehrbedarf von 88.338 Vollzeitäquivalenten.

Rollen neu definieren.

Eine Aufstockung der Beschäftigtenzahlen allein führt aber nicht automatisch zu den erwünschten Verbesserungen der Pflegequalität und der Arbeitsbedingungen der Pflegenden. Vielmehr sind zudem Organisations- und Personalentwicklungsprozesse erforderlich. In deren Rahmen muss eine kompetenzorientierte Neudefinition der Rollen von Fach- und Assistenzkräften erfolgen.

Indem Assistenzkräfte einfachere Tätigkeiten in der Pflege und Betreuung übernehmen, wird es den Pflegefachkräften ermöglicht, Vorbehaltsaufgaben (die Erhebung und Feststellung des individuellen Pflegebedarfs, die Organisation, Gestaltung und Steuerung des Pflegeprozesses, die Analyse, Evaluation, Sicherung und Entwicklung der Pflegequalität) und komplexe pflegerische Aufgaben zu übernehmen beziehungsweise dazu anzuleiten sowie in komplexen und instabilen Situationen selbst zu pflegen.

Eine weitere Entlastung ist durch die in den nächsten Jahren verstärkt zur Verfügung stehenden akademisch ausgebildeten Pflegefachkräfte zu erwarten. Deren konkrete Aufgaben müssen jedoch sowohl fachlich, als auch organisatorisch noch bestimmt werden. Notwendig sind zudem Organisationsentwicklungsmodelle, die den veränderten Personalkonstellationen Rechnung tragen. Sie müssen auf Konzepten beruhen, die kompetenzorientierte Pflege und Bezugspflege – eine ganzheitlich orientierte Vorgehensweise, bei der eine Pflegekraft einer bestimmten Gruppe von Pflegebedürftigen zugeordnet ist – miteinander verbinden.

Verbindlichen Zeitplan festlegen.

Der ermittelte Personalmehrbedarf lässt sich nicht von einem auf den anderen Tag befriedigen. Die benötigten Pflegekräfte müssen erst einmal durch verstärkte Ausbildungsanstrengungen – insbesondere bei Assistenzkräften – gewonnen beziehungsweise zusätzlich gehalten werden. Zudem sind zeitintensive Organisations- und Personalentwicklungsprozesse in den Pflegeeinrichtungen notwendig. Im Abschlussbericht zur Entwicklung des Personalbemessungsinstruments empfehlen die Autorinnen und Autoren daher einen mehrjährigen Umsetzungs- und Konvergenzprozess. Die Aufstockung des Personals sollte bereits Anfang des Jahres 2021 beginnen. Für die weiteren Umsetzungsschritte in allen Pflegeheimen muss es einen verbindlichen Zeitplan geben. Zudem sollten die Ergebnisse des Algorithmus 1.0 modellhaft zeitnah in einer begrenzten Zahl von Pflegeheimen in (annähernd) voller Höhe umgesetzt werden.

Gesetzgeber sieht zügige Umsetzung vor.

Bereits im Juni 2019 hat sich die von Gesundheits-, Familien- und Arbeitsministerium initiierte Konzertierte Aktion Pflege (KAP) verpflichtet, das Personalbemessungsverfahren „in geeigneten Schritten gemeinsam zügig anzugehen“. In dem im November 2020 publizierten ersten Bericht zum Stand der Umsetzung der Vereinbarungen der KAP wird das Ziel bekräftigt, „die Umsetzung des Personalbemessungsverfahrens zügig vorzubereiten und … gesetzlich zu verankern“. Das Gesundheitsversorgungs- und Pflegeverbesserungsgesetz (GPVG), das eine erste Personalausbaustufe vorsieht, wird dabei ausdrücklich als „ein erster Schritt in Richtung eines verbindlichen Personalbemessungsverfahrens für vollstationäre Pflegeeinrichtungen“ bezeichnet.

  • Abschlussbericht im Projekt Entwicklung und Erprobung eines wissenschaftlich fundierten Verfahrens zur einheitlichen Bemessung des Personalbedarfs in Pflegeeinrichtungen nach qualitativen und quantitativen Maßstäben. PDF zum Download
  • Klaus Jacobs, Adelheid Kuhlmey, Stefan Greß, Jürgen Klauber, Antje Schwinger (Hrsg.): Pflege-Report 2018. Qualität in der Pflege. Springer-Verlag.
  • Heinz Rothgang, Mathias Fünfstück, Thomas Kalwitzki: Personalbemessung in der Langzeitpflege. In: Klaus Jacobs, Adelheid Kuhlmey, Stefan Greß, Jürgen Klauber, Antje Schwinger (Hrsg.): Pflege-Report 2019. Mehr Personal in der Langzeitpflege – aber woher? Springer-Verlag.
  • Bundesministerium für Gesundheit: Konzertierte Aktion Pflege

Das GVPG konzentriert sich auf das erste der vorstehend genannten drei Elemente des Einführungsprozesses. Es sieht in Bezug auf die „zukunftsorientierte Personalausstattung für vollstationäre Pflegeeinrichtungen“ vor, dass – gestaffelt nach Pflegegraden – zusätzliche Pflegekräfte im Qualifikationsniveau 3 (oder in geplanter Ausbildung hierzu) im Umfang von bis zu 20.000 Vollzeitstellen durch einen Vergütungszuschlag ohne direkte Kostenbeteiligung der Heimbewohnenden finanziert werden können.

Erste Ausbaustufe mit Assistenzkräften.

Die für die einzelnen Pflegegrade angegebenen Personalziffern entsprechen dabei in ihrer Spreizung den Ergebnissen des Projektes zur Entwicklung und Erprobung des hier beschriebenen Personalbemessungsverfahrens und sind somit sinnvoll gewählt. Mit dem Vergütungszuschlag wird für die Einrichtungen ein Anreiz gegeben, sich um entsprechendes Personal zu bemühen und ein entsprechender Wettbewerb in Gang gesetzt, ohne den Einrichtungen, die dabei kurzfristig nicht erfolgreich sind, ordnungsrechtliche Konsequenzen anzudrohen. Da sich der erkannte Pflegepersonalmehrbedarf insbesondere auf die Pflegeassistenzkräfte mit Ausbildung in Qualifikationsniveau 3 bezieht, ist es sinnvoll, den ersten Umsetzungsschritt genau auf diese Personalkategorie zu beziehen. Dass die Refinanzierungsoption für zusätzliche Stellen auch gilt, wenn die Pflegekräfte eine entsprechende Ausbildung erst angetreten haben oder so zeitnah antreten werden, dass sie in drei Jahren abgeschlossen ist, wird die Inanspruchnahme durch Pflegeeinrichtungen fördern.

Allerdings wird mit den Vorgaben des GPVG nur knapp ein Sechstel des erkannten Mehrbedarfs befriedigt. Weitere Umsetzungsschritte sind daher zwingend erforderlich. Dabei muss die Zuschlagslogik des GPVG – die zudem die nicht durch die Pflegegrad-Mixe erklärbaren Unterschiede in der Personalausstattung zwischen Ländern und Einrichtungen verstetigt – durch eine Abschlagslogik ersetzt werden. Während bei der Zuschlagslogik, die dem GPVG zugrunde liegt, Zusatzstellen unabhängig vom Ausgangswert refinanziert werden, wird bei der Abschlagslogik von einem einheitlichen Zielwert ausgegangen, der „von unten“ in mehreren Stufen, also mit abnehmenden Abschlägen erreicht wird. Als Zielwert ist dabei von den Ergebnissen des Algorithmus 1.0 auszugehen. In Bezug auf diese Zielmarke sind in den jeweiligen Umsetzungsstufen zunehmende Umsetzungsgrade festzulegen, da sich nur so ein Konvergenzprozess einleiten lässt, der zu einem Abbau der nicht durch unterschiedliche Case-Mixe bedingten Pflegepersonalmengen zwischen den Einrichtungen führt.

Organisationsentwicklung ist unverzichtbar.

Das Gesundheitsversorgungs- und Pflegeverbesserungsgesetz ist der erste Schritt zur Umsetzung des Personalbemessungsverfahrens. Doch die Anforderungen an eine umfassende Einführung des Personalbemessungsverfahrens gehen über die das hinaus, was im GPVG vorgesehen ist. Zur zügigen Umsetzung des Personalbemessungsverfahrens müssen die nächsten Umsetzungsschritte größere Personalmehrungen aufweisen. Es besteht die Gefahr, dass die Pflegeeinrichtungen bei zu kleinen Aufstockungen jeweils auf die notwendige Organisationsentwicklung verzichten. Um ein positives Signal auszusenden, sollten die nächsten Schritte zudem verbindlich geplant werden: Sie sind in ihrem Umfang zu benennen und zu terminieren. Nur so erzeugen die Verantwortlichen die unverzichtbare Aufbruchsstimmung.
 
Weiterhin sollte eine begrenzte Zahl von Heimen mit einem Personalschlüssel nahe an dem, was der Algorithmus 1.0 errechnet, unter Einsatz digitaler Technologien neue Organisationsformen ausprobieren. Diese Einrichtungen haben dann die Aufgabe, ausgehend vom Status quo Entwicklungspfade zu diesen Organisationsformen zu betreten und zu dokumentieren. So sieht es auch eine Ergänzung im GPVG vor.

Vollständige Umsetzung in Modelleinrichtungen.

Nur wenn eine derartige modellhafte Einführung zeitnah angestoßen wird, können die Ergebnisse schon im nächsten Umsetzungsschritt für alle Einrichtungen genutzt werden. Schließlich müssen nach den Pflegefachkräften nunmehr auch die Pflegekräfte mit Ausbildung nach Landesrecht unterhalb des Fachkraftniveaus verstärkt ins Auge gefasst werden. Um die benötigten Personalmengen bereitstellen zu können, ist eine entsprechende Ausbildungsoffensive unabdingbar. In ihr muss es nicht nur darum gehen, die Ausbildungskapazitäten zu erhöhen, sondern auch die Weiterqualifikation von einem zum nächsten Qualifikationsniveau systematisch zu ermöglichen und zu fördern.

Insgesamt kann die Umsetzung des Personalbemessungsverfahrens nur gelingen, wenn Verbesserungen der Personalschlüssel, Ausbildungsoffensiven sowie Personal- und Organisationsentwicklung aufeinander abgestimmt und im Rahmen einer verbindlichen Gesamtstrategie umgesetzt werden. Wichtig ist, die nächsten Schritte im Umfang und mit einer Terminierung auch auf längere Sicht zu vereinbaren.

Literatur beim Verfasser

Glossar:

Care-Mix

Kombination unterschiedlicher Qualifikationsniveaus innerhalb eines Pflegeteams, synonym verwandt mit Personalmix und
Qualifikationsmix

Case-Mix

Struktur einer Menge von Pflegebedürftigen

IST-Menge

unter aktuellen personellen und organisatorischen Rahmen­bedingungen tatsächlich erbrachte Menge an Interventionen (pflegerische Handlungen)

IST-Zeit

unter aktuellen personellen und organisatorischen Rahmenbedingungen tatsächlich erbrachte Zeit einer Intervention

Personalbedarf

Gesamte Personalmenge, die in einer Einrichtung erforderlich ist, um eine fachgerechte Versorgung des Case-Mixes zu gewährleisten

Personalbemessung

genauer: Personalbedarfsbemessung. Prozedurale Ermittlung der zur Erbringung einer fachgerechten pflegerischen Versorgung notwendigen Personalmenge nach Quantität und Qualifikation

Personalbemessungsinstrument

Algorithmus (Rechenverfahren), der den notwendigen Personalbedarf zur Erbringung einer fachgerechten pflegerischen Versorgung darstellt

Personalmix

Kombination unterschiedlicher Qualifikationsniveaus innerhalb eines Pflegeteams, synonym verwandt mit Care-Mix und Qualifikationsmix

Pflegeassistenzkraft

Mitarbeiter/in in Pflege oder Betreuung ohne staatlich anerkannte dreijährige pflegerische Berufsausbildung

Pflegefachkraft

examinierte Pflegende mit dreijähriger staatlich anerkannter Pflegeausbildung

Qualifikationsmix

Kombination unterschiedlicher Qualifikationsniveaus innerhalb eines Pflegeteams, synonym verwandt mit Personalmix und Care-Mix

SOLL-Menge

empirisch erhobene pflegefachlich angemessene Menge an Interventionen

SOLL-Zeit

empirisch erhobener pflegefachlich angemessener Zeitwert einer Intervention

SOLL-Zeitmenge

Produktsumme aus einer SOLL-Menge und den korrespondierenden SOLL-Zeiten

Quelle: Rothgang et al. 2020

Heinz Rothgang leitet die Abteilung Gesundheit, Pflege und Alterssicherung im SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen.
Bildnachweis: iStock.com/Halfpoint