Interview

„Bei der Pflege brauchen wir Siebenmeilenstiefel“

Als neuer Gesundheitsminister in Bayern kämpft Klaus Holetschek zurzeit vor allem gegen die Coronakrise, doch hat er auch andere Vorhaben im Blick. Kritik übt der CSU-Politiker an der europäischen Impfstrategie. Bei der Pflegereform fordert er einen großen Wurf. Die gesetzliche Krankenversicherung soll mehr Geld erhalten.

Herr Minister Holetschek, die Corona-Krise hält die Politik in Atem. Inwiefern hat die Pandemie den Blick auf das deutsche Gesundheitswesen verändert?

Klaus Holetschek: Unser Gesundheitssystem hat in der Krise Großartiges geleistet. Nichtsdestotrotz besteht die Chance, aus etwas Gutem etwas Besseres zu machen. Da ist es nötig, mal einen Blick von außen auf das System zu werfen und zu fragen: Wo sind die Stellschrauben für die Zukunft? Ich bin überzeugt, dass das Thema Gesundheit auch in Zukunft eine überragende Bedeutung behalten wird – gerade auch als Chance für die Gesundheitswirtschaft. Sie hat das Zeug, zu einer Leitökonomie der 20er-Jahre zu werden.

Hat sich der Föderalismus trotz eines Flickenteppichs bei den Corona-Maßnahmen bewährt?

Holetschek: Der Föderalismus hat sich seit Gründung der Bundesrepublik insgesamt bewährt. Ich bin der Auffassung, dass er trotz aller notwendigen Abstimmungen gut und richtig ist. Es macht ein Land wie die Bundesrepublik aus, dass es unterschiedliche Reaktionsweisen gibt. Wir haben ja auch unterschiedliche Betroffenheiten in den Ländern. Trotzdem wurde bei den Konferenzen der Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin immer versucht, im Grundsatz gemeinsame Wege zu finden.

Wie müssen wir uns für künftige Krisen aufstellen?

Holetschek: Wir haben gelernt, dass wir unsere Schutzausrüstung, unsere Lieferketten und unsere Abstimmungen auf solche Krisen ausrichten müssen. Wir müssen aber nochmal nachschärfen in der Frage, wie wir in den Gremien zusammenarbeiten. Was das Impfen anbelangt: Wir müssen dringend einen Weg finden, um unseren Produktionsstandort zu stärken.

Die Gesundheitswirtschaft hat das Zeug, zu einer Leitökonomie der 20er-Jahre zu werden.

Was hätten Sie sich beim Impfen anders gewünscht?

Holetschek: Die EU-Ebene hätte mutiger und entschlossener mehr Impfstoff bestellen müssen, auch unter Inkaufnahme höherer Preise. Und auch mit dem Risiko, dass die eine oder andere Bestellung am Ende umsonst war oder nicht so greift, wie man es sich wünscht. Angesichts der Mittel, die jetzt für Wirtschaftshilfen und die Pandemiebekämpfung fließen, wäre das Geld für Impfstoffe gut investiert gewesen. Konkret hätte ich mir gewünscht, dass beim Bestellprozess jemand aus der Wirtschaft von Anfang an involviert gewesen wäre und sich Gedanken gemacht hätte, wie hoch der Bedarf genau ist, was die Anforderungen sind, wo Lieferschwierigkeiten auftreten können und welche Puffer eingebaut werden sollten.  

Halten Sie es für realistisch, dass jedem Deutschen am Ende des Sommers ein Impfangebot gemacht wird, wie die Kanzlerin es verspricht?

Holetschek: Ich hoffe es. Das hängt allerdings von verschiedenen Faktoren ab, wie etwa der Belieferung der Firmen mit den notwendigen Grundstoffen. Die Impfstoffproduktion ist nicht trivial.

War es ein Fehler, den russischen Impfstoff zu verteufeln?  

Holetschek: Für mich gibt es da nichts zu verteufeln. Wenn der Impfstoff eine Zulassung nach unseren Standards erhält, dann ist er wirksam und dann sollte er auch angewendet werden.

Welche Erkenntnisse hat die Corona-Pandemie bezüglich der Krankenhauslandschaft gebracht?

Holetschek: Wir müssen die Krankenhäuser, die sich in der Krise bereitgehalten haben, mit angemessenen Ausgleichszahlungen unterstützen. Da wünsche ich mir vom Bund mehr Großzügigkeit – auch bei der Definition, welche Häuser zum Zuge kommen sollen. Und zweitens glaube ich, dass wir das Finanzierungssystem grundlegend überdenken müssen. Die diagnosebezogenen Fallgruppen müssen abgeschafft oder zumindest optimiert werden, denn sie sind überholt.

Wir müssen das Finanzierungssystem grundlegend überdenken.

Zeigt die Pandemie nicht die Notwendigkeit, kleine Krankenhäuser dicht zu machen oder umzufunktionieren? Corona-Patienten werden doch vor allen Dingen in großen Kliniken versorgt, die die Spezialisten und die intensivmedizinische Ausstattung haben.  

Holetschek: Das sehe ich nicht so. Die kleinen Krankenhäuser werden dringend gebraucht. Ich halte nichts davon, sie zu schließen. Das hat die Pandemie gezeigt. Wir haben viele Covid-Patienten gerade auch auf Normalstationen. Die kleinen Kliniken in Bayern waren in der Corona-Hochphase unentbehrlich. Wir haben bei uns zudem ein gutes Zusammenspiel aller Krankenhäuser.

Bei der Pflege steht eine Reform an. Kann die noch vor der Bundestagswahl gelingen?

Holetschek: Ich hoffe es, weil es notwendig wäre. Wir müssen im Bereich Pflege mutige Schritte nach vorne gehen – gerade auch für die, die in der Pflege tätig sind. In der Krise ist wie durch ein Brennglas deutlich geworden: Es gibt zu wenig Personal, herausfordernde Arbeitsbedingungen und vergleichsweise niedrige Entgelte. Wir brauchen Siebenmeilenstiefel und nicht kleine Trippelschritte, um hier insgesamt etwas zu verändern.   

Was ist denn Ihr Plan, um die Eigenanteile in der stationären Langzeitpflege zu verringern oder bezahlbar zu halten?

Holetschek: Ich finde, der Bund muss deutlich Steuermittel zur Verfügung stellen. Wir brauchen in der Pflege ein umfassendes Mehr an Entlastung. Für mich gibt es da keine Denkverbote. Wir müssen schauen: Was können wir im System tun? Wo können wir neue Ansätze bringen? Wie können wir ambulant und stationär besser zusammenbringen? An welchen Schnittstellen von Kranken- und Pflegeversicherung müssen wir eventuell nachjustieren?  

Sollte es einen steuerfinanzierten Bundeszuschuss für versicherungsfremde Leistungen geben?

Holetschek: Ja ich finde, der Bund muss entsprechende Steuermittel zur Verfügung stellen. Die Pflegeversicherung muss leistungsstark aufgestellt sein. Nehmen wir die geriatrische Reha: Müsste nicht eigentlich die Pflegeversicherung die Finanzierung übernehmen, wenn die Pflegebedürftigkeit dadurch später eintritt?

Wir müssen im Bereich Pflege mutige Schritte nach vorne gehen.

Ist für pflegende Angehörige mehr Unterstützung nötig?  

Holetschek: Ja, denn sie sind der größte Pflegedienst der Nation. 70 Prozent der Pflegebedürftigen in Bayern werden von ihren Angehörigen versorgt. Wir müssen darüber diskutieren, wie sie unterstützt werden können. Es geht dabei nicht nur um Geld, sondern etwa auch um Kurzzeit-Pflegeplätze und andere Hilfen.

Haben Sie die Sorge, dass die Bundesländer bei der Pflegereform zu wenig eingebunden werden könnten?

Holetschek: Klar ist: Wir wollen bei der Pflegereform ein gehöriges Wort mitreden. Es gibt Eckpunkte des Bundes, die aus meiner Sicht noch nicht zu Ende gedacht sind.

Die gesetzlichen Krankenkassen stecken in Finanznöten. Für 2021 wurde eine Lösung gefunden, indem die Beitragszahler den Löwenanteil des Defizits tragen. Welche Idee haben Sie für 2022?

Holetschek: Wir müssen hier nochmal über höhere Bundesmittel für die gesetzliche Krankenversicherung diskutieren. Zwischen der Frage Finanznot auf der einen Seite und Leistungen und Beitragsgerechtigkeit auf der anderen Seite müssen wir einen guten Ausgleich finden. Notwendig ist ein breiter Diskurs über die Stärken und Schwächen unseres Systems.

Kommen wir zur ländlichen Versorgung: Gibt es da Fortschritte?

Holetschek: Wir sind auf einem guten Weg. Die Landarztquote ist ein gutes Instrument, das wir beibehalten. Wir haben in Bayern jetzt auch eine Amtsarzt-Quote eingeführt. Sie ist wichtig, um den Öffentlichen Gesundheitsdienst zu stärken. Es gibt zudem hohe Förderungen für Niederlassungen, Stipendiaten-Programme und vieles mehr. Diese Instrumente wollen wir weiter ausbauen. Telemedizin und Digitalisierung nehmen gerade auch durch die Pandemie einen immer größeren Stellenwert ein. Der Arztberuf hat sich verändert, er ist weiblicher geworden und viele junge Medizinerinnen und Mediziner wollen Job und Familie besser vereinbaren. Dem muss Rechnung getragen werden, um den Arztberuf attraktiv zu halten.

Telemedizin und Digitalisierung nehmen einen immer größeren Stellenwert ein.

Die Digitalisierung geht in den Arztpraxen eher schleppend voran, wie Untersuchungen zeigen. Ist bei den Medizinern genug Akzeptanz da?

Holetschek: Ich denke, die Akzeptanz ist sehr unterschiedlich ausgeprägt. Wie bei vielen neuen Entwicklungen gibt es vereinzelt eine gewisse Skepsis und Zurückhaltung. Aber es gibt auch viele Ärzte, die vorne mit dabei sind. Die Digitalisierung hat jetzt durch Corona Fahrt aufgenommen. Es ist ganz wichtig, Digitalisierung als Chance für Vereinfachung, Effizienzsteigerung und besonders für eine Steigerung der Versorgungsqualität und Versorgungssicherheit zu sehen. Wenn dieses Bewusstsein stärker verankert wird, lassen sich meines Erachtens Bereitschaft und Akzeptanz steigern.

Welche Veränderung wird die elektronische Patientenakte (ePA) bringen? Dauert es nicht noch Jahre, bis sie voll funktionsfähig ist?

Holetschek: Ich bin überzeugt, dass sie einen Schub bringt und gehe davon aus, dass das schneller geht. Denn sie ist zweifelsohne ein wichtiges Instrument. Die ePA wird der sektorenübergreifenden Zusammenarbeit nochmals einen richtigen Schub verleihen. Sie wird zudem die Patientensouveränität stärken. Als versichertengeführter Ansatz wird die ePA auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung stärken, das ein Grundrecht ist. Schließlich ist die ePA auch ein Schlüssel um Gesundheitsdaten pseudonymisiert besser zu nutzen, etwa für die Versorgungsforschung.

Thorsten Severin führte das Interview. Er ist Redakteur der G+G.
Bildnachweis: CSU