Interview

„Pflegekassen als Gestalter“

Mit Dr. Carola Reimann steht seit Jahresanfang eine erfahrene Gesundheitspolitikerin an der Spitze des AOK-Bundesverbandes. Im Interview umreißt die neue Vorstandsvorsitzende, vor welchen wichtigen Aufgaben die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung stehen und welche inhaltlichen Schwerpunkte sie setzen möchte.

Frau Dr. Reimann, Ihr Start als Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes erfolgt in stürmischen Zeiten – Stichworte Corona-Pandemie, unerledigte Reformaufgaben, steigende Ausgaben bei den Krankenkassen. Mit welchen Erwartungen und Ambitionen gehen Sie an Ihre neue Aufgabe?

Carola Reimann: Es sind in der Tat sehr herausfordernde Zeiten angesichts der jüngsten Entwicklung in der Corona-Pandemie mit der Omikron-Variante und auch vor dem Hintergrund leerer Kassen. Die gesetzliche Krankenversicherung hat erhebliche finanzielle Probleme. Mich erinnert das häufig an die Amtszeit von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, also zwischen 2001 und 2009. Da hatten wir ähnliche Situationen, aus denen wir wieder herausgekommen sind. Damit uns das jetzt ebenfalls gelingt, darf die akute Pandemie nicht dazu führen, dass strukturelle Aufgaben verschleppt werden. Wir haben akute finanzielle Probleme, und es gibt die strukturellen Probleme, die wir ja schon lange kennen. Diese strukturellen Probleme waren auch schon vor Corona bekannt und müssen jetzt endlich angegangen werden.

Ist Deutschland denn in der Corona-Politik auf dem richtigen Weg?

Reimann: Wir werden die Pandemie nur in den Griff bekommen, wenn wir alle bereit sind, umsichtig zu handeln, uns impfen zu lassen und die Verhaltensregeln im Alltag einzuhalten. In den vergangenen Monaten ist zu sehr der Eindruck entstanden, dass Geimpfte sorglos sein können, auch wenn immer klar war, dass die Infektion auch mit einer Impfung weitergetragen werden kann. Gerade angesichts der Omikron-Variante sind noch mehr Vorsicht und Umsicht notwendig. Daher sehe ich es sehr kritisch, für Menschen mit Booster-Impfung bei der 2GPlus-Regel auf den Test zu verzichten. Das kann uns noch auf die Füße fallen.   

Welche sind die wichtigsten strukturellen Aufgaben?

Reimann: Wir brauchen eine nachhaltige Finanzierung. Daran müssen wir mit der Politik arbeiten. Und es braucht wirkliche, echte Strukturreformen. Im Koalitionsvertrag sind die richtigen Probleme benannt. Das betrifft den Krankenhausbereich, die Fragen einer sektorenübergreifenden Versorgung und Einsparungen insbesondere im Arzneimittelbereich. Dazu haben wir konkrete Vorschläge gemacht. Auch auf der Einnahmenseite nennt der Koalitionsvertrag ein paar Vorhaben, die mich hoffnungsvoll stimmen. So werden erstmals höhere Beitragszahlungen für Empfänger von Arbeitslosengeld II in Aussicht gestellt. Hier steht zwar kein Preisschild dran, aber das Thema ist durch die Aufnahme in den Koalitionsvertrag endlich auf der Agenda.Wir haben einen eklatanten Fachkräftemangel. Der wird dazu führen, dass wir sehr genau überlegen müssen, wie wir eine flächendeckende Versorgung auf hohem Niveau organisieren.

Grundlegende Reformen im Krankenhausbereich sind ohne Zustimmung der Bundesländer nicht möglich. Wie schätzen Sie die Chancen dafür ein?

Reimann: Ich kenne ja beide Perspektiven und bin daher sehr zuversichtlich. Denn die Gesundheitsministerinnen und -minister in den Ländern wissen sehr genau, wo die Probleme liegen. Da tut sich ja auch schon was, etwa in Nordrhein-Westfalen. In allen Ländern läuft die Debatte, wie wir zu einer guten Kooperation zwischen den Häusern kommen können, zu Fusionen und mehr Konzentration und vor allem zu einer guten Qualität. Unser Vorschlag einer sektorenübergreifenden Versorgung ist ja, dass die Landesebene gestärkt wird. In den 3+1-Gremien ist die Landesregierung dabei, neben Kassen, Kliniken und Vertragsärzten. Nur mit den Ländern wird es gelingen, in solchen Gremien passgenaue Lösungen für regional unterschiedliche Anforderungen zu finden.

Fehlt bei der sektorenübergreifenden Versorgung die Pflege? Denn gerade der Mangel an Pflegepersonal betrifft beide Bereiche, die medizinische und die pflegerische Versorgung.

Reimann: Die 3+1-Gremien sind in den vorhandenen Planungsstrukturen gedacht. Die erstrecken sich auf die ambulante und stationäre medizinische Versorgung. Das ist auch erst einmal ausreichend. Sobald es aber um interprofessionelle Versorgung geht, müssen die Pflege, aber auch andere Gesundheitsfachberufe mitgedacht werden. Nach meiner Überzeugung liegt die Zukunft der Behandlung stärker im Team mit einer gemeinsamen Verantwortung und mehr Interprofessionalität als heute. Da ist die Pflege von zentraler Bedeutung, gerade vor dem Hintergrund einer älter werdenden Gesellschaft, aber auch die anderen Gesundheitsfachberufe sollten eine stärkere Rollen spielen als derzeit.

Seit Jahren bemüht sich die Politik um mehr Pflegepersonal, ohne durchgreifenden Erfolg. Welche Rolle könnten und sollten die Pflege- und die Krankenkassen dabei übernehmen?

Reimann: Den Pflegekassen ist gerade erst die Rolle zugewiesen worden, die Tarifbindung von Pflegeeinrichtungen zu überprüfen. Das ist nur eine Facette. Es muss auch über Arbeitsbedingungen gesprochen werden. Hier können die Kassen eine wichtige Rolle spielen. Ich bin ohnehin dafür, dass die Pflegekassen eine neue Rolle bekommen. Derzeit besteht ihre Aufgabe vorrangig darin, eine Geldleistung zu zahlen. Ihre Gestaltungsmöglichkeiten sind in der Pflege dagegen sehr gering. Gerade aber vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels darf nicht weiter auf die gestalterische Kompetenz der Kassen verzichtet werden. Nur mit ihnen wird es gelingen, die Prozesse, die Abläufe, die Settings zu verbessern und ein ordentliches Case-Management hinzubekommen. Ähnlich, wie sich die Rolle der Kassen in der gesetzlichen Krankenversicherung weg vom reinen Bezahler hin zum Gestalter entwickelt hat, ist ein solcher Prozess auch in der Pflegeversicherung erforderlich. So könnten die Pflegekassen mehr Gestaltungsmöglichkeiten erhalten, um insbesondere auf der kommunalen Ebene Prozesse zu steuern, besser zu organisieren und zu optimieren.

Nur mit den Ländern wird es gelingen, passgenaue Lösungen für regional unterschiedliche Anforderungen zu entwickeln.

Ist es sinnvoll, Pflege- und Krankenversicherung weiterhin zu trennen?

Reimann: Derzeit haben wir zwei verschiedene Finanzierungssysteme, was eine Zusammenlegung von Kranken- und Pflegeversicherung schwierig macht. Durch ein Zusammenlegen des Fünften und des Elften Sozialgesetzbuchs würde jedoch die Komplexität beider Bereiche nicht kleiner. Ein ausdifferenziertes System der Leistungen ist notwendig. Und auch bei einem Zusammenlegen würde es immer Schnittstellen zwischen medizinischer Versorgung und Pflege geben, wie mit anderen Sozialgesetzbüchern, etwa der Teilhabe. Daher ist es wichtiger, dass es Lotsen gibt, die sich in den Systemen sehr gut auskennen. Sie können Betroffene durch die komplexen Angebotsstrukturen begleiten und helfen, das jeweils angemessene und passende Setting zusammenzustellen.  

Trotz aller Reformen hat sich an den Finanzierungsgrundlagen der Sozialversicherungen nichts Grundlegendes geändert. Die Beiträge werden weiterhin vor allem auf das Arbeitseinkommen erhoben. Ist eine breitere Finanzierungsgrundlage notwendig?

Reimann: Ich glaube, dass die Beitragserhebung auf das Arbeitseinkommen die belastbarste und stabilste Grundlage ist. Sogar in der Corona-Pandemie haben wir diesbezüglich in der Krankenversicherung eine sehr stabile Situation. Ein entscheidender Punkt ist, dass jene, die die Beiträge bezahlen, damit auch ein Mitspracherecht bei der Ausgestaltung und Finanzierung der Kranken- und Pflegeversicherung haben. Stichwort Selbstverwaltungsprinzip. Das ist ein wichtiger Stabilitätsfaktor. Eine andere Finanzierungsbasis hätte aus meiner Sicht negative Auswirkungen auf dieses Prinzip. Auch ein höherer Anteil an Steuermitteln ist keine dauerhafte Lösung für die aktuellen Strukturprobleme. Dies kann rasch zu einer Versicherung nach Haushaltslage führen – mit entsprechenden Folgen für den Leistungsumfang.

In den vergangenen Jahren gab es in der Kassenlandschaft einen Streit um den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich, der zu einer Art Lagerbildung führte. Sehen Sie Chancen, dass alle Beteiligten wieder stärker zusammenarbeiten?

Reimann: Das wäre sehr zu wünschen. Der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich muss auf Basis wissenschaftlicher Expertise ständig weiterentwickelt werden. Entsprechende Gutachten sollten dann auch umgesetzt werden. Das ist in der Vergangenheit nicht immer geschehen. Da war zu häufig die politische Positionierung ausschlaggebend und nicht die wissenschaftliche Fundierung. Hier wünsche ich mir, dass die Diskussion entpolitisiert und auf eine wissenschaftlich solidere Grundlage gestellt wird. Ich habe die Hoffnung, dass wir mit Karl Lauterbach einen Bundesgesundheitsminister haben, der dem wissenschaftlichen Ansatz etwas abgewinnen kann.

Welche Erwartungen verbinden Sie noch mit Gesundheitsminister Lauterbach?

Reimann: Ich glaube, dass es ein Glück ist, mit ihm einen Minister zu haben, der die entsprechende fachliche Expertise hat und ohne Einarbeitungszeit sofort agieren kann. Das ist in der Pandemiesituation sehr wertvoll und ein großer Vorteil. Meine Erwartung an Herrn Lauterbach ist, dass er trotz der Pandemie sehr schnell mit Strukturreformen beginnt.

Sie kennen die AOK aus der Bundes- und der Landesebene? Wie unterscheiden sich Ihre Erfahrungen?

Reimann: Als Landesministerin war die AOK die maßgebliche Ansprechpartnerin, um Probleme im Land zu lösen, Versorgung zu organisieren und für Versicherte etwas umzusetzen. Sie ist nicht nur eine profunde und kompetente Ansprechpartnerin, sondern mit ihr können die Dinge im Land auch operativ umgesetzt werden. Auf Bundesebene habe ich die AOK immer als sehr kompetentes Netzwerk mit hoher Expertise kennengelernt, die natürlich immer den föderalen Gedanken hochhält, weil der Bundesverband die AOKs mit ihren regional unterschiedlichen Bedürfnissen und Ansprüchen in Berlin vertritt. Und zugleich hat der Bundesverband mit einer klaren und starken Stimme immer dafür geworben, dass es ein starkes, gesichertes Gesundheitssystem mit einer hohen Qualität der Leistungen gibt.

In welcher Rolle sehen Sie sich als Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes – mehr Moderatorin oder Motivatorin?

Reimann: Beide Rollen sind notwendig. Die ergänzen sich. Außerdem werden vom AOK-Bundesverband zu etlichen relevanten Fragen strategische Impulse, gute Argumente und überzeugende Positionen erwartet. Wir sind für die AOK-Gemeinschaft die Plattform der Zusammenarbeit und organisieren zusammen mit ihnen die Interessenvertretung von 27 Millionen Versicherten und deren Arbeitgebern auf Bundesebene.

Was heißt das mit Blick auf den Koalitionsvertrag?

Reimann: Wir befinden uns in einer Phase mit einem hohen Reformbedarf. Es gibt eine lange To-Do-Liste an notwendigen Änderungen, von denen einige im Koalitionsvertrag enthalten sind. Hier wollen wir für die AOK-Gemeinschaft ein gewichtiges Wort mitreden und die hohe Kompetenz und Expertise des Bundesverbandes einbringen. Der Verband hat für alle wichtigen Themen in Sachen Gesundheit und Pflege hervorragende Expertinnen und Experten.

Sie sind die erste Frau an der Spitze des AOK-Bundesverbandes. Obwohl die Mehrzahl der Beschäftigten im Gesundheitswesen weiblich ist, sind in Spitzenfunktionen meist Männer. Sehen Sie hier Nachholbedarf?

Reimann: Die AOK ist ja hier schon einige Schritte weiter als viele andere. An der Spitze von drei der elf AOKs stehen Frauen. Es freut mich, dass peu à peu immer mehr Frauen in den Kassen und auch in Verbänden und Institutionen Verantwortung tragen. Es ist höchste Zeit dafür.

Bernhard Hoffmann führte das Interview. Er ist Chefredakteur der G+G.
Stefan Boness ist freier Fotograf.