Liefersicherheit durch Rabattverträge
Lieferengpässe bei Arzneimitteln sorgen für Unmut. Rabattverträge sollen schuld daran sein. Doch aktuelle Zahlen machen deutlich: Dieser Vorwurf führt in die Irre. Von Thorsten Severin
Für ihren Auftritt vor der Hauptstadtpresse
hatten Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes, und Dr. Christopher Hermann, Vorstandsvorsitzender der AOK-Baden-Württemberg, eine klare Botschaft mitgebracht: Arznei-Rabattverträge wirken, leisten einen wichtigen Beitrag zur Versorgungssicherheit der Patienten und sind kein Grund für Lieferengpässe. Sie setzten sich bei einem Pressetermin gegen Behauptungen von Pharmaverbänden und Apothekerschaft zur Wehr, die Rabattverträge seien eine wesentliche Ursache für Lieferprobleme bei Medikamenten. Sie hielten dagegen, dass die wahren Gründe, wie technische Probleme im Produktionsablauf und Rohstoffengpässe sowie intransparente Lieferketten, von den Pharmafirmen zu verantworten seien. „Leider gehen Teile der Politik der Pharma-Inszenierung auf den Leim. So konzentrieren sich Lösungsansätze meistens auf Rabattverträge und gehen komplett vorbei an den wahren Ursachen von Lieferengpässen und an den drängenden Lieferengpässen im Krankenhaus“, sagte Litsch. Er kritisierte außerdem, dass die Politik sich in puncto Lieferengpässe einen Handlungsdruck vorgaukeln lasse.
Nahezu alle Arzneien verfügbar.
Um das zu belegen, stellte das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) Zahlen zur Verfügbarkeit von Arzneimitteln vor. Danach waren Anfang September 99,3 Prozent der Arzneimittel, die zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet wurden, verfügbar. Nur 461 Medikamente waren laut offiziellen Meldungen, die auf freiwilligen Angaben der Pharmaindustrie basieren, vorübergehend nicht verfügbar. Unter den 9.000 Medikamenten, für die es einen AOK-Rabattvertrag gibt, lag der Anteil der lieferbaren Präparate sogar bei 99,7 Prozent.
Mit Blick auf diese Zahlen hob Martin Litsch hervor, dass selbst der marginale Anteil von Lieferengpässen noch keinen Versorgungsengpass bedeute. In der ambulanten Versorgung stünden normalerweise immer genügend Arzneien anderer Hersteller zur Verfügung.
Gegen Pflicht zu Mehrfachvergaben.
Keine Lösung für Lieferengpässe sind aus Sicht der AOK hingegen die Pläne, verpflichtende Mehrfachvergaben bei den Rabattverträgen einzuführen. Christopher Hermann, von Beginn an über zwölf Jahre Verhandlungsführer der AOK-Gemeinschaft für die Rabattverträge, verwies darauf, dass die Lohnherstellung – die Produktion im Auftrag eines anderen Unternehmens – bei europäischen Generikaanbietern die Regel ist. „Was soll sich verbessern, wenn drei Unternehmen den Zuschlag erhalten, deren Produkte alle aus derselben Fabrik kommen?“ Unter 193 in Europa tätigen Herstellern fänden sich nur elf meist kleinere, die tatsächlich für sich selbst produzierten. Von den Arzneimitteln zu 230 generischen Wirkstoffen werden 93 Prozent in der EU ausschließlich über Lohnhersteller produziert. „Die meisten Pharmafirmen in Deutschland haben somit noch nie ein Medikament selbst gefertigt“, so Hermann.
Nebelkerze „Made in Europe“.
Auch Forderungen nach einer verstärkten Arzneimittelproduktion „Made in Europe“ sind laut Hermann nur Nebelkerzen. Denn 59 Hersteller und Lohnhersteller, die Vertragspartner der AOK sind, haben ihren Sitz in Deutschland. Das sei mehr als in jedem anderen Land. Ohnehin sei der Einfluss der deutschen Rabattverträge auf die unternehmerischen Entscheidungen international agierender Pharmahersteller gering. „Wir in Deutschland mit unserem Vier-Prozent-Marktanteil bestimmen nicht den Weltmarkt.“
Exklusivverträge fördern Therapietreue.
Helmut Schröder, stellvertretender Geschäftsführer vom Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO), hatte noch weitere Belege für die Vorteile von Exklusivverträgen im Gepäck. So haben 2018 laut WIdO 82,7 Prozent der Patienten, die ihren Arzneimittel von einem exklusiven Rabattpartner einnehmen, ihr Medikament dauerhaft von demselben Hersteller erhalten. Bei den Wirkstoffen, bei denen sich mehrere Rabattpartner die Versorgung teilen, erhielten nur 69,1 Prozent der Patienten das Arzneimittel immer vom selben Hersteller. „Rabattverträge mit Exklusivpartnern tragen dazu bei, unnötige Medikamentenwechsel zu vermeiden. Das fördert die Therapietreue der Patienten und den Erfolg der Therapie“, sagte Schröder.
Darüber hinaus könnten Pharmafirmen mit Exklusivverträgen ihre Absatzmengen und damit ihre wirtschaftlichen Grundlagen besser planen und so Lieferausfällen aufgrund von Fehlplanungen Vorschub leisten. Denn bei Mehrfachvergaben verteile sich der Markt nicht einfach gleichmäßig auf die zwei oder drei Vertragspartner. Nach den Analysen des WIdO entfallen bei den Wirkstoffen bzw. Wirkstoffkombinationen, die von drei Rabattpartnern beliefert werden, im Schnitt 60,2 Prozent der Verordnungen auf den verordnungsstärksten Partner, 27,6 Prozent auf den zweiten und 12,2 Prozent auf den verordnungsschwächsten Partner. Bei einzelnen Wirkstoffen übernimmt der verordnungsstärkste Rabattpartner sogar 93,0 Prozent der Verordnungen, während für andere Rabattpartner nur 0,2 Prozent der Versorgung übrigbleiben. Schröder: „Diese Unsicherheit müssen Pharma-Unternehmen einpreisen, was zu höheren Preisen für die gesetzliche Krankenversicherung führt.“ Letztlich könnten Mehrfachvergaben sogar Lieferengpässen Vorschub leisten, wenn Apotheken einzelne der möglichen Rabattpartner bevorzugten und diese die Verordnungsmengen nicht eingeplant hätten.
Einig waren sich alle Redner, dass vor allem Transparenz und verpflichtende Meldungen über Lieferengpässe notwendig seien, um eben diese zu vermeiden. „Und zwar auf allen Ebenen, vom Hersteller über den Großhandel bis zur Apotheke“, betonte Litsch. Es sei gut, dass das Bundesgesundheitsministerium diese Lösung nun anpacke. Außerdem sei es richtig, dass die Aufsichtsbehörden die Vorratshaltung von Arzneien auf allen Distributionsstufen regelmäßig prüfen sollen und hierzu mehr Kompetenzen erhielten.