Gesünder einkaufen: Die Lebensmittelkennzeichnung Nutri-Score zeigt Verbrauchern auf einen Blick, wie viel Gutes in einem Produkt steckt.
Zuckerreduktion

Appelle allein reichen nicht

Erste Ergebnisse der Reduktionsstrategie für weniger Salz, Fett und Zucker in Lebensmitteln liegen vor. Die Bundesregierung sieht sich auf dem richtigen Weg. Dagegen fordern AOK, Ärzte und Diabetesgesellschaft wirkungsvollere Maßnahmen. Von Thomas Rottschäfer

Bundeslandwirtschaftsministerin

Julia Klöckner (CDU) vertritt einen klaren Standpunkt: „Ich bin nicht die Geschmacks-Nanny der Nation.“ Die auch für Ernährung und Verbraucherschutz zuständige Ressortchefin lehnt gesetz­liche Obergrenzen für den Anteil von Salz, Fett und Zucker in Fertiggerichten bisher ab. Sie setzt auf freiwillige Vereinbarungen von Lebensmittelindustrie und -handel. Die von der Bundesregierung im Dezember 2018 nach jahrelangem Vorlauf gestartete „Nationale Reduktions- und Innovationsstrategie“ sieht vor, dass der Anteil der Dick- und Krankmacher im Essen durch freiwillige Selbstbeschränkung der Hersteller bis 2025 nach und nach abnimmt.
 
Das dem Landwirtschaftsministerum (BMEL) unterstellte Max-Ruber-Institut für Ernährung und Lebensmittel (MRI) ist damit beauftragt, die Entwicklung durch ein „engmaschiges Produktmonitoring“ zu überprüfen. Von den Ergebnissen der wissenschaftlichen Begleitung hängt es laut Klöckner ab, „ob Bedarf zur Nachsteuerung oder weiterer Handlungsbedarf besteht“.

Der Zuckergehalt in Kinderprodukten ist zurückgegangen.

Renate Künast, von 2001 bis 2005 selbst Bundesernährungsministerin, kann dieser Strategie wenig abgewinnen. „Die Wissenschaftler sollen überprüfen, ob die Industrie Werte einhält, die sie sich selbst gegeben hat“, kritisierte die ernährungspolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag beim 3. Deutschen Zuckerreduktionsgipfel des AOK-Bundesverbandes Ende Oktober in Berlin.

Zuckeranteil unter die Lupe genommen.

Bei der Corona-bedingt im Digitalformat durchgeführten Veranstaltung stellte MRI-Präsident Professor Pablo Steinberg die Ergebnisse des ersten Produktmonitorings vor. Danach haben die Produzenten den Zuckeranteil in Joghurts, Quarkzubereitungen, gesüßten Getränken und Frühstückscerealien in den vergangenen zwei Jahren zum Teil signifikant gesenkt. Dies treffe besonders auf Kinderpro­dukte zu. „Wir sind auf dem richtigen Weg“, sagte Steinberg. Doch der Weg sei noch lang: „In Finnland wurde vor 20 Jahren die Salzreduktion eingeführt. Erst jetzt ist dort die Sterblichkeit signifikant reduziert.“

Ausgehend vom sogenannten Body-Mass-Index gelten hierzulande fast 60 Prozent der Erwachsenen als übergewichtig, fast jeder Vierte als adipös. Die Folgeerkrankungen wie Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen verursachen nicht nur viel persönliches Leid, sondern auch immense Kosten für das Solidarsystem. Die krankheitsbedingten Kosten durch Übergewicht und falsche Ernährung werden mit rund 63 Milliarden Euro beziffert. Hinzu kommen acht Milliarden Euro für die Behandlung von Karies. Laut EU-Gesundheitsbericht 2019 liegt Deutschland bei den ernährungsbedingten Risiken über dem EU-Schnitt. Verantwortlich dafür seien unter anderem ein geringer Verzehr von Obst und Gemüse sowie der hohe Konsum von ge­zuckerten Getränken.

Klöckners Parlamentarischer Staats­sekretär, Hans-Joachim Fuchtel (CSU), kündigte in einem Videostatement an, dass das BMEL neben weiteren Kinderprodukten jetzt auch die „Verpflegung außer Haus“ – zum Beispiel Essen im Restaurant oder im Schnellimbiss – in das Produktmonitoring einbeziehen wolle. Ende dieses Jahres solle der erste Zwischenbericht zur Reduktionsstrategie vorliegen. Die Ministerin sei zudem bereit, „deutliche und konkrete Zeichen zu setzen“, betonte der Staatssekretär mit Hinweis auf das seit Mai geltende Zucker- und Süßmittelverbot für Säuglings- und Kleinkindertees. Zudem fördere das BMEL die Forschung zur Reduzierung von Zucker, Fett und Salz „in vielen traditionellen Rezepturen“ und viele Pro­jekte für mehr Ernährungskompetenz. Dabei sei die AOK ein wichtiger Partner.

Zu viel Süßes konsumiert.

Der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Martin Litsch, machte jedoch keinen Hehl aus seiner Unzufriedenheit mit den bisherigen Ergebnissen der „Nationalen Reduktions- und Innovationsstrategie“. Sie seien deutlich hinter den Erwartungen zurückgeblieben. „Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt einen Zuckerkonsum von höchstens 50 Gramm am Tag. In Deutschland sind wir immer noch fast beim Doppelten“, so Litsch. Besorgniserregend sei weiterhin der Softdrink-Konsum: „Kinder und Jugendliche trinken im Durchschnitt bis zu einem halben Liter zuckergesüßte Erfrischungsge­tränke pro Tag. Im europäischen Vergleich liegt Deutschland damit auf dem dritten Platz.“

Plädoyer für Werbeverbot.

Gemeinsam mit dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) und der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) fordert der AOK-Bundesverband deshalb wirkungsvollere Maßnahmen gegen zu viel Zuckerkonsum. „Wenn wir die gesundheitlich bedenklich hohen Zuckerzusätze senken wollen, kommen wir mit Appellen nicht mehr weiter“, stellte Litsch fest. Die drei Verbände plädieren für ein gesetzlich verankertes Werbeverbot für überzuckerte und sehr kalorienreiche Kinderlebensmittel und für eine Herstellerabgabe auf zuckergesüßte Erfrischungsgetränke. Während die Arbeitgebervertreter im Aufsichtsrat des AOK-Bundesverbandes eine „Zuckersteuer“ ablehnen, hat sich Renate Künast auf dem Zuckerreduk­tionsgipfel für „verpflichtende Reduk­tionsziele auf wissenschaftlicher Basis“ stark gemacht: „Wir müssen die Kinder schützen und nicht die Konzerne.“

Nutri-Score zur Pflicht machen.

Die Grünen-Politikerin forderte außerdem einen verpflichtenden Nutri-Score auf EU-Ebene. Die Nährwert-Kennzeichnung mit dem fünfstufigen Buchstaben- und Farbsystem von Grün bis Rot ist seit Anfang November auch in Deutschland gesetzlich erlaubt. „Aber bei einer freiwilligen Lösung macht ein Hersteller das Kennzeichen doch nur drauf, wenn er sich im grünen Bereich befindet“, kritisierte Künast.

Beim Konsum zuckerhaltiger Getränke liegt Deutschland in Europa auf Platz drei.

Fünf EU-Staaten sowie das Verei­nigte Königreich haben inzwischen Steuern auf zuckerhaltige Getränke eingeführt. Aus Sicht der Präsidentin der Deutschen Dia­betes Gesellschaft, Professorin Monika Kellerer, hat besonders Großbritannien „eindrucksvoll bewiesen, welche Erfolge man gerade bei Softdrinks mit steuer­lichen Anreizen erreichen kann“. Nach der im Jahr 2018 eingeführten zwei­stufigen Steuer auf Getränke mit einem Zuckergehalt bis fünf Gramm und über acht Gramm pro 100 Milliliter sei der durchschnittliche Zuckergehalt in Er­frischungsgetränken auf der Insel um etwa 34 Prozent auf 2,9 Gramm pro 100 Milliliter zurückgegangen.

Zuckerreduktion noch zu gering.

Dagegen sieht das bisherige Ergebnis der deutschen Reduktionsstragie mau aus: Der Zuckergehalt regulärer Limonaden ist laut AOK-Bundesverband von im Schnitt 9,08 Gramm auf 8,92 Gramm pro Milliliter gesunken und damit um gerade einmal 0,16 Gramm oder zwei Prozent. Ähnlich sehe es bei Cola- und Colamix-Getränken aus. „Wir sprechen hier in der Breite über Reduktionen im homöopathischen Bereich. Erforderlich ist eine Senkung um mehrere Gramm, nicht Milligramm“, betonte Martin Litsch.

Mehr Informationen zum 3. Deutschen Zuckerreduktionsgipfel sowie über die vorangegangenen Veranstaltungen und das Engagement der AOK bei diesem Thema: #wenigerZucker

Rein rechtlich sei eine „Zuckersteuer“ auch in Deutschland kein Problem, erläuterte der online zugeschaltete Vorsitzende Richter am Bundesfinanzhof, Professor Harald Jatzke: „Das hängt vom politischen Willen ab.“ Gegen eine na­tionale Verbrauchssteuer, zumal wenn sie als gesundheitspolitisch motivierte Lenkungssteuer definiert werde, gebe es weder verfassungs- noch EU-rechtliche Bedenken. Als Beleg für die lenkende Wirkung verwies Jatzke auf die in der Amtszeit von Renate Künast eingeführte „Alkopop“-Steuer: „Das Steueraufkommen ist von zehn Millionen Euro im Jahr 2005 auf rund eine Million im Jahr 2019 gesunken.“ Die Verwendung der Alkopop-Steuer ist gesetzlich geregelt: Das Geld fließt in die Prävention. Das sollte auch bei einer möglichen Zuckersteuer so sein, schlägt BVKJ-Vizepräsidentin Dr. Sigrid Peter vor: „Die durch eine Steuer generierten Einnahmen könnten zweckgebunden beispielsweise in den Schulsport oder in eine gesunde Gemeinschaftsverpflegung in Kitas und Schulen investiert werden.“

Thomas Rottschäfer ist freier Journalist mit dem Schwerpunkt Gesundheitspolitik.
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