Hilfe aus der Nachbarschaft
Japan hat die älteste Bevölkerung der Welt. Die obligatorische Pflegeversicherung soll die Versorgung von Senioren sicherstellen und Familien entlasten. Zudem setzt die Regierung auf freiwillige Hilfe durch Freunde und Nachbarn. Über die Stärken und Schwächen des Systems berichtet Dr. Agnes Tandler aus Sapporo.
Wer hat heute Morgen Schnee geschippt? Auf die Frage von Takuya Honma heben fast alle der über 40 Seniorinnen und Senioren die Hand. Honma erklärt nun, wie man am besten Schnee räumt, ohne Knie und Rücken zu gefährden. Der 53-Jährige demonstriert dies auch praktisch. Denn die Teilnehmer der Gruppe, die sich am Montagmorgen im ersten Stock des örtlichen Supermarkts im japanischen Sapporo versammelt haben, sind ein wenig in die Jahre gekommen und müssen auf ihre Gesundheit achten. Michiyoshi Nakaoki, der ehemalige Schuldirektor des Tsukisamu-Gymnasiums ist 81 Jahre alt. Seine Frau Michiko, die ihn begleitet, ist 79. „Es ist wichtig, fit zu bleiben“, sagt der pensionierte Rektor. Ein paar Meter weiter sitzt Kazuhiko Ochi, der früher als Englisch-Lehrer gearbeitet hat. Er gehört mit 74 eher zu den jüngeren Semestern. „Ich möchte ein Vorbild für andere sein“, sagt er. „Es ist wichtig, dass man sich bewegt, sich austauscht, neue Anregungen bekommt.“ Gerade Männer müssten diese Veranstaltungen und Angebote mehr wahrnehmen.
Ochi ist Leiter eines Chonaikai, einer Art Nachbarschafts-Verein, wie es sie in ganz Japan gibt. Gewissenhaft macht er bei den Dehn-Übungen für die Hüfte und die Arme mit, die eine Trainerin vormacht. Richtig gefordert ist Ochi dabei nicht. Jede Woche geht er viermal zum Schwimmen ins örtliche Hallenbad. Im Winter macht der durchtrainierte Rentner jeden Tag Ski-Langlauf und im Sommer hält er sich mit Laufen fit.
Kontakte ermöglichen.
Die Morgengymnastik für Senioren ist Teil des japanischen Pflegekonzepts. Die Veranstaltung wird vom Kaigo Yobo Center (zu deutsch: Aktivitätenförderungs-Zentrum für Senioren) im Stadtteil Toyohira organisiert. Zwei Angestellte koordinieren hier Aktivitäten für über 65-Jährige. Takuya Honma, der die Veranstaltung leitet, ist einer davon.
Der Altenpfleger hat an diesem Morgen auch einen Zeitungsausschnitt aus der Lokalzeitung „Hokkaido Shinbun“ mitgebracht, der sich mit den Kaigo Yobo Center beschäftigt. Der Artikel unterstreicht die Bedeutung der Zentren: Essen, Bewegung, aber auch einen frohen Geist, das brauche man im Alter. Und einen frohen Geist bekomme man durch Kontakte, Freundschaften und das Zusammensein mit anderen. „Wer hier einmal ist, der kommt nicht mehr weg“, droht Honma scherzhaft. „Wer denkt, dass er einfach fortbleiben kann, den werde ich persönlich hierher zurückbringen.“
Pflege-Manager prüft Bedürfnisse.
Japan hat die älteste Bevölkerung der Welt. Fast 26 Prozent der Einwohner des ostasiatischen Landes sind über 65 Jahre alt und 12,5 Prozent sogar über 75. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen liegt bei knapp 85 Jahren. Japan zählte im vergangenen Jahr 80.450 Menschen, die 100 Jahre und älter waren – das waren etwa 23 Mal mehr als im Jahr 1989.
Japans Regierung hat im Jahr 2000 die Long Term Care Insurance (Kaigo Hoken) eingeführt, eine obligatorische Pflegeversicherung, um die Versorgung älterer Menschen sicherzustellen und Familien zu entlasten. Jeder Japaner über 65 Jahren kann bei der örtlichen Verwaltung, zum Beispiel dem Stadtbezirk, einen Antrag auf Versorgung stellen. Es wird ein Pflege-Manager eingeschaltet, der die Bedürfnisse prüft und aus einer ganzen Reihe von Optionen ein Paket von Maßnahmen zusammenstellt und einzelne Organisationen auswählt, die diese Dienste leisten. Zu den Anbietern gehört neben privaten Firmen auch eine Vielzahl von Wohlfahrtsorganisationen, Kooperativen und Verbänden. Allein über 3.000 Nichtregierungsorganisationen (NGOs) bieten Service für die Versorgung von Senioren an. Die Pflege-Manager sind gewöhnlich Angestellte unabhängiger NGOs, die zwar von den örtlichen Regierungen bezahlt werden, aber ihnen nicht unterstehen.
Quelle: The Statistics Bureau of Japan
Laut dem japanischen Gesundheitsministerium haben im Jahr 2017 6,3 Millionen Japaner in irgendeiner Form Unterstützung im Rahmen der Pflegeversicherung erhalten – das sind 18 Prozent der rund 36 Millionen Bürger, die über 65 sind. Die Finanzierung erfolgt zur Hälfte durch die monatlichen Beiträge der Versicherten. Alle Beschäftigten, aber auch Rentner zahlen in das System ein. Die andere Hälfte kommt aus öffentlichen Kassen: Städte, Präfekturen und der Zentralstaat beteiligen sich nach einem festgelegten Schlüssel.
Ehrenamtliche einbeziehen.
Eine Besonderheit des japanischen Systems ist die Einbeziehung örtlicher, oft kleiner Organisationen, die sich auf ein Netz von Freiwilligen und Nachbarn stützen (community based care). Das System ist darauf ausgelegt, ältere Menschen möglichst lange in ihrem eigenen Zuhause zu belassen. Gleichzeitig will Japan mit diesem Schritt auch dem Mangel an Pflegekräften entgegenwirken. Die oben erwähnte Versammlung der Seniorinnen und Senioren ist ein Beispiel dafür. Sie wird zwar vom Kaigo Yobo Center organisiert, doch dieses stützt sich auf die Chonaikai – informelle Nachbarschaftsvereine, von denen es in einer Stadt wie Sapporo mehr als 2.000 gibt.
Der Chonaikai besteht aus einzelnen Haushalten und variiert von der Größe her sehr stark: Zu einigen Chonaikai gehören die Haushalte eines einzigen Hochhauses, zu anderen die Haushalte eines ganzen Straßenabschnitts oder Häuser-Blocks. „520.000 Einwohner in Sapporo sind über 65“, erzählt Tomotaka Ota, der Chef der Abteilung für Versicherungen und Altenpflege, im Rathaus von Sapporo. Sapporo liegt in Hokkaido, der nördlichsten Insel von Japan. Die Stadt mit knapp zwei Millionen Einwohnern ist für ihr Schnee-Festival und ihr Bier weltbekannt. In Sapporo fallen im Jahr über sechs Meter Schnee. 1972 fanden hier die Olympischen Winterspiele statt. „Wegen des langen, schneereichen Winters haben alte Menschen in Sapporo mit besonderen Herausforderungen zu kämpfen“, erklärt Ota. Das Laufen auf oft rutschigen, glatten Straßen oder das Autofahren bei Eis und Schnee sei für Ältere oft schwierig. Neben der Bewältigung der Wege im Winter sei auch das Schneeschaufeln für alte Menschen oft eine Belastung.
Ältere gesund erhalten.
Sapporo hat zwei Typen von Einrichtungen, die sich um Senioren kümmern. Die 27 Chiiki Hokatsu Shien Center (Allgemeine Gemeinschaftshilfezentren) nehmen allgemeine Funktionen wie Beratung wahr – etwa in Rechtsfragen – und erstellen die Pflegepläne für daheim lebende Senioren. Um die 95.000 Konsultationen pro Jahr verzeichnen diese Einrichtungen. Sie verweisen aber auch weiter an die Kaigo Yobo Center, die sich um praktische Dinge wie Zahnpflege, Hilfe beim Baden, Geh-Hilfen und die Koordination von Besuchen von Krankenpflegern, Physiotherapeuten und Ärzten kümmern. Besonders die 53 Kaigo Yobo Center, die in Sapporo von der Stadt selbst über öffentliche Gelder finanziert werden, sind dabei auch auf ehrenamtliche Helfer angewiesen. „Es wäre weit schwieriger, das ohne Freiwillige zu machen“, erklärt Ota. „Das Unterstützungssystem mit Freiwilligen soll die Leute dazu bringen, gesünder zu leben.“
Das funktioniere ziemlich gut – wegen der Beziehungen und Verbindungen, die geschaffen und gefestigt würden, erläutert Takuya Honma. Er erinnert sich an die Einführung des Kaigo-Systems vor gut 20 Jahren. Er selbst ist davon überzeugt, dass die Kaigo Yobo Center einen wichtigen Beitrag dafür leisten, ältere Menschen gesund zu halten. „Es gibt zu wenige Chiiki in Sapporo, daher haben wir noch eine zweite Ebene eingerichtet, die von der Stadt bezahlt wird. Das Geld, das aus der Renten- und der Pflegeversicherung kommt, reicht dafür nicht aus“, sagt Ota von der Stadtverwaltung von Sapporo. Die Stadt überlegt, wie sie Personen unterstützen kann, die sich als Freiwillige engagieren. Sie gibt nun Karten aus, mit denen Ehrenamtliche für jeden Einsatz Punkte sammeln können, um am Jahresende dann einen kleinen Betrag von um die 5.000 Yen (umgerechnet 41 Euro) als Anerkennung ausgezahlt zu bekommen. Doch auch bei den Freiwilligen gibt es das Problem, dass die Leute immer älter werden. „Dann müssen wir uns auf diejenigen verlassen, die älter, aber noch fit sind“, sagt Ota.
Männer lassen sich schlecht erreichen.
Ein weiteres Problem ist die Akzeptanz. Die Mehrheit der Teilnehmer an präventiven Maßnahmen, wie beispielsweise Gymnastik oder gemeinsame Ausflüge, sind Frauen. Es sei ein Generationenproblem, meint Ota. Die Männer hätten ihr Leben lang gearbeitet, die Frauen hätten sich um die Kinder und den Haushalt gekümmert. Alleinstehende Männer fänden es oft schwierig, an solchen Gruppentreffen teilzunehmen. Einer Umfrage der Stadt Sapporo zufolge nehmen 75 Prozent der über 65-Jährigen gar nicht an solchen Veranstaltungen teil. Die Mehrheit begründet das damit, dass sie schlicht keine Lust dazu habe.
- Justin McCurry: Japan will be model for future super-ageing societies. In: The Lancet, October 17, 2015.
- Malcolm Foster: Robots making inroads in Japan’s elder care facilities, but costs still high. Japan Times, March 30, 2018.
- Wieland Wagner: Japan – Abstieg in Würde. Wie ein alterndes Land um seine Zukunft ringt. SPIEGEL/DVA Verlag, München 2018.
Die größere Sorge bereitet jedoch das Geld. Die Pflegeversicherung wird zur Hälfte aus Steuermitteln gespeist, die andere Hälfte zahlt die berufstätige Bevölkerung ab 40 Jahren und zu einem etwas geringeren Anteil die Senioren ab 65 selbst. Politisch diskutiert wird deshalb vor allem eine Erhöhung des Pflegebeitrags: Aktuell beträgt der Beitrag der 40- bis 65-Jährigen durchschnittlich 4.160 Yen pro Mona (etwa 31 Euro). Das ist gemessen am Bedarf zu wenig. Deshalb will die Regierung bis zum Jahr 2025 den Pflegebeitrag auf 10.000 Yen (75 Euro) erhöhen. Die Selbstbehalte, also die privat zu zahlenden Anteile an einzelnen Pflegeleistungen, sollen angehoben werden – erneut. Schon jetzt müssen Ältere bis zu 30 Prozent der Arztbehandlung selbst tragen.
Personalbedarf steigt.
Die Versicherungsbeiträge zulasten der arbeitenden Bevölkerung zu erhöhen, ist zudem perspektivisch problematisch. Denn Japan sieht sich in mehrfacher Hinsicht einer schwierigen demografischen Entwicklung ausgesetzt. Die Zahl der Beitragszahler (zwischen 40 und 65 Jahren) nimmt ab 2021 ab. Einwanderung, wie in Europa oder in den USA, bleibt ein Tabu-Thema. Zwar wirbt Japan gerade für den Pflegebereich ausländische Arbeitskräfte an, doch der Erfolg dieser Strategie ist gemischt. Die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte in Japan lag 2019 insgesamt bei knapp 1,7 Millionen. Im Jahr 2016 arbeiteten in Japan um die 1,9 Millionen Pflegekräfte, doch der Bedarf steigt. Bis 2025, so schätzt die Regierung, werden mehr als eine halbe Million zusätzlicher Kräfte benötigt.
Seit 2008 rekrutiert Japan Pflegepersonal auch im Ausland. Doch 90 Prozent der Pflegekräfte, die 2008 nach Japan kamen, haben das Land bereits wieder verlassen. Die Gründe dafür sind vielschichtig: die langen Ausbildungszeiten, um eine japanische Berufszulassung zu erhalten, die Sprachbarriere und eine mangelnde Perspektive für die Zukunft. Japan erteilt pro Jahr im Schnitt nur um die 10.000 Ausländern die japanische Staatsbürgerschaft. Dazu kommt, dass die Bezahlung in der Pflegebranche nicht besonders attraktiv ist. Obwohl der Bereich staatliche Subventionen erhält, verdienen Arbeitskräfte in der Alten- und Langzeitpflege im Schnitt weniger als in vielen anderen Branchen – umgerechnet etwa 2.500 Euro im Monat.
Familien übernehmen Gros der Pflege.
Daher wird in Japan die Automatisierung im Pflegebereich viel diskutiert. Doch Roboter, die solche Arbeiten verrichten können, sind immer noch ein Zukunftsgespinst. Der von der Waseda-Universität in Tokio entwickelte Twendy-One-Roboter, der älteren Menschen aus dem Bett hilft, Essen aus dem Kühlschrank holt und Tabletts mit Speisen verteilt, existiert nur als Prototyp. Das ist nicht verwunderlich, denn allein die Sensoren der Roboterhand kosten über 200.000 Euro. Sonys Roboter-Hund Aibo oder Softbanks Roboter-Gefährte Pepper werden zwar kommerziell vertrieben, dienen aber lediglich der Unterhaltung.
Immer noch ist es meist die Familie, die die Pflege der älteren Menschen übernimmt. Laut dem japanischen Gesundheitsministerium wohnten im Jahr 2018 nur fünf der rund 36 Millionen Japaner, die 65 oder älter sind, in einem Pflegeheim. Der überwiegende Teil der Seniorinnen und Senioren lebt im Familienverbund. Doch Mobilität und soziale Veränderungen führen dazu, dass es immer mehr alleinstehende ältere Menschen gibt. Einer Schätzung des japanischen Instituts für Bevölkerungsforschung zufolge werden 2040 neun Millionen der älteren Japaner allein leben.
Keine Angst vor Veränderung.
Im Moment gilt das japanische Pflege-System aber als eines der besten der Welt. Gesundheitsexpertin Nanako Tamiya lobte in der Medizin-Zeitschrift „The Lancet“ die japanische Pflegeversicherung als eines der umfangreichsten Langzeitpflegesysteme der Welt. „Das System ist nicht perfekt, aber Japan hat keine Angst, das System zu überarbeiten und zu verändern, um Fehler und Schwachstellen auszubessern“, sagt James Tiessen, Experte für das japanische Gesundheitswesen und Leiter der School of Health Services Management an der Ryerson University in Kanada. Er hofft, dass das System auch in anderen Ländern funktionieren kann. „Denn in Bezug auf die demografische Entwicklung bewegen wir uns alle in Richtung Japan, wenn auch viel langsamer.“