Digitalisierung

Debatte: Goldstandard bleibt die Anwesenheit

In der Corona-Krise nehmen Patienten Psychotherapien vermehrt virtuell wahr. Gebhard Hentschel, Vorsitzender der Deutschen Psychotherapeuten-Vereinigung, begrüßt das. Selektivverträge über die Behandlung allein in Videositzungen sieht er hingegen kritisch.

Nicht nur Ärzte, sondern auch Psychotherapeuten

bieten in der Corona-Pandemie vermehrt Videositzungen an. Die seit Oktober 2019 gültige Beschränkung, maximal 20 Prozent der Patienten ausschließlich per Videositzung zu behandeln, wurde wegen der Corona-Entwicklung befristet aufgehoben. Hiermit wird insbesondere das berechtigte Schutzinteresse der Patienten vor einer Ansteckung berücksichtigt. Aus Sicht der Deutschen Psychotherapeuten-Vereinigung (DPtV) sollten auch nach der Pandemie die Möglichkeiten der Videositzung erweitert werden.

Vor Corona kaum Videotherapie.

In einer DPtV-Umfrage zu Beginn der Corona-Pandemie – im April 2020 – bewerteten 4.500 Mitglieder ihre Erfahrungen mit psychotherapeutischen Videositzungen. Das Ergebnis: 77 Prozent der Psychotherapeuten bieten virtuelle Sitzungen an. 95 Prozent setzen dieses Medium erst seit der Corona-Krise ein. Im Durchschnitt nutzen 40 Prozent der Patienten die Möglichkeit der Online-Sitzungen. Gut zwei Drittel der Psychotherapeuten schätzen die Wirksamkeit von Videositzungen zum Befragungszeitpunkt als geringer ein. 78 Prozent würden den persönlichen Kontakt einer virtuellen Sitzung vorziehen. Die Hälfte der Befragten sind der Meinung, dass Psychotherapie per Video mehr anstrenge und Unterbrechungen im Gespräch den Kontakt erschwerten. Knapp 40 Prozent sehen auch den fehlenden direkten Blickkontakt als problematisch an.

Die große Mehrheit der Psychotherapeuten zieht den persönlichen Kontakt einem virtuellen vor.

Rückmeldungen der DPtV-Mitglieder zeigen, dass Patienten im Sommer 2020 wieder sehr gerne den persönlichen Kontakt in Anspruch genommen haben. Für eine systematische Betrachtung bezogen auf einzelne Indikationen bedarf es allerdings weiterer wissenschaftlicher Untersuchungen.

Komplette Online-Sitzung kein Regelwerk.

Die Ausnahmeregelungen, dass derzeit auch psychotherapeutische Sprechstunden und probatorische Sitzungen, also anfängliche diagnostische Sitzungen vor dem eigentlichen Beginn einer Psychotherapie, per Video stattfinden können, bewertet die DPtV positiv. Kritisch sieht sie hingegen Selektivverträge, in denen regelhaft nur Erstkontakt, Indikationsstellung und Behandlungsplanung „live“ von einem Psychotherapeuten durchgeführt werden. Die folgende Behandlung findet dann ausschließlich per Video­sitzungen mit einem weiteren Psychotherapeuten statt, dem der Patient niemals face-to-face begegnen wird.

Alternativen Kontakt ermöglichen.

Auch in psychotherapeutischen Videositzungen benötigen Patienten einen geschützten Raum, der sichergestellt sein muss. In einigen Regionen sind die Datenkapazitäten nicht ausreichend oder den Patienten steht keine Übertragungstechnik zur Verfügung. Um zu vermeiden, dass Patienten während einer Behandlungsstunde „verloren“, also aus technischen Gründen offline gehen, sollte immer auch eine alternative Verbindungsmöglichkeit, zum Beispiel eine telefonische Erreichbarkeit, vereinbart werden. Patienten benötigen eine ausreichende psychische Stabilität sowie eine erreichbare Anlaufstelle im Krisenfall. Auch dies sollten Patient und Psychotherapeut zuvor vereinbaren.

Zum Nachteil für die Versorgung ist der Ausschluss der psychotherapeutischen Akutbehandlung per Video. Nach Indikationsstellung und Behandlungsplanung sollte die kurzfristige Überführung der Patienten in eine Akutbehandlung per Video möglich sein. Hier fordert die DPtV Nachbesserungen in den Psychotherapie-Vereinbarungen.

Nach wie vor sind die Möglichkeiten in der Gruppen­psychotherapie per Video begrenzt. Zwar ist derzeit die Umwandlung einer Gruppentherapie in Einzeltherapien möglich. Der dann notwendige Zeitbedarf überfordert jedoch insbesondere die Praxen, die sich in der Gruppentherapie besonders engagieren.

Persönlicher Kontakt als oberstes Ziel.

Psychotherapie in Videositzungen wird auch nach der Corona-Pandemie ihren Stellenwert in der Versorgung behalten, zum Beispiel für Patienten mit einer Bewegungseinschränkung. Der Goldstandard in der ambulanten Psychotherapie bleibt die Behandlung in persönlicher Anwesenheit der Patienten.

Gebhard Hentschel ist Bundesvorsitzender der Deutschen PsychotherapeutenVereinigung (DPtV), Psychologischer Psychotherapeut und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut.
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