Interview

„Zeit für Pflegereform ist sehr knapp“

Dr. Melanie Leonhard führt als Senatorin in Hamburg seit Juni eine „Super-Behörde“ mit vielen Ressorts. Die SPD-Politikerin hat im Gesundheitssektor viel vor: Den Pflegebedürftigen möchte sie helfen und den gesetzlichen Krankenkassen würde sie gern einen höheren Bundeszuschuss gewähren.

Frau Dr. Leonhard, Corona hält die Politik in Atem. Finden Sie, dass der Föderalismus in der Krise hilfreich ist?

Melanie Leonhard: Ich glaube, dass er sich grundsätzlich bewährt hat. Andere Staaten tragen regierungsintern große Konflikte zur Corona-Krisenbewältigung aus. In Deutschland gelingt uns dagegen eine ganze Menge, trotz oder vielleicht gerade wegen des Föderalismus. Natürlich gibt es die eine oder andere Aus­einandersetzung zwischen den Ländern, etwa zum Thema Schulen, wo sich der Betrachter fragt, warum sich die Politik nicht schneller einig werden kann. Aber grundsätzlich sind wir reaktionsschnell und effektiv. Von einem hinderlichen Flickenteppich kann nicht die Rede sein.

Was hat die Politik bislang aus der Krise gelernt?

Leonhard: Eine wesentliche Erkenntnis ist, dass wir gute übergeordnete Strukturen der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern brauchen, die bis in die einzelnen Kommunen reichen. Nur, wenn wir Regeln gut abstimmen, haben sie auch Bestand und lassen sich gut durchsetzen. Schnellschüsse führen oft dazu, dass Regeln kaum Akzeptanz finden.

In der gesetzlichen Krankenversicherung bahnen sich ein Defizit und höhere Beiträge an, auch wegen Corona-Kosten. Sollte der GKV durch mehr Steuermittel geholfen werden?

Leonhard: Wir müssen definitiv nochmal über einen höheren Steuerzuschuss reden. Gleichzeitig haben wir über Deutschland hinweg eine ganz unterschiedliche Situation, was die Rücklagen der Kassen betrifft. Und da fände ich es im Sinne der gesetzlich Versicherten richtig, wenn man einen höheren Steuerzuschuss kombiniert mit einer höheren Vorhaltequote bei den Rücklagen der einzelnen Kassen, damit die Polster nicht vollständig abgeschmolzen werden. Die wesentlichen Krisenkosten, etwa für Tests, können nicht allein über Beitragserhöhungen und damit von den Versicherten finanziert werden.

Eine Reform der Pflegeversicherung ist dringend erforderlich.

Sie halten also nichts davon, dass es jetzt an die Rücklagen der gesetzlichen Krankenkassen geht …

Leonhard: Ich glaube, dass dies in so einer gigantischen Krisensituation in einem gewissen Rahmen nötig ist. Aber es dürfen nicht alle Kassen über einen Kamm geschoren werden. Es müssen noch Rücklagen weiter da sein dürfen, damit es nicht unmittelbar zu Beitragserhöhungen einzelner Kassen kommt, die wiederum bundesweit folgenreich für sie sein können.

Denken Sie, dass die Sozialgarantie der Bundesregierung die nächsten Jahre Bestand haben wird?

Leonhard: Es ist mit Blick auf Krisenbewältigung und Politik ganz wesentlich für die Akzeptanz in unserem Land, dass die Garantie Bestand hat.

Corona hat viele andere Dinge in den Hintergrund gedrängt. Wie wichtig ist die geplante Reform der Pflegeversicherung?

Leonhard: Ich glaube, eine Reform der Pflegeversicherung ist dringend erforderlich. Wenn wir eine gute Pflege haben wollen, dann bedeutet das flächendeckende Tarifverträge und auch eine gute, qualitative Ausstattung. Die ist allein über Beiträge schwer zu decken.  

Kann denn überhaupt in dieser Legislaturperiode noch eine Pflegereform gelingen?

Leonhard: Ich kann mir vorstellen, dass die Zeit kaum reicht, um die Reform bis zur Bundestagswahl ordentlich hinzukriegen. Wir sind gerade auf dem vermutlichen Höhepunkt der Corona-Pandemie, wir haben noch rund sieben Monate bis zur Sommerpause im kommenden Jahr und im September sind schon Bundestagswahlen. Die Zeit ist sehr knapp.

Müssen die Eigenanteile bei der Pflege begrenzt werden? Herr Spahn hat als Maximum monatlich 700 Euro für höchstens 36 Monate ins Spiel gebracht.

Leonhard: Es kann nicht so bleiben, dass Kostensteigerungen allein zulasten der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen gehen. Die Begrenzung des Eigenanteils muss Kern der Reform sein. Es steht aber in den Sternen, ob die Obergrenze am Ende der Beratungen bei 700 Euro liegen wird. In Bundesländern, in denen ein Platz bisher günstiger zu haben ist, empfänden Menschen dort das dann als unbillige Erhöhung. Womöglich läuft es am Ende auf ein Stufenmodell hinaus.

Wir Sozialdemokraten halten an unserer Idee einer Bürgerversicherung fest.

Es gibt auch die Forderung nach einer stärkeren steuerlich geförderten privaten Pflegeabsicherung, etwa einem Vollkasko-Wahlmodell. Was halten Sie davon?

Leonhard: Ich glaube nicht, dass ein Nebensystem die vorhandenen Probleme löst. Grundsätzlich ist es bei der Pflegever­sicherung sehr gut, dass über Beiträge ein breiter Anteil von Menschen beteiligt ist. Deswegen muss eine Stärkung im System erfolgen, möglicherweise mit Steuerzuschüssen. Im Moment haben wir durch die Deckelung der Beiträge auf der Arbeit­geberseite nicht mal eine Teilkasko-Absicherung.

Brauchen wir eine stärkere Einbindung Privatversicherter in die Pflegefinanzierung?

Leonhard: Wir Sozialdemokraten halten an unserer Idee einer Bürgerversicherung fest. Solange dieses Modell nicht erreichbar ist, muss im System auf anderen Wegen eine größere Beitragsgerechtigkeit erzielt werden.

Wechseln wir zum Thema Krankenhäuser: Wie wichtig ist Ihnen eine Reform in diesem Bereich?

Leonhard: Ich glaube nicht, dass auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie die Debatte über eine höhere Konzentration und Spezialisierung erfolgversprechend ist. Es ist erforderlich, sich pandemiebefreit mit dem Thema zu befassen, um ihm den nötigen Raum zu geben.

Sind weniger Kliniken und mehr Spezialisierung aber nicht der  Weg zu mehr Qualität und einer besseren Versorgung?

Leonhard: Das ist in einzelnen Segmenten sicher richtig. Nehmen wir mal hochspezialisierte Operationen, wo es erforderlich ist, dass Kliniken eine gewisse Anzahl im Jahr durchführen, um eine hohe Behandlungsqualität zu erzielen.

In Deutschland werden immer wieder Medikamente knapp. Die EU und Herr Spahn wollen sich für die Produktion wichtiger Wirkstoffe in Europa einsetzen. Sind sie auf dem richtigen Weg?

Leonhard: Ich glaube, dass das der richtige Weg ist. Wir hatten auch schon vor der Pandemie durch lokale Ereignisse in anderen Weltregionen immer wieder Lieferschwierigkeiten bei einzelnen Wirkstoffen. Es gibt sicherlich plausible Konzepte, wie man sich unabhängig machen kann von lokalen Geschehnissen etwa in Indien oder der America-First-Politik der USA.

Mit welchen Instrumenten können Anreize für Produktion und Versorgung in Europa gesetzt werden?

Leonhard: Es ist eine Wirtschaftspolitik nötig, die diesen Bereich gezielt in den Blick nimmt und Gründungs- und Investitionsanreize schafft. Investitionszuschüsse etwa sind ein probates Mittel. Aber darüber gibt es innerhalb der EU eine sehr lebendige Debatte. Helfen kann auch eine gute Standortpolitik mit der Ausweisung von Flächen.

Thorsten Severin führte das Interview. Er ist Redakteur der G+G.
Bildnachweis: SK/Daniel Reinhardt