Interview

„Zuwendung spart auch Geld“

Immer häufiger werden Notärzte zu Menschen gerufen, die keine medizinische, sondern psychosoziale Unterstützung brauchen. Derartige Notrufe sind alles andere als unbegründet, findet Prof. Dr. Gerhard Trabert und plädiert für einen anderen Umgang mit solchen Patienten.

Herr Professor Trabert, in ärmeren Stadtvierteln gibt es mehr Notarzteinsätze als in wohlhabenden. Warum?
 
Gerhard Trabert: Bei sozial benachteiligten Menschen treten viele Krankheiten häufiger auf. Wenn man das reichste mit dem ärmsten Viertel der Bevölkerung in Deutschland vergleicht, sterben arme Frauen acht Jahre und arme Männer elf Jahre früher. In sozial benachteiligten Stadtteilen ist die Arztdichte oft niedriger und die medizinische Versorgung weniger gut. Außerdem sind diese Viertel häufig stärkeren Umweltbelastungen ausgesetzt. Und weil es weniger Grünflächen und Spielplätze, also weniger Bewegungsmöglichkeiten für die Kinder gibt, ist auch das Unfallrisiko größer.

Porträt von Gerhard Trabert, Professor an der Hochschule RheinMain

Zur Person

Prof. Dr. med. Gerhard Trabert gründete den Verein „Armut und Gesundheit in Deutschland“, der eine medizinische Versorgung für wohnungslose Menschen anbietet. Er lehrt an der Hochschule RheinMain und wurde zum „Hochschullehrer des Jahres 2020“ gewählt.

Spielt auch die Gesundheitskompetenz eine Rolle?

Trabert: Ja, aber das ist kein individuelles und nur zum Teil ein Bildungsproblem. In Deutschland leben rund acht Millionen funktionelle Analphabeten, die komplexe Inhalte nicht so leicht verstehen. Deshalb muss man die Informationen besser zu den Menschen bringen. Ungesundes Verhalten ist oft nicht die Ursache, sondern die Folge von Problemen. Wenn jemand keine Arbeit findet, kein soziales Netz hat, keine gesellschaftliche Anerkennung bekommt, führt der Weg schneller zu Fehlverhalten beim Rauchen oder beim Alkoholkonsum.

Warum rufen sozial benachteiligte Menschen häufiger den Notarzt?

Trabert: Oft kennen sie die Zugänge zur Gesundheitsversorgung nicht genau. Außerdem haben etwa 143.000 Menschen keine Krankenversicherung. Sie gehen oft nicht zum Arzt, sondern warten ab, bis es gar nicht mehr geht. Menschen in prekären Lebenslagen verdrängen häufig ihre Gesundheitssituation oder beurteilen sie positiver als sie ist. Eine Rolle spielt zudem, dass der Notarzt nach Hause kommt, denn manche Menschen schämen sich, in eine Praxis zu gehen. Ich höre auch immer wieder, dass Patienten ohne Chipkarte in Praxen abgewiesen werden. Bei Menschen am Rande der Gesellschaft ist zudem die Depressionsrate hoch. Wenn sich diese psychische Situation in körperlichen Beschwerden äußert, rufen sie auch oft den Notarzt.

Menschen in prekären Lebenslagen verdrängen häufig ihre Gesundheitssituation.

In psychosozialen Notlagen ist der Rettungsdienst oft nicht der richtige Ansprechpartner. Wie kann er trotzdem helfen?

Trabert: Die Einschätzung, um welche Art von Problem es sich handelt, muss immer das Ergebnis einer gewissenhaften Untersuchung sein. Wenn es sich um eine psychosoziale Notlage handelt, dann sollte es auch dafür ein Netzwerk geben. Ich würde mir wünschen, dass der Rettungsdienst Betroffenen Anlaufstellen nennen und auf Wunsch direkt weitere Unterstützung anfordern kann. Dafür brauchen wir aufsuchende Fachstellen, die in solchen Fällen zeitnah Hilfe anbieten können.

Sie sagen, dass eine einfühlsame Behandlung sozial Benachteiligter auch ökonomisch sinnvoll ist. Inwiefern?

Trabert: Eine kanadische Studie hat gezeigt, dass wohnungslose Menschen, die in der Notaufnahme viel persönliche Zuwendung erfuhren, anschließend deutlich seltener dort auftauchten. Offenbar war ihr Bedürfnis, respektiert und gut behandelt zu werden, gestillt worden. Wenn ich durch Zuwendung erreiche, dass Patienten zufrieden sind und seltener wiederkommen, spare ich auch Geld.

Silke Heller-Jung führte das Interview. Sie ist freie gesundheitspolitische Journalistin.
Bildnachweis: privat