Berufsporträt

Kunstaugen aus Meisterhand

Schillernde Iris, schwarze Pupille, feine Äderchen: Ocularistin Ruth Müller-Welt fertigt kleine Meisterstücke, um Menschen nach einem Augenverlust das Leben zu erleichtern. Oliver Häußler (Text) und Christoph Jäckle (Fotos) zeigen, wie die Prothesen entstehen.

Vor etwas mehr als zehn Jahren begann eine neue Zeitrechnung im Leben von Annemarie Ritter. Als dreijähriges Mädchen, kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges, erkrankte sie an Diphterie. Durch die Infektion verlor Annemarie Ritter das linke Auge. Das rechte Auge haben die Ärzte gerettet. In den ersten Jahren konnte sie aufgrund von Wucherungen in der Augenhöhle keine Augenprothese tragen. Später bekam sie unterschiedliche Prothesen aus Glas angepasst. Damit kam Annemarie Ritter schlecht zurecht: Die Prothesen schmerzten, passten nicht richtig, verklebten und verursachten neue Wucherungen. Die Probleme hielten solange an, bis sie in das „Institut für künstliche Augen“ in Stuttgart kam: die Praxis der Ocularistin Ruth Müller-Welt.

Die Atmosphäre im hellen Behandlungszimmer ist entspannt. „Ich suche mir jetzt einen passenden Abdruckhalter, und dann mache ich einen neuen Abdruck“, sagt Ruth Müller-Welt zu Annemarie Ritter. Die beiden Frauen sitzen sich gegenüber und wirken vertraut. Annemarie Ritter lacht und sagt: „Kein Problem.“ Der Abdruckhalter ist die Grundform für einen Abdruck von der Augenhöhle, aus dem in vielen kleinen Schritten die Augenprothese aus Kunststoff modelliert wird. Ruth Müller-Welt wirft einen Blick in die Schachtel mit dutzenden Abdruckhaltern, die sich in Größe und Form unterscheiden. Zielsicher greift sie einen heraus und setzt ihn in das linke Auge von Annemarie Ritter ein. Sie probiert noch einen zweiten Abdruckhalter und fragt Annemarie Ritter, welcher besser passt.

Blick für Farbe, Form und Aura.

Ocularistin Ruth Müller-Welt formt künstliche Augen für Menschen, die durch eine Krankheit oder einen Unfall ihr Auge verloren haben. Ihre jüngsten Patienten haben das erste Lebensjahr noch nicht erreicht. Die ältesten Patienten gehen auf die 100 zu. Das Ziel eines jeden Ocularisten ist es, ein passendes Gegenstück zum gesunden Auge zu kreieren. Die Augenprothese muss nicht nur in der Form und der Größe stimmen, sondern auch in der Beschaffenheit und in der Wirkung dem gesunden Auge so gut entsprechen, dass andere Menschen die Prothese kaum bemerken.

Ocularisten beherrschen ein filigranes Handwerk, geschult im Umgang mit Werkzeug und Material. Aber sie sind auch Künstler mit einem Blick für Farbe, Form und Aura. Zudem braucht ein Ocularist psychologisches Feingefühl im Umgang mit Menschen. Denn der Verlust eines Auges schmerzt körperlich und psychisch. „Viele Patienten haben ganz große Schwierigkeiten, wenn sie ein Auge verloren haben. Sie verstecken sich zu Hause. Wir können den Menschen zwar eine sehr gute Prothese einsetzen, aber die Komplexe bekommen wir dadurch erst einmal nicht weg“, sagt Ruth Müller-Welt.

Abdruck als Grundlage für ein Wachsmodell.

Vorsichtig schüttet die Ocularistin Alganit-Pulver in einen kleinen Becher und mischt es mit einem Stäbchen. Das Material aus Meeralgen und Tang erlaubt einen detailgetreuen Abdruck und ist vor allem für weiches Gewebe wie in der Augenhöhle geeignet, weil es schnell abbindet. Diese Technik wird „modifizierte Impressionstechnik“ genannt. Ruth Müller-Welt zieht das linke Augenlid ihrer Patientin nach oben, setzt die Abdruckform auf und spritzt die flüssige Masse durch die Kanüle des Abdruckhalters. Kurz stillhalten. Augenlid wieder nach oben – schon ist der elastische Abdruck fertig. Jeder Handgriff sitzt. Ruth Müller-Welt lässt sich dabei auch nicht von ihrem verletzten Mittelfinger stören. Der musste geschient werden, weil eine Sehne gerissen ist. Für die Ocularistin kein Grund zu Hause zu bleiben.

Jetzt schnell ins Labor nebenan, da der Abdruck sonst austrocknet und seine Form verliert. Im Labor fertigt Assistentin Audrey Schaal daraus eine Negativform, die sie mit Modellierwachs ausfüllt. Der erste Schritt zur neuen Augenprothese für Annemarie Ritter ist getan.

Glas-Prothesen haben Tradition.

Die heute 74-Jährige hatte nie psychische Probleme mit dem Verlust ihres Auges. „Ich hatte früher meinen Klassenkameraden immer erklärt, was mit mir los ist. Und dann war das gut für die“, erzählt sie. Annemarie Ritter hat auch später im Berufsalltag als Lehrerin den Verlust ihres Auges nie verschwiegen. Alles wäre gut gewesen, wenn sie nicht immer wieder Schmerzen bekommen hätte. „Frau Ritter hat eine sehr kleine Augenhöhle, weil sie jahrelang als Kind ohne Prothese gelebt hat“, erklärt Ruth Müller-Welt. In solchen Fällen schrumpft die Augenhöhle, was das Anpassen einer Prothese erschwert. Lange Jahre trug Annemarie Ritter Glasprothesen, die nicht so exakt angepasst werden konnten, wie eine Augenprothese aus Kunststoff mit der oben erwähnten modifizierten Abdrucktechnik.

In Deutschland, Österreich und in der Schweiz arbeiten die Ocularisten überwiegend mit Glas, während in anderen Ländern fast ausschließlich Kunststoff zum Einsatz kommt. „Das hat historische Gründe“, sagt Ruth Müller-Welt. Denn die Glastechnik wurde vor mehr als 175 Jahren in Deutschland entwickelt, im Örtchen Lauscha in Thüringen. Maßgeblich daran beteiligt waren der Glasbläser Ludwig Müller-Uri und sein Neffe Friedrich-Adolf Müller. Ursprünglich fertigte Müller-Uri Glasaugen für Puppen und Stofftiere. Ein Augenarzt aus Würzburg fand die Augen so gelungen, dass er die Glasbläser animierte, Augenprothesen für Menschen herzustellen. Den Durchbruch schafften die thüringischen Glasbläser mit der Verwendung von Kryolith aus Grönland. Das Kryolithglas ist milchig-weiß, lichtdurchlässig und entspricht optisch dem menschlichen Auge. Und: Das Kryolithglas ist beständig gegen die Tränenflüssigkeit. Das zuvor für künstliche Augen verwendete Bleiglas hielt nur wenige Wochen. Die Prothese aus Kryolith hält etwa ein Jahr, dann muss sie ausgetauscht werden.

Augenprothesen sind verschreibungspflichtige medizinische Hilfsmittel. Die Krankenkassen übernehmen die Kosten im Regelfall für eine Glas-Prothese, einmal jährlich. Für eine Kunststoff-Prothese auf Kassenkosten benötigen die Patienten eine medizinische Indikation. Prothesen aus Kunststoff sind teurer als Glasprothesen und halten länger. Schätzungen zufolge tragen rund 20.000 bis 30.000 Menschen in Deutschland eine Augenprothese (darunter 12.500 AOK-Versicherte im Jahr 2012).

 

 Weitere Informationen beim GKV Spitzenverband

 

Kunststoff ermöglicht genaue Anpassung.

Inzwischen arbeitet Ruth Müller-Welt – sie entstammt der Glasbläser-Dynastie Müller aus Thüringen – an dem Wachsmodell: schleifen, feilen und die Kanten abrunden. Ein gutes Auge und Erfahrung sind wichtig, damit das Wachsmodell genau zur anatomischen Form der Augenhöhle von Annemarie Ritter passt. Die Ocularistin setzt das geglättete Wachsmodell nochmal ein, um zu testen, ob es drückt oder locker ist, und um die Position der Iris aufzumalen. Sie sollte mit dem anderen Auge harmonieren. „Augenprothesen aus Kunststoff können von der Form her ganz genau angepasst werden. Prothesen aus Glas nur ungefähr“, sagt Ruth Müller-Welt.

Vor- und Nachteile der Werkstoffe abwägen.

Wenn die Ocularistin eine Prothese aus Glas anpasst, wählt sie eine vorgefertigte Farbe einer halbfertigen Augenprothese aus ihrem Fundus aus. Dafür stehen Ruth Müller-Welt etwa 8.000 verschiedene Farben zur Verfügung – alle in ihrem Institut selbst angefertigt. Danach wird ein Modell für die Augenprothese aus Glas ausgesucht und an die Gegebenheiten beim Patienten angeglichen. Anschließend modifiziert Ruth Müller-Welt die halbfertige Augenprothese, bis die Größe dem Muster entsprechend passt und die Pupille in Form und Farbe mit dem gesunden Auge harmoniert. „Es gibt Patienten, die keine Probleme mit einer Prothese aus Glas haben. Aber es gibt auch viele Patienten, die eine medizinische Indikation für Augenprothesen aus Kunststoff haben und viel besser damit zurechtkommen“, sagt die Ocularistin.

Annemarie Ritter hat eine medizinische Indikation für eine Augenprothese aus Kunststoff. Im deutschsprachigen Raum gibt es nur wenige Institute, die mit Prothesen aus Kunststoff arbeiten. Die meisten verwenden weiterhin Glas. Ruth Müller-Welt kennt in Deutschland nur einen Kollegen, der genauso arbeitet wie sie. Einige Institute lassen sich Experten aus den USA einfliegen, die hier mit der Kunststoff-Technik arbeiten. Andere wiederum arbeiten zwar mit Kunststoff, machen damit aber nur die Kopie von einer Prothese aus Glas. Das bringt zwar keine bessere anatomische Passung, nutzt aber einen weiteren Vorteil: Im Unterschied zu Prothesen aus Glas zerbrechen Augen aus Kunststoff nicht, wenn sie herunterfallen. Zudem lassen sich Kunststoff-Prothesen polieren, wenn die Tränenflüssigkeit die Oberfläche angegriffen hat.

Allerdings kosten Kunststoff-Prothesen etwa viermal soviel wie die aus Glas. Das werde durch die längere Tragezeit und bessere Haltbarkeit ausgeglichen, so Ruth Müller-Welt. Auch kämen Patienten mit Prothesen aus Kunststoff, angepasst mit der modifizierten Impressionstechnik, besser zurecht. Weil es hinter den Prothesen aus Glas kleine Hohlräume gibt, sammelt sich dort häufig Tränenflüssigkeit an, die die Prothese verklebt. „Manche Patienten müssen mehrmals am Tag die Prothese rausnehmen und reinigen. Bei manchen klebt auch das Augenlid fest“, sagt Ruth Müller-Welt. Prothesen aus Kunststoff müssten nur einmal im Monat gereinigt werden. „Dass ich Frau Müller-Welt gefunden habe, ist ein Segen für mich. Es war eine schlimme Zeit mit dem Auge aus Glas“, sagt Annemarie Ritter. Dank der maßgeschneiderten Augenprothese aus Kunststoff sind die Schmerzen heute weg. „Es ist schön, mit Menschen zu arbeiten und zu helfen. Auch dafür liebe ich meinen Beruf“, sagt Ruth Müller-Welt.

Neben Augenprothesen aus Kunststoff stellt das Institut für künstliche Augen von Ruth Müller-Welt auch Prothesen aus Glas her.

Die Ocularistin erobert eine Männerdomäne.

Im nächsten Arbeitsschritt widmet sich die Ocularistin Iris und Pupille. Die künstliche Iris ist ein kleiner Knopf aus klarem Kunststoff und soll später die gleiche Größe haben wie die Iris des gesunden Auges. Dieser „Irisknopf“ wird bei der fertigen Prothese die vordere Augenkammer darstellen und durch die Form einen dreidimensionalen Effekt erzeugen. Auf die Unterseite des Irisknopfes malt Ruth Müller-Welt einen schwarzen Punkt: die Pupille. Und wieder geht es vom Behandlungszimmer ins Labor und die Werkstatt nebenan. Die Ocularistin setzt die Schutzbrille auf, spannt den Irisknopf in die Drehbank ein und biegt sich die Leuchte mit integrierter Lupe zurecht. Mit einem Skalpell fräst sie millimetergenau die Iris auf die passende Größe und verpasst ihr eine runde Form. Währenddessen wartet Annemarie Ritter im Behandlungszimmer bis Ruth Müller-Welt wiederkommt, um die Irisfarbe aufzumalen.

Ruth Müller-Welt ist in der kleinen Welt der Ocularisten in zweierlei Hinsicht eine Ausnahme. In Deutschland arbeiten etwa 60 bis 80 Ocularisten – früher ausschließlich Männer. Auch heute gibt es so gut wie keine Frauen in diesem Beruf. Ruth Müller-Welt hatte früh Einblick in die Augenprothetik, weil ihr Vater und ihr Großvater im Familienhaus das Institut für künstliche Augen betrieben. Ihr wurde dennoch nichts geschenkt: Sie machte wie alle Ocularisten die gleiche Ausbildung und die gleiche Prüfung. Der Beruf sei für Frauen gut geeignet, betont Ruth Müller-Welt. Zu den Voraussetzungen gehörten eine künstlerische Ader und Einfühlsamkeit beim Umgang mit Menschen. Als zweite Besonderheit setzt Ruth Müller-Welt konsequent auf Kunststoff. Entgegen der Meinung vieler anderer Ocularisten in Deutschland ist sie überzeugt von diesem Werkstoff. Um Augenprothesen aus Kunststoff anfertigen zu können, hat sie vor etwa 20 Jahren eine fünfjährige Zusatzausbildung absolviert und ist dafür immer wieder in die USA gereist, wo die Ocularisten ausschließlich mit Kunststoff arbeiten.

Schicht um Schicht entsteht die Iris.

Für das Aufmalen der Irisfarbe muss Annemarie Ritter Modell sitzen. Ruth Müller-Welt holt sich eine kleine Palette, auf der ein hauchdünnes Blättchen aus Zinn befestigt ist. Auf diesem Blättchen sind kleine Kreise ausgestanzt. Auf einem dieser Kreise beginnt die Ocularistin mit der ersten Schicht der Irisfarbe. Mit einem feinen Pinsel holt sie sich dabei Farbpulver aus einem der vielen Farbdöschen und mischt mit einem Tropfen Wasser einen kleinen Kleks Farbe, den sie auf das Plättchen aufmalt. Nach jeder Farbschicht trägt sie einen flüssigen Kunststoff auf, der die untere Farbschicht von der nächsten Farbschicht trennt. Nach ein paar Schichten hält Ruth Müller-Welt die künstliche Iris neben das gesunde Auge von Annemarie Ritter und vergleicht die Farben. Der Vorgang wiederholt sich: Farbe mischen, auftragen, Trennschicht. Kurz trocken lassen. Und wieder: Farbe mischen, auftragen, Trennschicht. So lange bis die Farbe passt und eine räumliche Tiefe entsteht, die die künstliche Iris wie echt aussehen lässt. „Malen hat mir als Kind schon großen Spaß gemacht“, erzählt Ruth Müller-Welt.

Bei den Augenprothesen aus Glas werden die Farben der Iris und die Blutäderchen des Augapfels nicht aufgemalt, sondern mit farbigen Glasfäden aufgeschmolzen. Diese Glasfäden stellt das Institut für künstliche Augen selbst her. Nur das Grundmaterial, etwa 20 bis 30 Zentimeter lange Glasröhren, bezieht Ruth Müller-Welt wie die meisten ihrer Berufskollegen aus Lauscha in Thüringen, der Wiege der deutschen Augenprothetik. Für beide Techniken gilt: Ohne ein Gefühl für Farben und den richtigen Blick für die Farbe des gesunden Auges kann man kein Ocularist werden.

Nächste Generation in Ausbildung.

Die Ausbildung zu einem Ocularisten beginnt mit einer dreijährigen Praktikantenzeit (siehe Kasten „Lange Lehrzeit“). Dort lernen die Berufsanwärter und -anwärterinnen den Umgang mit dem Grundmaterial Glas. Dafür brauchen sie zunächst einmal handwerkliches Geschick und viel Übung, denn Glas ist ein sehr fragiler Werkstoff. Auch die Herstellung von Farben und der Umgang damit gehört zur Praktikantenzeit. Da der Beruf des Ocularisten nicht staatlich geregelt ist, hängt die Ausbildung stark von der Anleitung des Ausbilders ab. Für die Anatomie und Pathologie des Auges besuchen die Anwärter medizinische Fortbildungsseminare. Das Institut von Ruth Müller-Welt kooperiert in der Ausbildung mit der Augenklinik der Universität in Tübingen. Die Praktikantenzeit schließt mit einer Prüfung vor einem der beiden Fachverbände. Dann beginnt die dreijährige Assistenzzeit, in der die angehenden Ocularisten lernen, Patienten zu beraten und Augenprothesen aus Glas herzustellen.

Nach sechs Jahren und erfolgreicher Prüfung ist die Ausbildung abgeschlossen. Wer lernen will, Augenprothesen aus Kunststoff herzustellen, braucht eine mehrjährige Zusatzausbildung. Derzeit hat Ruth Müller-Welt zwei Frauen zur Ausbildung: ihre Tochter Rahel Feil – die 5. Generation der Augenprothetik-Familie – und Audrey Schaal, eine Französin, deren Vater mit einem US-amerikanischen Ocularisten befreundet ist. Dieser Ocularist hat vor 20 Jahren Ruth Müller-Welt geholfen, sich in den USA für den Einsatz von Kunststoff fortzubilden. Ruth Müller-Welt bildet ihre Tochter sowohl für Augenprothesen aus Glas als auch aus Kunststoff aus. Audrey Schaal durchläuft die Ausbildung ausschließlich mit dem Werkstoff Kunststoff.

Die Ausbildung zur Ocularistin/zum Ocularisten ist nicht staatlich geregelt und folgt keinem einheitlichen Curriculum. Sie beginnt mit einer Praktikantenzeit von drei Jahren. Dabei sammeln die Praktikantinnen und Pranktikanten Erfahrungen beispielsweise darin, Augenfarben und das dazugehörende Grundmaterial herzustellen. Danach folgt eine Assistentenzeit von drei Jahren, in der er oder sie unter Anleitung des Ausbilders lernt, Patienten zu beraten und Augenprothesen aller Schwierigkeitsgrade herzustellen und anzupassen. Um die Technik der Herstellung von Augenprothesen aus Kunststoff zu erlernen, muss in Deutschland eine spezielle, mehrjährige Zusatzausbildung durchlaufen werden. Die theoretischen Kenntnisse – beispielsweise über Anatomie und Pathologie des Auges – erwirbt der angehende Ocularist durch Unterricht bei seinem Ausbilder, dem Studium von Büchern und in Fortbildungsseminaren. Jeder Abschnitt der Ausbildungszeit endet mit einer Prüfung vor einem Komitee von Ocularisten und wird mit einer Urkunde des Allgemeinen Ocularisten Verbandes oder der Deutschen Ocularistischen Gesellschaft anerkannt. Bei der Abschlussprüfung ist auch ein Augenarzt als Prüfer anwesend.

 

 Quelle: Ruth Müller-Welt GmbH, Institut für künstliche Augen, Stuttgart

Material auf Verträglichkeit getestet.

Die Zeichnung für die künstliche Iris von Annemarie Ritter ist fertig. Der Grünton entspricht dem Grünton des gesunden Auges. Ruth Müller-Welt ist zufrieden und klebt die Iriszeichnung auf die zuvor angefertigte Iris auf. Die künstliche Iris wird nun an der Negativform des Wachsmodells befestigt, mit weißem Kunststoff ausgegossen und eine Stunde lang in einer Maschine unter Druck ausgehärtet. „Wir haben in einem Biolabor alle unsere Materialien auf Biokompatibilität testen lassen. Die sind alle unbedenklich“, sagt Ruth Müller-Welt. Während des Aushärtens würden sich die Materialien verbinden, sodass keine schädlichen Stoffe an oder in der Augenprothese verblieben, so die Ocularistin.

Wer als Ocularist innovativ sein will, muss auch kreativ sein, weil es keine Firmen gibt, die Labormaterialien speziell für Ocularisten herstellt. Ein Teil ihrer Werkzeuge, mit denen sie Formen und Abdrücke produziert, hat Ruth Müller-Welt in den USA von einem Ocularisten herstellen lassen, der auch eine Ausbildung als Schlosser hat. Ein Teil der Maschinen, die in der Praxis zum Einsatz kommen, wurden für andere Einsatzzwecke hergestellt wie etwa für die Zahntechnik.

Zwei Tage bis zur fertigen Prothese.

Während die Grundform der Augenprothese aushärtet, plaudern Ruth Müller-Welt und Annemarie Ritter über Privates, Vergangenes und über Pläne für die Zukunft. Zeit für die Mittagspause. Annemarie Ritter hat nun ein paar Stunden, um ihr Hotelzimmer zu beziehen, denn sie wohnt nicht in Stuttgart und reist nur für die Anpassung der Prothese hierher. Während dieser Zeit wird die abgekühlte Grundform im Labor geschliffen und poliert für das erste Probetragen. Bis eine Augenprothese aus Kunststoff komplett fertig ist, braucht es mehrere Durchläufe. Nach jeder Korrektur von Form und Farbe fertigt die Ocularistin eine neue Negativform an und gießt diese wieder mit Kunststoff aus. Dann wieder schleifen und polieren bis alles passt. Die Patienten müssen dafür zwei Tage einplanen. Zeit, die sich Annemarie Ritter gerne nimmt – für eine Augenprothese, die sie ohne Schmerzen und Einschränkung tragen kann.

Oliver Häußler ist freier Journalist in Tübingen mit dem Schwerpunkt Wissenschaftskommunikation.
Christoph Jäckle ist Fotograf, Filmemacher und Medienproduzent in Tübingen.