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Vorstand gefragt!

„Digitalisierung darf kein Selbstzweck sein“

Mehr Nähe, mehr Service, mehr Flexibilität – die AOK Hessen will die Digitalisierung zugunsten von Kunden und Mitarbeitern nutzen. Vorstandschef Detlef Lamm (54) geht dabei mit gutem Beispiel voran.

G+G: Herr Lamm, alle Welt spricht vom digitalen Wandel und von der Arbeitswelt 4.0. Was heißt das für eine gesetzliche Krankenkasse wie die AOK Hessen?

Lamm: Vom Grundsatz her das Gleiche wie für jedes andere Unternehmen: Die Arbeitswelt und die ganze Lebenswelt verändern sich und darauf muss man sich so gut wie möglich einstellen. Denn wer vorbereitet ist, kann mitgestalten und sich Ziele setzen. Für uns als AOK Hessen heißt das: Wir wollen ein noch höheres Maß an Kundenorientierung mithilfe der Digitalisierung erreichen und wir wollen noch effizienter werden. Dabei darf die Digitalisierung nie Selbstzweck sein, sondern muss Nutzen für unsere Kundinnen und Kunden und unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stiften.

G+G: Konkret: Was dürfen Ihre Kundinnen und Kunden von der Digitalisierung erwarten?

Lamm: Eine noch stärkere Orientierung der AOK Hessen an ihren Bedürfnissen. Beispielsweise wollen wir weitere Kontaktkanäle anbieten. Dazu gehört das Co-Browsing, bei dem Sachbearbeiter und Kunde die gleiche Webseite sehen und der Versicherte bei Bedarf mit Unterstützung einen Antrag digital ausfüllen kann. Wir planen auch interaktive Angebote wie Video-Chat-Funktionen und Instant-Messaging-Dienste für einen schnellen, quasi persönlichen Austausch, ohne dass Versicherte in das Beratungscenter müssen. Dabei spielen Daten- und Informationssicherheit natürlich eine wichtige Rolle. Zugleich wollen wir mehr Transparenz schaffen, so dass unsere Kundinnen und Kunden mit wenigen Klicks im Web wissen, wie der jeweilige Bearbeitungsstand bei einem Antrag ist.

G+G: Die Zahl der digitalen Anwendungen nimmt also zu?

Lamm: Ja, aber immer unter der Maßgabe: mehr Kundennutzen, mehr Effizienz. In unserer Online-Geschäftsstelle ist es heute schon möglich, verschiedene Sachverhalte wie beispielsweise den alljährlichen Fragebogen zur Familienmitversicherung online zu erledigen. Wir wollen immer mehr Prozesse, die sich standardisieren lassen, in die Online-Geschäftsstelle integrieren.

G+G: Was heißt das genau?

Lamm: Das, was unsere Kundinnen und Kunden in der Online-Geschäftsstelle vollziehen, muss direkt in unsere internen Software-Systeme und Abläufe einfließen, ohne dass eine Sachbearbeitung dazwischen geschaltet ist. Es geht um eine raschere Bearbeitung und ein schnelleres und nach Möglichkeit direktes Feedback an unsere Kundinnen und Kunden. Damit einher kann auch eine Reduktion der Fehleranfälligkeit gehen, weil das Hin und Her zwischen Papier und virtueller Welt von vornherein wegfällt.

G+G: Bedeutet das am Ende, dass die AOK nicht mehr in der Fläche präsent ist, also keine „Ortskrankenkasse“ mehr sein wird? 

Lamm: Nein, definitiv nicht. Nähe gehört zu unserem Markenkern als AOK und ist ein zentrales Versprechen gegenüber unseren Kundinnen und Kunden. Die AOK Hessen verfügt mit ihren 53 Beratungscentern über das weitaus dichteste Geschäftsstellennetz aller gesetzlichen Krankenkassen in Hessen. Natürlich spielt für uns auch immer der betriebswirtschaftliche Blickwinkel eine wichtige Rolle. Wir setzen daher weiterhin auf räumliche Nähe, denn aus Befragungen und Analysen wissen wir, dass der Kontaktkanal „Geschäftsstelle“ in Zukunft zwar weniger frequentiert wird, für unsere Kundinnen und Kunden in den kommenden Jahren aber nach wie vor einer der zentralen Kommunikationskanäle bleibt. Hinzu kommen heute schon und künftig noch stärker die digitalen Kommunikationsmittel. Nähe heißt für mich aber vor allem, dass wir gegenüber unseren Kundinnen und Kunden zugewandt und einfühlsam sind, gerade auch dann, wenn es um schwierige Fragen geht.

G+G: Auf Ihre Kolleginnen und Kollegen kommen durch die Digitalisierung große Veränderungen zu. Wie unterstützen Sie die Belegschaft dabei?

Lamm: Wir tun das auf vielfältige Weise. So haben wir bereits vor mehr als zwei Jahren ein großes Handlungsprogramm zum Thema Arbeitswelt 4.0 gestartet. Dazu zählt auch ein umfassendes Führungskräfte-Entwicklungsprogramm. Denn wie in jedem anderen Veränderungsprozess sollten Führungskräfte gerade im Themengebiet der sich wandelnden Arbeitswelt und bei der Digitalisierung Vorbild sein.

G+G: Was meinen Sie damit?

Lamm: Im Kern geht es dabei um eine Weiterentwicklung der Unternehmens- und Führungskultur: Klare Ergebnisorientierung, mehr Partizipation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, mehr Eigenverantwortung, eine offene Fehlerkultur, eine erweiterte Feedbackkultur, eine transparente Informationspolitik. Zu Letzterem gehört aktuell unser AOK-Zukunftstag in Wetzlar, die größte Mitarbeiterzusammenkunft seit 16 Jahren.

G+G:  Das hört sich alles gut an. Aber bedeutet Digitalisierung nicht auch Automatisierung und damit den Verlust von Arbeitsplätzen?

Lamm: Ich kann hier nur für die AOK Hessen sprechen: Bei uns werden sich viele, wahrscheinlich sogar alle Arbeitsplätze verändern, sowohl inhaltlich, strukturell als auch quantitativ. Sorgen im Sinne eines Beschäftigungsverlustes durch die Digitalisierung müssen sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter indes nicht machen. Das hängt insbesondere mit dem demografischen Wandel zusammen. In den nächsten Jahren gehen schrittweise die geburtenstarken Jahrgänge in den Ruhestand. Zugleich haben wir wachsende Versichertenzahlen. Darüber hinaus wollen wir das Kundenerlebnis und die Effizienz in den Prozessen deutlich ausbauen.

G+G: Und welche Konsequenzen ziehen Sie daraus?

Lamm: Wir haben unsere Personalpolitik bereits seit Jahren auf diese Entwicklung hin ausgerichtet. Dabei wurde unter anderem unsere Personalrekrutierung auf verschiedenen Ebenen signifikant ausgeweitet. Aber wir können dauerhaft am Arbeitsmarkt angesichts der geburtenschwachen Jahrgänge nur schwer so viele geeignete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gewinnen, wie wir in den nächsten Jahren verlieren. Die Effekte der Digitalisierung verstehen wir daher neben einer vorausschauenden Personalpolitik als elementare Chance, dieser demografischen Entwicklung wirksam zu begegnen. Über Effizienzsteigerungen wollen wir zugleich Möglichkeiten eröffnen, uns zunehmend auf Aufgaben mit klarem Kundenfokus konzentrieren zu können.

G+G: Welche Aufgaben meinen Sie?

Lamm: Der individuelle Service für unsere Versicherten, das Gespräch, die Kreativität im Umgang mit Herausforderungen und neuen Aufgaben werden stärker im Mittelpunkt stehen. Die Arbeit wird noch interessanter und zugleich flexibler. Schon jetzt ermöglichen wir tageweise Home-Office-Lösungen oder dauerhafte Tele-Heimarbeit. Wir haben in diesem Jahr erstmals Desk-Sharing-Areas in unserem Bildungszentrum und in unserem AOK-Haus in Offenbach eingerichtet und erproben damit mobiles Arbeiten. Digitalisierung erleichtert die Vereinbarkeit von Familie, häuslicher Pflege und Beruf und das steigert unsere Attraktivität als Arbeitgeber. 

G+G: Zum Schluss: Führungskräfte sollten nach Ihrer Einschätzung mit gutem Beispiel vorangehen. Wie digital ist denn Ihr Arbeitsalltag?

Lamm: Mein persönlicher mittlerweile sehr. Ich arbeite papierlos, völlig papierlos. Ich schreibe übers iPad, ich markiere übers iPad, ich sortiere dort Sitzungsunterlagen, ich archiviere. Und das ist für mich mittlerweile so selbstverständlich wie früher das Schreiben von Zetteln. Dieses papierlose Arbeiten praktiziert übrigens das ganze Vorstandsteam der AOK Hessen.

G+G: Was ist Ihnen dabei am schwersten gefallen?

Lamm: Die ersten zwei Tage. Wenn man sich umstellt, muss man es aus meiner Sicht konsequent tun. Das fällt am Anfang schwer, weil die Routine fehlt. Aber ich wollte es. Und dann tut man es. Und wenn Routine einkehrt, und die Routine kehrt relativ rasch ein, dann gehört das digitale Arbeiten ganz schnell zum Alltag.

Hans-Bernhard Henkel-Hoving führte das Interview. Er ist Chefredakteur von G+G.
Bildnachweis: AOK Hessen