Beratung

„Pflegende brauchen ein eigenes Leben“

Die Angehörigenpflege kostet viel Zeit, Kraft und Mühe. Wie Menschen diese Aufgabe bewältigen, hat Sozialwissenschaftlerin Professor Dr. Sigrid Leitner gemeinsam mit Kolleginnen aus Essen und Bielefeld untersucht. Sie empfiehlt, Pflegende mit einem Casemanagement zu unterstützen.

Frau Professorin Leitner, die Pflege der Eltern oder des Partners kann extrem belastend sein. Warum übernehmen in Deutschland dennoch Millionen Familienangehörige diese Aufgabe?

Sigrid Leitner: Die Mitglieder einer Familie fühlen sich meist gegenseitig zur Hilfeleistung verpflichtet. Kinder wollen ihren pflegebedürftigen Eltern etwas zurückgeben. Auch in unserer Studie zeigte sich eine große Fürsorgeorientierung. Für manche Menschen ist Pflege zudem so etwas wie Sinnstiftung: Das sind oft Männer, die keine klassische Erwerbskarriere haben, vielleicht schon frühverrentet sind oder in der Familienkonstellation immer eher eine Fürsorgerolle übernommen haben.

Professor Dr. Sigrid Leitner, Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften der TH Köln, leitet ein Projekt zum Alltag von pflegenden Angehörigen. Auf Basis der Ergebnisse von 26 qualitativen Interviews entsteht ein Leitfaden für die Pflegeberatung.

Spielen auch finanzielle Überlegungen eine Rolle?

Leitner: Bei Angehörigen mit höheren Einkommen besteht eher die Bereitschaft, Pflege abzugeben, weil sie sich den Zukauf von Diensten leisten können. Im unteren Einkommensbereich lohnt es sich nicht, erwerbstätig zu bleiben, wenn die Pflegesituation sehr belastend ist. Allerdings gab es in unseren Interviews auch eine Gruppe von Menschen mit geringem Einkommen, die Pflege rund um die Erwerbstätigkeit herum organisieren. Sie beziehen dann viel stärker andere Familienmitglieder in die Pflege ein – kaufen also nicht Dienste hinzu, sondern verteilen die Aufgaben innerhalb der Familie.

Welche Folgen hat die Pflegearbeit für die Angehörigen?

Leitner: Sie müssen sich auf die Situation einstellen und abwägen, wie viel Zeit und Energie sie investieren und wie viel für das eigene Leben bleibt. Oft müssen sie den Alltag umorganisieren, Solidarität in der Familie erzeugen, den Beruf aufgeben oder die Arbeitszeit reduzieren. Pflege ist eine Belastung in emotionaler und körperlicher Hinsicht. In manchen Fällen geraten Pflegende in einen Zustand völliger Erschöpfung, in ein Burnout: Wenn es ihnen schwer fällt, sich abzugrenzen, oder wenn ihnen die Situation aussichtslos erscheint, sie das Gefühl haben, keine Entlastung finden zu können. Wichtig ist die Selbstsorge: Das heißt oft, einen ganz anderen Lebensbereich aufrechtzuerhalten, wie zum Beispiel die Erwerbsarbeit, soziale Kontakte oder den täglichen Spaziergang. Pflegende Angehörige brauchen ein eigenes Leben abseits der Pflege. Daraus schöpfen sie Kraft.

In manchen Fällen geraten pflegende Angehörige in einen Zustand völliger Erschöpfung, in ein Burnout.

Wo brauchen Pflegende mehr Hilfe?

Leitner: Besonders am Anfang spielen Information und Beratung zur Organisation der Pflege eine wichtige Rolle. Viele Befragte haben berichtet, dass sie die Situation als intransparent empfinden. Es fehlt oft an Beratung aus einer Hand, einer ganzheitlichen, trägerübergreifenden Pflegeberatung. In den Niederlanden gibt es ein Casemanagement für die Pflegenden. Es wird also nicht nur gefragt, was die Pflegebedürftigen selbst benötigen, sondern auch, welche Unterstützungsleistungen die pflegenden Angehörigen brauchen. Hierzulande müssen die Angehörigen das Casemanagement meist selbst übernehmen. Wünschenswert wären Fallmanager als feste Ansprechpartner, beispielsweise Fachleute aus der Sozialarbeit, die sich in der Pflegelandschaft auskennen, Hilfen vernetzen und koordinieren. Die Angehörigen sind die wertvollste Ressource in unserem Pflegesystem. Wir müssen darauf achten, dass sie die Pflegesituation möglichst lange und ohne Schäden überstehen.

Weitere Informationen zum Forschungsprojekt PflegeIntersek

Änne Töpfer führte das Interview. Sie ist verantwortliche Redakteurin der G+G.
Bildnachweis: privat