Interview

„Eine dicke Scheibe abschneiden“

Franz Wagner gehörte zu den 20 Teilnehmern der G+G-Studienreise nach Skandinavien. Das Fazit des Chefs des Deutschen Pflegerates: In punkto Selbstbewusstsein und Teamarbeit können Deutschlands Pflegeprofis viel von ihren Kolleginnen und Kollegen im Norden Europas lernen.

Herr Wagner, warum lohnt sich der Blick nach Skandinavien für deutsche Pflegeprofis?

Franz Wagner: Der Blick ins Ausland ist immer gut. In Richtung Nordeuropa lohnt er besonders – auch wenn das Krankenversicherungssystem und die Arbeitsorganisation dort anders sind als bei uns. Was mich beeindruckt, das ist der Stolz, mit dem Pflegende in Skandinavien ihrem Beruf nachgehen. Das hängt auch damit zusammen, dass sie eine hohe fachliche Wertschätzung erfahren. Deshalb spielen Pflegende in der ambulanten Versorgung auch eine wichtige und eigenständige Rolle. Da können wir uns in Deutschland eine dicke Scheibe von abschneiden.

Franz Wagner (60) ist Präsident des Deutschen Pflegerates und Bundesgeschäftsführer des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe.

Inwiefern?

Wagner: Pflegende können in der Primärversorgung gerade in dünn besiedelten Gebieten oder in sozialen Brennpunkten der Metropolen wichtige Aufgaben übernehmen. Nicht alles muss der Mediziner machen, vieles kann auch die fachlich ausgebildete Pflegeperson tun. Dieses Ansinnen richtet sich im Übrigen nicht gegen die Ärzte. Es zahlt vielmehr auf die Notwendigkeit ein, Versorgung stärker interdisziplinär zu gestalten. Dafür ist Skandinavien ein Vorbild. Teamarbeit dort ist viel ausgeprägter, auch weil der gegenseitige Respekt größer ist.

Hängt das auch damit zusammen, dass die Pflegeausbildung in Skandinavien primär an Hochschulen erfolgt?

Wagner: Ja, denn damit ist eine andere Wahrnehmung verknüpft. Wer studiert hat, kann offensichtlich mehr als Rückenwaschen und gut zureden. Außerdem können sie mit einem akademischen Beruf ganz anders um Nachwuchs werben. Das Problem bei uns ist doch, dass Pflege immer dann gut abschneidet, wenn danach gefragt wird, welche Berufe als vertrauenswürdig gelten. Da werden wir oft in einem Atemzug mit den Feuerwehrleuten und Ärzten genannt. Fragt man danach, ob die Pflege ein fachlich anspruchsvoller Beruf ist, landen Pflegende weiter unten auf der Skala. Skandinavien macht vor, wie positiv sich Akademisierung auf Fachlichkeit und Wertschätzung einer Profession auswirkt. Auch mit Blick auf den Fachkräftemangel ist das ein nicht zu unterschätzendes Pfund.

Starkes Berufsbild, mehr Eigenständigkeit: Klingt das für Pflegeprofis in Deutschland wie ein Traum? 

Wagner: Zumindest kenne ich Kolleginnen und Kollegen, die nach Skandinavien ausgewandert sind und die nicht mehr nach Deutschland zurückkommen wollen. Die sagen mir, die Winter in Skandinavien sind lang und kalt. Dafür aber sind die Arbeitsbedingungen im Vergleich zu unseren nahezu paradiesisch: mehr Autonomie, Zusammenarbeit auf Augenhöhe, mehr Flexibilität und deutlich weniger Bürokratie. Außerdem ist ein Dienstplan noch ein Dienstplan. Der wird gemacht und auch eingehalten.

Warum gewinnt Teamarbeit immer mehr an Bedeutung?

Wagner: Weil jede Profession eigene Dinge wahrnimmt. Und nur, wenn alle das kombinieren, was sie am Patienten oder Pflegebedürftigen wahrnehmen, kommen wir zu einem einigermaßen ganzheitlichen Bild. Es ist ja zum Beispiel nicht damit getan, dass der Arzt ein Medikament verordnet. Der Patient muss die Arznei auch schlucken können. Das kann die Pflegefachperson, da sie am nächsten dran ist, am besten einschätzen. Findet darüber keine Kommunikation statt, ist alles nichts.

Thomas Hommel führte das Interview. Er ist Chefreporter der G+G.
Bildnachweis: Deutscher Pflegerat