Die Seele gehört ans Licht
Depressionen, Ängste oder Sucht kosten Lebenszeit, Lebensqualität und Milliarden Euro. Sozialunternehmerin Dominique de Marné setzt sich deshalb für einen offenen Umgang mit psychischer Gesundheit ein.
„Wow, es ist so mutig,
wie offen Du über Deine psychischen Probleme redest. Wirklich toll!“ Kommentare wie dieser sind nett gemeint – aber ich wünschte wirklich, ich müsste sie nicht mehr hören. Hat Ihnen schon einmal jemand Mut attestiert, wenn Sie über einen Zahnarztbesuch, über Ihre Blutdrucksenker oder Ihre Erkältung reden? Ich vermute, eher nicht. Warum wird es dann als mutig angesehen, wenn ich über meine Erfahrungen mit Depressionen, mit Alkoholabhängigkeit, mit Suizidalität, Antidepressiva und Ängsten rede? Besonders angesichts der Tatsache, dass jeder Dritte einmal im Leben selber psychisch erkrankt? Warum lassen wir es zu, dass ein Thema, das viele Menschen Lebenszeit, Lebensqualität, aber auch ganze Leben kostet, ausgeblendet und gemieden wird? Neben individuellem Leid verursacht das Ausblenden der psychischen Gesundheit im Staat, der Wirtschaft und bei den Versicherungen Kosten in Milliardenhöhe.
Dieses Nicht-darüber-reden hat bei mir dazu geführt, dass ich zehn Jahre lang nicht wusste, dass ich einfach „nur“ krank bin. Dass ich nicht früher die Hilfe bekommen habe, die eine jahrelange, schwere Krankheit verhindern oder zumindest mindern oder verkürzen hätte können. Dabei hätte es sie gegeben. Nachdem ich wusste, was wirklich mit mir los war, redete ich so offen über meine Erfahrungen, wie ich es bei jeder körperlichen Erkrankung auch getan hätte – ich verstand einfach nicht, warum ich dies nicht tun sollte. Dass dies nicht der Normalfall ist, sondern eher Schweigen, Verstecken und Leugnen, erfuhr ich in den kommenden Monaten. Und es stärkte meine Motivation, etwas daran zu verändern. Denn ich stellte schnell fest, dass fast jedes Gegenüber, bei dem meine Erkrankung zur Sprache kam, bald selber zu erzählen beginnt: von der Freundin, die gerade in der Klinik ist; vom Kollegen, der sich so viele Sorgen macht; vom Onkel, über dessen Suizid die Familie nicht spricht – und auch von eigenen Erfahrungen. Sobald ich dem Thema mit meiner Geschichte die Tür geöffnet habe, trauen sich die Menschen, selber zu erzählen.
Es darf Spaß machen, sich mit psychischer Gesundheit zu befassen.
Und ich frage mich so oft: Wenn wir doch alle eine Psyche haben, wenn wir doch alle schon Erfahrungen mit dem Thema mentale Gesundheit haben, warum ist es dann immer noch etwas besonderes, mutiges, unsichtbares und auch stigmatisiertes? Psyche fängt nicht erst bei psychischen Problemen an. Psyche hat jeder. Zu einem Körper gehört ein Kopf und somit eine Psyche, eine Seele, ein Geist, Gefühle, Gedanken – wie auch immer Sie es nennen wollen. Der Teil unserer Gesundheit, der sich nicht so einfach putzen, röntgen, durchleuchten, eingipsen, sichtbar machen lässt.
In vielen Punkten sind wir in Deutschland in den letzten Jahren weit gekommen, haben viel erreicht. Solange aber die Wartezeit auf eine Psychotherapie noch durchschnittlich 19 Wochen beträgt, solange mir 18-jährige Schülerinnen und Schüler erzählen, dass ich die erste bin, die mit ihnen über mentale Gesundheit spricht, solange Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihrem Team lieber eine Magen-Darm-Grippe auftischen als ihre Depression, solange liegt noch viel Arbeit vor uns.
Ich kann keine neuen Kassensitze beschließen oder neue Kliniken eröffnen, aber ich kann an dem Punkt ansetzen, den wir derzeit noch zu wenig nutzen: Prävention. Mit meinen Kolleginnen und Kollegen der Mental Health Crowd kann ich verändern, dass und wie wir über das Thema reden – früher, besser, normaler. Wir können zeigen, dass es normal ist, mit dem eigenen Kopf zu kämpfen; dass es im Leben bergauf und bergab geht und wir das aber nicht alles alleine meistern müssen; dass es Spaß machen darf, sich mit Mental Health zu befassen. Und dass man auch mit und nach psychischen Problemen Dinge erreichen kann: Erfolg, Beruf, Familie, Alltag, Abschlüsse – ein gutes, „normales“ Leben. Ob unsere Arbeit Erfolg hat, erkenne ich am Ende auch daran, dass ich immer seltener höre, wie mutig ich doch bin.