Gewalt in der Arbeitswelt stoppen: Dabei hilft ein Bedrohungsmanagement aus drei Schritten.
Prävention

Wege aus der Gewalt

Ob Kränkung, Mobbing oder körperliche Übergriffe – seit Jahren steigt die Zahl der Fälle von Gewalt am Arbeitsplatz an. Wie es dazu kommt und welche Möglichkeiten es gibt, Aggressionen vorzubeugen, erklärt Dr. Holger Pressel.

In der Notaufnahme

des Klinikums Ludwigsburg greift der Bruder eines wegen Drogenvergiftung eingelieferten Patienten den behandelnden Arzt körperlich an. Herbeigerufene Kollegen müssen den Arzt aus dem Schwitzkasten befreien. Fast zeitgleich wird in Köln ein Vollstreckungsbeamter bei einem Hausbesuch mit einem Messer angegriffen und tödlich verletzt. Fälle wie diese sind keine Ausnahme und betreffen alle Branchen. Denn die Gewalt in der Arbeitswelt nimmt seit Jahren zu. Laut der im September dieses Jahres veröffentlichten „Statistik Arbeitsunfallgeschehen“ der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) sind im Berichtsjahr 2019 über 16.000 „Gewaltunfälle“ gemeldet worden.

Das tatsächliche Ausmaß von Gewalt in der Arbeitswelt ist jedoch um ein vielfaches höher. Die Daten der DGUV beinhalten keine Übergriffe gegenüber Beamten und keine Fälle, die nicht zu mindestens vier Tagen Arbeitsunfähigkeit führen. Hinzu kommt, dass bei weitem nicht alle Übergriffe gemeldet werden. Die vorliegenden Daten stellen daher nur die Spitze des Eisbergs dar.

Psychische Folgen im Vordergrund.

Die Folgen von Gewalt am Arbeitsplatz können vielfältig sein und hängen auch von der Form der Gewalt ab. Ein Messerangriff hat andere Auswirkungen als eine Beleidigung. Nach Angaben der DGUV kommt es bei Gewaltunfällen überwiegend zu Prellungen, Verstauchungen oder oberflächlichen Hautverletzungen.

Bei den meisten Übergriffen stehen jedoch nicht körperliche, sondern psychische Folgen im Vordergrund. Das können Schlafstörungen, Angst, Stress und Verunsicherung sein, aber auch Depressionen, Selbstzweifel, Ohnmacht und der Wunsch, die Tätigkeit zu wechseln.

Gewalt in der Arbeitswelt ist ein Ausdruck von „Verrohung“ der Gesellschaft.

Es hilft wenig, die Existenz von Gewalt in der Arbeitswelt zu beklagen. Um gegensteuern zu können, ist es wichtig, die Ursachen von Gewalt zu verstehen. Gewalt zwischen einem Kunden beziehungsweise Patienten und einem Beschäftigten hat zumeist andere Ursachen als Gewalt unter Kollegen.

Gewalt als Frustrationsventil.

Die Gewalt in der Arbeitswelt ist auch ein Ausdruck der „Verrohung“ der Gesellschaft. Viele Menschen sind in Folge zahlreicher Veränderungen ihres Lebens verunsichert. Dies führt bei einigen zu einem Gefühl von Bedrohung und der Suche nach einem Sündenbock als Ventil für Frustrationen. Auch das Internet und die sozialen Medien spielen eine wesentliche Rolle. Dort ist die Sprache aggressiver als in der persönlichen Kommunikation und die Hemmschwelle, Gewalt anzuwenden, geringer. Ähnliches gilt für den übermäßigen Konsum von Alkohol. Auch eine Art Reizüberflutung, etwa lange Wartezeiten, können Ursache von Gewalt sein. Diese nicht abschließende Mischung von Faktoren führt dazu, dass Menschen sogar gegenüber Rettungskräften und Beschäftigten in Krankenhäusern, Arztpraxen und Pflegeheimen relativ schnell überreagieren können.

Situative oder geplante Gewalt.

Es gibt Fälle von Gewalt am Arbeitsplatz, die aus einer Situation heraus entstehen und andere, die nach längerer Planung ausgeübt werden. Situative Gewalt oder „heiße Aggression“ bezeichnet ein reaktives Verhalten und beinhaltet eine ausgeprägte physiologische Erregung. Diese kann entweder eine Reaktion auf eine Bedrohung oder Folge von Wut sein. Dagegen fehlt bei der geplanten Gewalt diese physiologische Erregung. Sie findet eher vorsätzlich statt und wird auch als „kalte Aggression“ bezeichnet. Dieser Gewalttyp ist häufig die Folge einer länger angestauten Frustration, in deren Folge sich der Täter an seinem Peiniger rächt.

Schwierige Situationen entschärfen.

Um Gewalt überhaupt nicht entstehen zu lassen, kommt der Prävention eine hohe Bedeutung zu. Diese sollte sich an dem „TOP-Prinzip“ orientieren. Das T steht für technische, das O für organisatorische und das P für personenbezogene Schutz- und Präventionsmaßnahmen.

Cover des Buiches Umgang mit Gewalt am Arbeitsplatz: Zwei Hände, die sich drücken

Lesetipp

Holger Pressel: Umgang mit Gewalt am Arbeitsplatz. Haufe Verlag, Freiburg 2020.

 

 

 

Die einzelnen Maßnahmen sollten nicht isoliert voneinander angewandt, sondern vielmehr intelligent kombiniert werden. Die relative Bedeutung der einzelnen Dimensionen hängt von der Form der Gewalt ab. So hilft bei Mobbing ein Alarmknopf wenig. Ist Gewaltanwendung schon im Gange, so zielen Maßnahmen der Deeskalation auf eine Entschärfung von „heißer Aggression“, die in einer aufgeheizten Situation entsteht. Für Fälle geplanter Gewalt ist das Bedrohungsmanagement das Mittel der Wahl.

Kritische Momente erkennen.

Beim Bedrohungsmanagement geht es darum, Eskalationsgefahren möglichst früh zu erkennen. Diese sollten dann qualifiziert eingeschätzt werden, um schließlich das Risikopotenzial entschärfen zu können. In vielen Fällen von Gewalt äußert der spätere Täter kritische Verhaltensweisen im Vorfeld, sendet also Warnsignale. Hierzu zählen neben explizit geäußerten Drohungen beispielsweise auch das Zeigen von Waffen sowie verbale oder nonverbale Grenzüberschreitungen.

Der Aufbau eines Bedrohungsmanagements läuft dabei in mehreren Schritten ab: Der erste Schritt besteht in der Sensibilisierung der Beschäftigten, um die erforderliche Aufmerksamkeit für mögliche bedrohliche Verhaltensweisen zu schaffen. Diese Aufmerksamkeit möglichst vieler Beschäftigter ist die Voraussetzung, um durch rechtzeitiges Erkennen kritischer Dynamiken und durch frühzeitige Intervention Gewalttaten zu verhindern.

Eine Nulltoleranz-Strategie sollte Bestandteil jeder Unternehmenskultur sein.

Im zweiten Schritt werden geeignete Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu „Erstbewertern“ qualifiziert. Diesen kommt eine wesentliche Aufgabe zu, da sie eine Einschätzung der Gefährdungslage vornehmen müssen. Der dritte Schritt besteht – sofern tatsächlich Gefahr im Verzug ist – in der Eliminierung der Gefahr. Dies ist meist Angelegenheit der Polizei und erfolgt im Rahmen von „Gefährderansprachen“. Studien ergaben eine sehr hohe Erfolgsquote dieser Gespräche. In bis zu 90 Prozent der Fälle führten sie zu einer Entschärfung der Situation und demzufolge zu weniger Gewalttaten.

Aggressionsauslösende Reize bedenken.

Maßnahmen der Deeskalation sollten bereits bei der Unternehmenskultur beginnen. Nur wenn Gewalt am Arbeitsplatz in all ihren Facetten enttabuisiert wird, können Präventionsmaßnahmen auf den Ebenen von Technik, Organisation und Personal tatsächlich greifen. Wenn Beschäftigte, die Fälle von Gewalt melden, den Eindruck haben, von Vorgesetzten als ängstlich, überempfindlich oder überfordert angesehen zu werden, fehlt die Basis für künftige Meldungen sowie für erfolgversprechendes, prä­ventives Handeln. Bestandteil einer sicherheits- und präventionsorientierten Unternehmenskultur sollte auch ein klares Bekenntnis zu einer „Nulltoleranz-Strategie“ gegenüber jeder Form von Gewalt sein.

Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung: Arbeitsunfallgeschehen 2019

Aspekte der Deeskalation sollten bereits Bestandteil von Gefährdungsbeurteilungen sein, dem zentralen Element im betrieblichen Arbeitsschutz. Bei der Ermittlung von potenziellen Gefährdungen sollte explizit die Gefahr von gewaltauslösenden Reizen, etwa in Wartebereichen, mitgedacht werden. Auch räumliche, bauliche und technische Aspekte, die Einfluss auf die Entstehung von Aggressionen haben können, sollten Gegenstand von Gefährdungsbeurteilungen sein.

Besonders bedeutsam ist die Qualifizierung der Beschäftigten in Bezug auf verbale und nonverbale Kommunikation. Ein falsches Wort oder eine unpassende Mimik kann eine ohnehin angespannte Situation zusätzlich aufheizen. Umgekehrt kann durch einen gelungenen Beziehungsaufbau zu einem Aggressor eine sich abzeichnende Gefahr häufig gebannt werden. Auch dieser Weg führt zu einer Entschärfung der Situation und letztendlich zu weniger Gewalt.

Holger Pressel ist Leiter der Stabsstelle Politik bei der AOK Baden-Württemberg.
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