Radiologen haften für Befundfehler
Auch im Rahmen des Mammografie-Screening-Programms müssen Ärztinnen und Ärzte bei Auffälligkeiten, die im Anamnesebogen von den Frauen mitgeteilt werden, nachfragen, ob dieser Befund bereits abgeklärt ist. Tun sie das nicht, kann ein grober Fehler vorliegen. Dies hat der Bundesgerichtshof entschieden. Von Anja Mertens
– VI ZR 213/19 –
Bundesgerichtshof
Brustkrebs ist die häufigste
bösartige Tumorform bei Frauen. In Deutschland erkranken dem Zentrum für Krebsregisterdaten zufolge jedes Jahr rund 69.000 Frauen neu daran. Die meisten Frauen mit Brustkrebs haben heute eine gute Überlebenschance. Das liegt an immer besseren Therapien – und an einer immer besseren Früherkennung. Dazu gehört das Mammografie-Screening, zu dem Frauen zwischen 50 und 69 Jahren in Deutschland alle zwei Jahre eingeladen werden. Die Kosten trägt die gesetzliche Krankenversicherung. Bei der Röntgenuntersuchung können Radiologen Veränderungen in der Brust schon früh erkennen. Allerdings kommt es auch zu Behandlungsfehlern. So geschehen in dem Fall, der dem Bundesgerichtshof (BGH) vorlag.
Keine Auffälligkeit bei Mammografie.
Die klagende Frau nahm 2010 am Mammografie-Screening teil. Im Januar 2012 ging sie zur Krebsvorsorge zu einer Frauenärztin – ohne auffälligen Befund. Als sie im April 2012 erneut im Rahmen des Mammografie-Screenings die Radiologiepraxis aufsuchte, teilte sie dort mit, ihre rechte Brustwarze sei seit einiger Zeit leicht eingezogen (Mamillenretraktion). Dem gingen die Radiologen aber nicht weiter nach. Die Mammografie-Aufnahme bewerteten sie als „normal“. Da sich jedoch die Brustwarze weiter einzog, konsultierte die Frau 2014 einen Frauenarzt, der Brustkrebs feststellte. Die Patientin musste sich einigen Operationen, Bestrahlungen und einer Chemotherapie unterziehen. Die Frau verklagte die Radiologiepraxis wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung: Wäre ihr nicht mitgeteilt worden, „da sei nichts Auffälliges“, wäre der Brustkrebs entdeckt worden, bevor die Lymphknoten befallen waren. Das hätte ihr die Chemotherapie und die Bestrahlungen erspart.
Die Radiologen hätten auf eine weitere Abklärung hinwirken müssen, so die Bundesrichter.
Das Landgericht verurteilte die Radiologiepraxis, 10.000 Euro Schmerzensgeld zu zahlen und der Patientin ihren materiellen Schaden sowie künftige Schäden zu ersetzen. Das Vorgehen beim Screening im April 2012 sei fehlerhaft gewesen. Weitere Untersuchungen wären geboten und anzuraten gewesen. Nachdem das Oberlandesgericht die Berufung abgewiesen hatte, legten die Beklagten Revision beim BGH ein – ohne Erfolg.
Die obersten Zivilrichter führten zunächst aus, dass ein Arzt bei einer Beobachtung, die er im Rahmen seiner Untersuchung macht und die auf eine ernst zu nehmende Erkrankung hinweisen kann, auf eine rasche diagnostische Abklärung hinwirken müsse, um vermeidbare Gesundheitsschäden zu verhindern. Er dürfe weder Auffälligkeiten einfach übergehen noch vor Zufallsbefunden die Augen verschließen. Bei einer Untersuchung zur Krebsfrüherkennung bestehe erst recht die Pflicht des Arztes, Auffälligkeiten, die auf Krebs hindeuten können, abzuklären. Die Beklagten hätten nicht darauf vertrauen dürfen, dass die Mamillenretraktion bei einer Brustkrebs-Vorsorgeuntersuchung abgeklärt worden sei. Auch hätten sich die Radiologen nicht nach dem Grundsatz der horizontalen Arbeitsteilung darauf verlassen dürfen, dass die von der Patientin angegebene Mamillenretraktion bei einer Brustkrebs-Vorsorgeuntersuchung im kurativen Bereich abgeklärt worden war. Hierzu hätten die Radiologen wissen müssen, wann die Patientin zuletzt zur Brustkrebs-Vorsorgeuntersuchung beim Frauenarzt gewesen sei und ob dieser die Mamillenretraktion bereits untersucht habe. Zudem habe keinerlei Zusammenarbeit mit den Frauenärzten der Patientin bestanden, sondern es fand das alle zwei Jahre von Vorsorgeuntersuchungen unabhängige Mammografie-Screening statt.
Vorschnelle Diagnose.
Die Vorinstanz habe zu Recht einen Befunderhebungsfehler und nicht einen Diagnoseirrtum oder Fehler der therapeutischen Aufklärung festgestellt. Denn die Beklagten hätten auf die anamnestische Angabe der Mamillenretraktion keine weiteren Untersuchungen veranlasst, sondern seien vorschnell zu dem Ergebnis „unauffällig“ gekommen. Der BGH ließ die Auffassung der Beklagten nicht gelten, der Fehler liege allenfalls darin, dass aus der Bildgebung geschlossen worden sei, es läge keine Mamillenretraktion vor. Ein Radiologe müsse wissen, dass die Bildgebung für die zuverlässige Abklärung einer Mamillenretraktion nicht ausreiche.
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Auch habe die Vorinstanz zu Recht die Kausalität zwischen dem Behandlungsfehler und dem Gesundheitsschaden bejaht. Nicht zu beanstanden sei die Überzeugung des Berufungsgericht, dass die Patientin bei dem gebotenen Hinweis, dass die Mamillenretraktion weiterer Abklärung bedarf, diese veranlasst hätte. Das Gericht habe ausdrücklich den von der Revision genannten Umstand einbezogen, dass die Klägerin bereits im Januar 2012 ihre Frauenärztin auf die Einziehung der Mamille hingewiesen hatte, diese aber lediglich eine Tastuntersuchung vorgenommen und sonst nichts weiter veranlasst hatte. Daraus ließe sich nicht der Schluss ziehen, dass die Patientin einen Hinweis der Beklagten auf eine notwendige Abklärung ignoriert hätte. Auch sei in den Blick zu nehmen, dass die Schwester der Klägerin ebenfalls an Brustkrebs erkrankt war.
Umkehr der Beweislast kann greifen.
Der sogenannte einfache Befunderhebungsfehler führe hier auch zu einer Umkehr der Beweislast hinsichtlich der Kausalität des Behandlungsfehlers für den eingetretenen Gesundheitsschaden. Denn bei der gebotenen Abklärung hätte sich mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein so deutlicher und gravierender Befund ergeben, dass sich dessen Verkennung als fundamental oder die Nichtreaktion hierauf als grob fehlerhaft dargestellt hätte.
Kommentar: Der BGH hat klargestellt, dass sich Radiologen nicht auf eine Bewertung ihrer Röntgenbilder zurückziehen können. Andere Hinweise auf Krebs verpflichten sie dazu, die gebotenen Maßnahmen zu ergreifen.