Karlsruhe stärkt Patientenrechte
In Arzthaftungsprozessen dürfen Gerichte nicht einfach von der hypothetischen Zustimmung eines Patienten zu einem medizinischen Eingriff ausgehen. Um zu klären, ob er sich auch ohne ordnungsgemäße Aufklärung für die Behandlung entschieden hätte, müssen sie ihn persönlich anhören. Dies hat der Bundesgerichtshof entschieden. Von Anja Mertens
– VI ZR 310/21 –
Bundesgerichtshof
Die Verteilung der Beweislast
im Arzthaftungsprozess macht es geschädigten Patientinnen und Patienten schwer, ihre Rechte durchzusetzen. Sie müssen den Behandlungsfehler und die Kausalität zwischen dem Behandlungsfehler und dem erlittenen Gesundheitsschaden nachweisen. Bei Schäden infolge der Verletzung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten durch eine unzureichende ärztliche Aufklärung und damit fehlender Einwilligung in die Therapie kommt der fiktiven Einwilligung des Patienten besondere Bedeutung zu. Wird diese angenommen, liegt zwar ein Aufklärungsfehler vor. Aber der Betroffene kann weder Schadenersatz noch Schmerzensgeld verlangen.
Methode während OP gewechselt.
Ob Gerichte bei Aufklärungsfehlern von einer hypothetischen Einwilligung auch ohne persönliche Anhörung des Patienten ausgehen dürfen, hatte kürzlich der Bundesgerichtshof (BGH) zu entscheiden. Ihm lag der Fall eines Mannes vor, der sich bei einem Augenarzt Ende 2016 für eine LASIK-Behandlung wegen Kurzsichtigkeit vorgestellt hatte. Bei diesem Eingriff wird mithilfe eines Lasers gezielt Gewebe im Inneren der Augenhornhaut abgetragen. Nachdem ihn der Augenarzt über die Risiken aufgeklärt hatte, erfolgte im Februar 2017 zunächst die LASIK-Laserbehandlung des rechten Auges unter Vollnarkose. Während der Operation kam es zu einem Kneifen des Auges, sodass der Laserschnitt verrutschte. Der Arzt brach die Behandlung ab und wählte anstatt dessen die sogenannte photoreaktive Excimer-Laserbehandlung (PRK), bei der feine Hornhautschichten an der Oberfläche abgetragen werden. Auch am linken Auge machte er von dieser Methode Gebrauch. Über die Risiken der PRK war der Patient nicht aufgeklärt worden. Im August 2017 führte der Arzt an dem rechtem Auge eine Revisions-PRK durch. Der Patient litt anschließend an Sehstörungen und Augentrockenheit, die er auf die Eingriffe zurückführte.
An den ärztlichen Nachweis einer fiktiven Einwilligung sind hohe Anforderungen zu stellen, so die obersten Zivilrichter.
Er verklagte den Augenarzt und forderte Schadenersatz und Schmerzensgeld. Das Landgericht wies seine Klage ab. Auch die beim Oberlandesgericht (OLG) eingelegte Berufung blieb erfolglos. Der Arzt könne sich auf eine hypothetische Einwilligung des Patienten berufen, weil dieser einen Entscheidungskonflikt nicht plausibel dargelegt habe. Seine Anhörung sei daher nicht erforderlich gewesen, urteilte das OLG und ließ eine Revision nicht zu. Daraufhin legte der Patient Nichtzulassungsbeschwerde beim BGH ein – mit Erfolg. Die obersten Zivilrichter hoben die Entscheidung auf und verwiesen den Rechtsstreit an das OLG zur weiteren Prüfung zurück.
Gegen Anspruch auf Gehör verstoßen.
Die Annahme des OLG, dem Kläger stehe ein Anspruch aus Verletzung der Aufklärungspflicht nicht zu, verstoße gegen dessen Anspruch auf rechtliches Gehör (Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes). Mit Recht wende sich die Nichtzulassungsbeschwerde gegen die Beurteilung des OLG, der Augenarzt könne sich auf eine hypothetische Einwilligung berufen. Das OLG hätte nicht ohne Anhörung des Patienten über das Bestehen eines Entscheidungskonflikts befinden dürfen.
Zwar könne sich bei nicht ausreichender Aufklärung ein Arzt darauf berufen, dass der Patient auch im Fall einer ordnungsgemäßen Aufklärung in die Behandlung eingewilligt hätte (Paragraf 630h Absatz 2 Satz 2 Bürgerliches Gesetzbuch). Dies aber müsse der Arzt nachweisen. Um den Anspruch von Patienten auf Aufklärung nicht zu unterlaufen, unterliege der ärztliche Nachweis strengen Anforderungen. Mache der Patient plausibel, er hätte bei ordnungsgemäßer Aufklärung vor einem echten Entscheidungskonflikt gestanden, läge die Beweislast bei dem sich auf die hypothetische Einwilligung berufenden Arzt. An die Pflicht des Patienten zur Substantiierung eines solchen Konflikts seien aber keine zu hohen Anforderungen zu stellen. Abzustellen sei auf dessen persönliche Entscheidungssituation. Was aus ärztlicher Sicht sinnvoll und erforderlich gewesen wäre und wie ein „vernünftiger Patient“ sich verhalten würde, sei hier grundsätzlich nicht entscheidend.
Sachgerechtes Urteil erfordert Anhörung.
Feststellungen darüber, wie sich ein Patient bei ausreichender Aufklärung entschieden hätte, und ob er in einen Entscheidungskonflikt geraten wäre, dürften Gerichte grundsätzlich nicht ohne persönliche Anhörung des Patienten treffen. Durch die Anhörung werde vermieden, dass Richter vorschnell einen Entscheidungskonflikt verneinten, ohne die persönlichen, möglicherweise weniger naheliegenden oder als unvernünftig erscheinenden Erwägungen ausreichend in Betracht zu ziehen. Die Anhörung solle es ermöglichen, den Gründen für und gegen einen Entscheidungskonflikt durch Nachfragen nachzugehen und sachgerecht zu beurteilen.
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Außerdem sei im vorliegenden Fall eine sichere Beurteilung der hypothetischen Entscheidungssituation ohne persönliche Anhörung des Patienten schon deshalb nicht ausnahmsweise möglich gewesen, weil die äußeren Umstände der Aufklärung und der tatsächlichen Entscheidungssituation strittig geblieben seien. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass das OLG nach Anhörung des Patienten anders geurteilt hätte. Ferner lasse sich entgegen der Auffassung des OLG die Schadensursächlichkeit des Aufklärungsfehlers hinsichtlich des linken Auges nicht deshalb verneinen, dass die geltend gemachten Schäden sämtlich das rechte Auge beträfen. Zum einen habe der Patient in der Klageschrift dargelegt, dass beide Augen geschädigt seien. Zum anderen sei dem OLG aus dem Blick geraten, dass für eine wirksame Einwilligung des Patienten eine ordnungsgemäße Aufklärung vorliegen muss. Andernfalls wäre der Eingriff per se rechtswidrig.
Kommentar: Der Entscheidung des Bundesgerichtshofs ist zuzustimmen. Sie trägt zur Stärkung der Patientenrechte und zur Rechtssicherheit bei.