„Höhere Beiträge passen nicht in die Zeit“
Von den Reformen im Gesundheits- und Pflegesektor hat Berlins Gesundheitssenatorin Ulrike Gote konkrete Vorstellungen. Höhere Krankenkassenbeiträge hält die Grünen-Politikerin für ein Unding, und im Krankenhaussektor sieht sie große Umwälzungen auf die Hauptstadt zukommen.
Frau Senatorin Gote, der nächste Corona-Winter steht vor der Tür. Sehen Sie Deutschland und speziell Berlin gut gerüstet?
Ulrike Gote: Ich gehe relativ gelassen in den Herbst und Winter. Wir sind gut vorbereitet und in einer ganz anderen Ausgangslage als im vergangenen Jahr, weil wir durch Impfungen und durchgemachte Infektionen eine sehr hohe Grundimmunisierung der Bevölkerung haben. Gerade beim Impfen sind wir in Berlin sehr weit. Nichtsdestotrotz werden auch dieser Herbst und Winter eine Herausforderung werden.
Reichen Ihnen die Maßnahme-Optionen, die der Bund den Ländern im Zuge der Änderungen am Infektionsschutzgesetz zugestanden hat?
Gote: Grundsätzlich bin ich froh, dass wir die Entscheidung über die Maskenpflicht im ÖPNV behalten haben. Das wollen wir in Berlin auch so weiterführen, denn die Bürger sind daran gewöhnt. Auch der weitere Instrumentenkasten ist zunächst einmal gut, so etwa, dass wir auch in Innenräumen bei Bedarf wieder Masken anordnen können. Das große Problem an dem Gesetz ist aber, dass es keine klaren Schwellenwerte gibt, ab wann strengere Regelungen gelten sollen. Wir hätten uns hier konkrete Hinweise von der Bundesebene gewünscht, damit wir in der Bundesrepublik abgestimmt handeln können und wir nicht wieder einen Flickenteppich bekommen.
Werden die Bundesländer denn trotzdem einigermaßen einheitlich vorgehen?
Gote: Wir versuchen das. Wir haben als Länder-Gesundheitsminister und -ministerinnen einen sehr effektiven Austausch. Da sind die Fronten keineswegs verhärtet. Für mich in Berlin ist besonders die enge Abstimmung mit Brandenburg wichtig, denn wir sind eine Metropolregion.
Zum Thema Pflege: Da soll es dieses Jahr noch Vorschläge der Regierung geben. Was sind für Sie Bestandteile einer Reform?
Gote: Wir sehen, dass die Pflegebedürftigen mit sehr hohen Eigenanteilen belastet sind, die wir so nicht hinnehmen können. Strukturell muss sich daher schnell etwas ändern. Unser Ziel ist der Sockel-Spitze-Tausch. Das Risiko von Kostensteigerungen würden dabei nicht mehr wie jetzt die Pflegebedürftigen tragen, sondern es würde von der Pflegeversicherung übernommen. Der Eigenanteil bliebe auf einer festgesetzten Höhe. Wir brauchen zudem bei der Erstattung der Sachkosten eine Dynamisierung. Darüber hinaus müssen versicherungsfremde Leistungen endlich aus Steuermitteln gezahlt werden.
Das alles würde viel kosten. Geht das ohne steigende Beiträge in der Pflegeversicherung?
Gote: Es sollte gehen, weil die Beiträge jetzt schon sehr hoch sind. Aber es ist ganz klar, dass dafür mehr Geld ins System kommen muss. Wir werden das nicht mit Umverteilung in einem Nullsummenspiel hinbekommen. Und da sage ich ganz klar, da müssen wir aus Steuermitteln nachsteuern. Spätestens nächstes Jahr muss eine Reform umgesetzt werden.
Schlimmstenfalls gehen Personen aus der Pflege heraus, weil sie es sich nicht mehr leisten können.
Wie wirkt sich die seit September geltende Tariftreueregelung in Berlin aus?
Gote: Mehr als 80 Prozent der Pflegebedürftigen sind hierdurch von höheren Kosten betroffen. Die Steigerungen liegen bei 20 bis 40 Prozent – ohne die Summe, die durch Inflation und höhere Energiekosten noch oben draufkommt. Das betrifft den stationären Bereich und den ambulanten Bereich gleichermaßen. Dadurch werden Menschen in ihrer Existenz bedroht. Schlimmstenfalls gehen Personen aus der Pflege heraus, weil sie es sich nicht mehr leisten können.
Kann das Land zur Entlastung der Pflegebedürftigen etwas tun?
Gote: Wir können in Berlin nur im Bereich der Hilfen, die im Bedarfsfall von den Sozialämtern gewährt werden können, soziale Härten abmildern. Das kann aber keine dauerhafte Lösung sein. Hier muss ganz dringend der Bund in die Bresche springen. Kurzum: Ich finde es richtig, dass im Pflegesektor höhere Löhne gezahlt werden. Das darf aber nicht eins zu eins an die Pflegebedürftigen durchgereicht werden.
In der gesetzlichen Krankenversicherung kommen auf die Mitglieder 2023 deutlich höhere Beiträge zu. Wie passt das in eine Zeit, in der alles teurer und nach Entlastung der Bürger gesucht wird?
Gote: Das passt gar nicht in die Zeit. Ich halte die Beitragserhöhung für ein Unding. Sie hilft nicht lange, denn es ist eine sehr kurzfristige Maßnahme und das Grundproblem wird nicht geheilt. Wir müssen mutiger zu Werke gehen und auf langfristig tragfähige Lösungen setzen.
Was ist Ihr Rezept gegen das hohe Defizit?
Gote: Wir haben in der GKV immer noch Leistungen, die versicherungsfremd sind. Diese müssen komplett dort herausgenommen und aus Steuergeldern finanziert werden. Der Pauschalbeitrag des Bundes an die Kassen für die Arbeitslosengeld-II-Empfänger sollte unbedingt kostendeckend sein, also zehn Milliarden Euro umfassen. Um das System langfristig auf gute Füße zu stellen, brauchen wir einen Wandel in der Versorgungsstruktur. Wir müssen schauen: Wo haben wir etwa im Kliniksektor Strukturen, die viel Geld kosten, aber nicht mehr notwendig sind und auch in der Qualität nicht überzeugen? Das ist ein schwieriger Aushandlungsprozess.
Es gibt durch den medizinischen Fortschritt so viele Möglichkeiten, bei der Ambulantisierung voranzugehen.
Sie haben es gesagt: Auch im Kliniksektor kann nicht alles so bleiben, wie es ist. Wünschen Sie sich weniger Krankenhäuser?
Gote: Ich wünsche mir weniger Krankenhäuser so, wie wir sie kennen. Wir müssen natürlich über einzelne Klinikstandorte reden. Das heißt aber nicht, dass wir am Ende weniger Standorte der Gesundheitsversorgung haben. Es geht um Spezialisierung und Zentralisierung. Die traditionelle Trennung zwischen stationärer und ambulanter Versorgung muss zudem immer weiter aufgebrochen werden. Es gibt durch den medizinischen Fortschritt so viele Möglichkeiten, bei der Ambulantisierung voranzugehen.
Was bedeutet das für die Hauptstadt?
Gote: Wir haben eine besondere Situation in Berlin mit sehr vielen Krankenhäusern und den zwei landeseigenen Kliniken Charité und Vivantes. Da wird sicherlich eine Umstrukturierung stattfinden. Das ist immer sehr schmerzhaft für den Kiez, den es gerade trifft. Wichtig ist, dass wir dort dann eine niedrigschwellige, gute ambulante Versorgung zur Verfügung stellen. Und jeder soll einen schnellen Zugang zur stationären Behandlung haben. Aber nicht jedes Krankenhaus bietet alles an.
Da stehen heiße Debatten bevor …
Gote: Wenn wir Betten abbauen, ist das natürlich erst mal etwas, das wir erklären müssen. Es muss sichtbar werden, dass es nicht um Qualitätsabbau geht, sondern um eine zukunftsfähige Neuausrichtung. Am Ende steht ein Qualitätsgewinn. Mit Blick auf Berlin ist diese Umstrukturierung nichts, was wir in meinem Haus von oben herab entscheiden. Vielmehr sind wir in einem sehr guten Austausch mit der Krankenhausgesellschaft, mit allen privaten und freigemeinnützigen Trägern sowie mit den landeseigenen Einrichtungen. Ich weiß von der Trägerseite, dass da viel in Bewegung ist. Da müssen auch die Krankenkassen und die Kassenärztliche Vereinigung mit ins Boot.
Im Krankenhausbereich wird immer mehr privatisiert und Medizinische Versorgungszentren werden von Kapitalgesellschaften aufgekauft. Für wie gefährlich halten Sie die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens und wie lässt sich gegensteuern?
Gote: Grundsätzlich ist wichtig, dass wir eine qualitativ gute Gesundheitsversorgung haben. Die kann auch bei privaten Trägern stattfinden. Wir haben in Berlin ja mehr als die Hälfte der Betten bei privaten und freigemeinnützigen Krankenhäusern. Schwierig wird es tatsächlich bei den MVZ, die investorengetrieben sind. Das macht mir große Sorge. Da ist schon viel Flurschaden entstanden. Die Gesundheitsministerinnen und -minister sind sich einig, dass da ein dringender Regelungsbedarf besteht, denn das ist insgesamt eine sehr negative Entwicklung. Andererseits finde ich es sehr gut, dass Berlin zwei große Klinikeinrichtungen in Landeseigentum hat. Das ist auch eine Form der Daseinsvorsorge.
Bundesminister Lauterbach hat unlängst seine Pläne zur bundesweiten Errichtung von Gesundheitskiosken als niedrigschwellige Angebote etwa in sozial schwachen Gebieten vorgestellt. Sind solche Kioske ein Modell für die Hauptstadt?
Gote: Zunächst mal finde ich die Idee grundsätzlich richtig – also einen niedrigschwelligen Zugang im Kiez, im Quartier, im sozialen Umfeld für Menschen zu schaffen, die nicht leicht den Weg zu einer guten ärztlichen Versorgung finden. Einen solchen Ansatz verfolgen wir in Berlin auch. Ob aber genau dieses Modell von Herrn Lauterbach dem entspricht, was wir vor Ort brauchen, das können wir noch nicht sagen. Wir haben in der Hauptstadt begonnen, mit dem Gesundheitszentrum in Neukölln einen sektorenübergreifenden, sehr niederschwelligen Zugang zu schaffen. Der Unterschied zu einem Gesundheitskiosk liegt darin, dass dort auch Ärzte ihren Sitz haben. Das ist also praktisch ein MVZ mit einer sozialen Infrastruktur und Beratungsangeboten. Es ist sehr angepasst an das, was in diesem Gebiet gebraucht wird. Dies scheint mir für uns der deutlich bessere Weg zu sein. Trotzdem schauen wir uns das Konzept des Bundes gerne an, denn der Bedarf an niederschwelligen Zugängen zu medizinischen Leistungen oder zu Beratung mit Lotsenfunktion ist ohne Zweifel da. Wir prüfen auch gerne, was sich an ärztlichen Aufgaben verlagern lässt ins Vorfeld – etwa an eine Community Nurse. Aber wir werden in Berlin wohl vorrangig das Neuköllner Modell weiterverfolgen. Wenn das kompatibel ist mit den Kiosken von Herrn Lauterbach, dann umso besser.