Aufmerksamkeit für die Pflege daheim
Die meisten pflegebedürftigen Menschen leben in ihren eigenen vier Wänden – versorgt von Familienangehörigen. Damit solche Arrangements gelingen, haben Experten das Verfahren der „Subjektorientierten Qualitätssicherung“ entwickelt. Dabei erfassen Gutachter des Medizinischen Dienstes Risiken und bewerten sie, um passende Hilfen zu veranlassen. Prof. Dr. habil. Thomas Klie und Prof. Dr. h.c. Andreas Büscher erläutern das Konzept und berichten über erste Erfahrungen.
Die häusliche Pflege entspricht den Präferenzen der Mehrheit der Bevölkerung. Sie dominiert alle anderen Versorgungsformen bei Pflegebedürftigkeit – obwohl die meisten Menschen sich vorstellen können, welche Belastungen damit verbunden sind, und Ratlosigkeit herrscht, wie sich ein Leben mit Pflegebedürftigkeit gut bewältigen lässt. Die Pflegeversicherung baut auf die Familienpflege. Sie kalkuliert auch fiskalisch mit der ungebrochenen Solidaritätsbereitschaft der Menschen.
In der pflegepolitischen Diskussion wird die häusliche Pflege meist nur randständig behandelt. Im Fokus stehen die Pflegeeinrichtungen mit Themen wie Verfeinerung der Qualitätssicherung, intensivere Kontrolle angesichts von Skandalen, Begrenzung des Eigenanteils der Heimbewohner, Personalknappheit. Mit Einführung der Pflegeversicherung wurde die Pflege zu einem Markt. Die FDP hatte die Wettbewerbsneutralität im Pflegeversicherungsrecht verankern lassen und zur Bedingung ihrer Zustimmung gemacht. Es ist der Marktorientierung geschuldet, dass aus dem industriellen Bereich bekannte Qualitätssicherungs- und Qualitätsmanagementansätze auf die Langzeitpflege übertragen wurden und diese erst jetzt wissenschaftlich weiterentwickelt werden. Insbesondere in der häuslichen Versorgung ohne professionelle Unterstützung gelingt es bisher nicht, die Lebens- und Pflegesituation zu betrachten.
Konzept verlagert den Fokus.
Der Ansatz der „Subjektorientierten Qualitätssicherung“ (SQS) verlagert den Fokus von der Institution zur Person. Seit 2017 beschäftigen sich die Autoren dieses Beitrags mit dem Konzept, das der AOK-Bundesverband maßgeblich unterstützt und in vier Phasen der Entwicklung und Implementierung gefördert hat. Dabei geht es um folgende Fragen: Wie lässt sich die Lebenssituation von auf Pflege angewiesenen Menschen in ihrer eigenen Häuslichkeit besser in den Blick nehmen? Wie lassen sich für die Stabilisierung häuslicher Pflegearrangements wichtige Hilfen und Entlastungsangebote erschließen? Wie lassen sich die Pflegebegutachtungen des Medizinischen Dienstes konsequenter nutzen, um häusliche Pflegearrangements zu unterstützen und entsprechende Beratung zu initiieren?
Die Studie „Wunsch und Wirklichkeit der häuslichen Pflege“ des Sozialverbands VdK unterstreicht den Beratungsbedarf und den weit verbreiteten Verzicht auf Entlastungs- und Unterstützungsangebote. Ältere Studien, aus denen das Konzept der SQS hervorgegangen ist, zeigen überdies, wie verbreitet auch in häuslichen Pflegearrangements Gewalthandlungen und freiheitsentziehende Maßnahmen (Sedierung, Fixierung und/oder Einschließung) sind.
- Auftraggeber/Zuschussgeber: AOK-Bundesverband
- Praxisphase unter Beteiligung der AOK Niedersachsen, AOK Bayern und AOK Nordost
- Leitung: Prof. Dr. Thomas Klie (AGP Sozialforschung, Freiburg), Prof. Dr. Andreas Büscher (Hochschule Osnabrück); verantwortliche Mitarbeiterinnen: Dr. Christine Bruker, Stefanie Oyoyo (AGP Sozialforschung, Freiburg)
- Zeitraum: Januar 2019 bis August 2022.
- Ziel: Das Projekt verfolgt das Ziel, die Qualität der pflegerischen Versorgung auf die Person, das Subjekt der Pflege bezogen, zu sichern.
- Beschreibung: Jeder auf Pflege angewiesene Mensch hat Anspruch auf pflegefachliche Begleitung, unabhängig davon, ob er zu Hause, in einer Wohngruppe oder in einer stationären Einrichtung lebt. Insbesondere in der häuslichen Pflege gelingt es bislang nicht, den dort vielfach anzutreffenden prekären Bedingungen in einer wirkungsvollen Weise zu begegnen. Mit dem Ansatz der „Subjektorientierten Qualitätssicherung“ wird ein neuer Weg in die Diskussion gebracht, der den Menschen in seiner körperlichen Integrität, in seinen Menschenrechten, in seinem Anspruch auf gute fachliche Begleitung und Berücksichtigung seiner Präferenzen in den Mittelpunkt rückt. Der Weg könnte geeignet sein, einen Paradigmenwechsel in der Langzeitpflege einzuleiten, was das Thema Qualität anbelangt: Qualität kann man nicht in Haushalte hineinprüfen, Qualität entsteht im Zusammenwirken der an der Pflege und Sorge Beteiligten. Die systematische Erfassung der Lebens- und Pflegesituation im Rahmen der Begutachtungsverfahren bietet eine hervorragende Gelegenheit, das durch den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff erweiterte Bewusstsein für relevante Faktoren für die Begleitung, Beratung, aber auch Supervision von Pflegearrangements sowohl in der Häuslichkeit als auch in Einrichtungen zu nutzen.
Die SQS geht von der Annahme aus, dass die vom Medizinischen Dienst während der Begutachtung zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit erhobenen Wahrnehmungen und Befunde Hinweise auf Risikosituationen und Unterstützungsbedarfe von Pflegearrangements zugänglich machen. Dazu müssen sie systematisch erfasst werden. Durch diese auf dem Begutachtungsverfahren beruhenden Erkenntnisse können, so die Annahme, entsprechende Hilfeangebote initiiert und gegebenenfalls pflegebedürftige Menschen auch vor Gewalt geschützt werden.
Ob der Ansatz trägt und unter welchen Voraussetzungen er sich praktisch umsetzen lässt, haben die Autoren in vier Projektschritten untersucht.
Staat muss Vorleistungen erbringen.
Häusliche Pflegearrangements stehen nur selten im Fokus der öffentlichen pflegepolitischen Betrachtung. Zur Einschätzung der Qualität der häuslichen Versorgung gibt es kaum Anhaltspunkte. Die verpflichtend vorgesehenen Pflegeberatungsbesuche wirken nicht in der gesetzlich intendierten Art und Weise. Davon auszugehen, dass die häusliche Pflege weithin problemlos funktioniere und man auf die Familien und ihre Belastungs- und Qualitätsfähigkeit setzen könne, entspricht nicht der Wirklichkeit.
Die Pflegeversicherung ist wie das gesamte soziale Sicherungssystem dem Prinzip der Subsidiarität verpflichtet. Subsidiarität setzt auf die kleinen Lebenskreise und ihre Selbstorganisationsfähigkeit. In einem modernen Sinne verlangt Subsidiarität Vorleistungspflichten des Staates: Die kleinen Einheiten der gesellschaftlichen Selbstorganisation müssen in die Lage versetzt werden, ihre Aufgaben in einer Weise zu erfüllen, die sie nicht überfordert, die fair ist, die Menschenrechte achten lässt. Die SQS setzt bezogen auf die häusliche Pflege auf eine Einlösung der Vorleistungsverpflichtung des Staates. Sie geht davon aus, dass häusliche Pflegearrangements häufig fragil sind.
Angehörige sind häufig hochbelastet.
Das beruht unter anderem darauf, dass die Pflegeversicherung eine Teilleistungsversicherung ist. Sie verlangt ökonomische Investitionen der Pflegehaushalte selbst. Damit provoziert sie haushaltsökonomische Erwägungen bei der Wahl und Gestaltung des häuslichen Pflegearrangements. Das Pflegegeld ist für manche Haushalte attraktiv, um finanziellen Engpässen zu begegnen. Es wird auch eingesetzt, um osteuropäische Haushaltshilfen (geschätzt bundesweit 850.000) zu finanzieren. Die Zuzahlungsbereitschaft von Pflegehaushalten ist nicht nur in der stationären Pflege begrenzt, sondern auch und gerade in der häuslichen Pflege: Über den Leistungsrahmen der Pflegeversicherung hinaus wird nur ungern und begrenzt eigenes Geld in die Hand genommen.
Angehörige, die als Hauptpflegepersonen agieren, sind häufig hoch belastet und zum Teil auch überfordert. Sorge und Pflege werden als Aufgabe und Bewährungsprobe für die Familie oder Partnerschaft interpretiert, fremde Hilfe wird häufig nicht zugelassen. Bei stärkerer sozialer Isolation von Pflegehaushalten, dem Rückgang sozialer Kontrolle steigt die Wahrscheinlichkeit von häuslicher Gewalt.
Subjektperspektive einnehmen.
Die SQS schafft einen Rahmen, mit dem die Lebenswirklichkeit auf Pflege angewiesener Menschen auf der Basis von Daten aus den Begutachtungen des Medizinischen Dienstes zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit systematisch erfasst und sowohl hinsichtlich der Bedingungen eines guten Lebens und mit dem Ziel der Stabilisierung des Pflegearrangements als auch hinsichtlich bestehender Risiken analysiert werden soll. Statt der versorgenden Institution steht dabei die sich verändernde Situation pflegebedürftiger Menschen im häuslichen und gegebenenfalls später auch im stationären Sektor im Fokus. Sie wird zum Ausgangspunkt weiterer Überlegungen zur Gestaltung von Hilfen und Unterstützungsformen (Subjektperspektive). Im Rahmen der SQS lassen sich Überlegungen anstellen, wie die Erkenntnisse aus der Begutachtung zur Ableitung intervenierender, flankierender und unterstützender Maßnahmen genutzt werden können. Die Notwendigkeit einer fachlichen Begleitung von Pflegehaushalten wird thematisiert – dies auch im Sinne einer veränderten Pflegekultur, einer neuen Kultur der Hilfe, in der Pflege nicht nur als Schicksal und Aufgabe von Familien, sondern auch von sorgenden Gemeinschaften vor Ort betrachtet wird.
Die Unterstützung von häuslichen Pflegearrangements ist unverzichtbar.
Dabei soll der neue Begriff der Pflegebedürftigkeit mit dem hinter ihm stehenden Pflegeverständnis leitend sein. Der alte, bis 2017 geltende Pflegebedürftigkeitsbegriff war defizitorientiert: Er konzentrierte sich auf ein verrichtungsbezogenes Pflegeverständnis und orientierte sich an dem, was die betreffende Person nicht mehr selbst konnte. An die Stelle getreten ist ein an der Selbstständigkeit der auf Pflege angewiesenen Menschen orientiertes Verständnis. Auch das Konzept der SQS setzt nicht allein an Risiken an, sondern ebenso an Kompetenzen und Fähigkeiten des Pflegehaushaltes. Das Ziel ist, auf Pflege angewiesene Menschen und ihre An- und Zugehörigen sowie weitere Helfer in der Verwirklichung ihrer Lebensziele und Teilhabebedürfnisse zu unterstützen.
Beschreibung der Risikofelder.
Um Menschen in häuslichen Pflegearrangements unterstützen zu können, ist zunächst eine Einschätzung des Gesamtarrangements hinsichtlich seiner Gelingens- und Risikofaktoren erforderlich (siehe Grafik „Formular zur Erfassung von Risiken in der häuslichen Pflege“). Auf der Basis einer umfassenden Literaturrecherche wurden folgende Risikofelder identifiziert:
- Gewalt: Auf Pflege angewiesene Menschen sind dem Risiko ausgesetzt, Opfer von Gewalt oder Vernachlässigung zu werden. Zudem laufen sie Gefahr, zur Ruhigstellung eingeschlossen, fixiert oder sediert zu werden (freiheitsentziehende Maßnahmen) oder in Konstellationen ohne oder mit schwachen sozialen Normen, aber auch infolge von Überlastung Opfer von Gewalt zu werden.
- Paternalismus: Ein weiteres Risiko ist das für die Langzeitpflege nicht untypische Bevormundungsphänomen, also die unzureichende Einbeziehung der Person in Entscheidungsprozesse oder ihre fehlende Unterstützung bei der Wahrnehmung ihrer Rechte und Interessen. Eines der wesentlichen Qualitätsmerkmale häuslicher Pflege besteht in der systematischen Einbeziehung der Betroffenen in die Entscheidungsfindung, in der Berücksichtigung ihrer Präferenzen und der Wahrung ihrer Rechte.
- Soziale Isolation: Vielfältig belegt ist das Phänomen der zunehmenden sozialen Isolation von Pflegehaushalten: An- und Zugehörige, Nachbarn und Freundeskreise ziehen sich zurück, brechen den Kontakt ab – aus Unsicherheit, aus Angst vor Verstrickung in pflegerische Verantwortung. Soziale Isolation stellt ein relevantes Risiko für auf Pflege angewiesene Menschen dar.
- Belastung pflegender Angehöriger: Angehörige sind durch die jahrelange Pflege Belastungen und in der Folge eigenen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt. Die Belastung kann aber auch dazu führen, dass den auf Pflege angewiesenen Menschen und ihren Bedürfnissen nicht mehr ausreichend Rechnung getragen werden kann.
- Lebenslagen: Individuelle Handlungsspielräume bilden ein relevantes Risikofeld, wenn sie durch haushaltsökonomische Restriktionen, durch Restriktionen im Zugang zu Informationen und Beratung oder durch die Unerreichbarkeit von Beratungsinstitutionen und fehlende soziale Unterstützung negativ beeinflusst werden.
- Krankheits- und/oder funktionsbezogene Beeinträchtigungen: Schließlich sind es die im Begutachtungsinstrument identifizierten Krankheits- und/oder funktionsbezogenen Beeinträchtigungen in der selbstständigen Lebensführung, die Risiken im Hinblick auf eine teilhabeorientierte Gestaltung des Lebens und eine Kompensation der Beeinträchtigungen implizieren.
- Innerfamiliäre Spannungen: Die häusliche Pflege findet vor dem Hintergrund gewachsener persönlicher, vielfach familiär geprägter Erfahrungen statt, die sich über viele Jahre des gemeinsamen Lebensverlaufs der beteiligten Personen entwickelt haben. Die Diagnose einer chronischen Erkrankung und die Entstehung von Pflegebedürftigkeit führen zu einer Veränderung bisheriger Beziehungen, Rollenmuster und der Organisation des Alltags, die erhebliche Spannungen unter den Beteiligten erzeugen können.
Gutachter bewerten die Situation.
Vor dem Hintergrund einer Einschätzung dieser Risikofaktoren erfolgt eine Bewertung häuslicher Pflegearrangements. Vier Bewertungsstufen haben die Projektbeteiligten entwickelt. Darin haben sie die identifizierten Risiken hinsichtlich des Unterstützungs- und Interventionsbedarfes gewichtet. Akuter Handlungsbedarf besteht bei als „prekär“ bewerteten Lebenssituationen beziehungsweise Pflegearrangements. In diesem Fall sind Schädigungen der auf Pflege angewiesenen Personen bereits eingetreten und bestehen die unmittelbare Gefahr und Wahrscheinlichkeit, dass weitere Schädigungen und Rechtsverletzungen in Form von Gewalt, Missbrauch, Vernachlässigung und ähnlichem folgen. In als „fragil“ bewerteten Arrangements bestehen Risiken und Gefährdungen, die einerseits personen-, umgebungs- oder krankheitsbezogen sein können. Andererseits können sie auch durch erhöhte Belastung der pflegenden Angehörigen entstehen. Hier besteht nicht notwendig ein unmittelbarer Interventionsbedarf, aber ein Bedarf an (präventiver) Unterstützung, um zu verhindern, dass es zu weiteren Gefährdungen und zu Schädigungen kommt. In als „belastet, aber stabil“ bewerteten Arrangements sind keine unmittelbaren Gefährdungen oder gar Schädigungen zu beobachten. Gleichwohl gibt es Hinweise auf Belastungssituationen, denen durch Angebote zur Begleitung, aber vor allen Dingen auch durch Beratung begegnet werden sollte.
Im Projekt „Subjektorientierte Qualitätssicherung“ erproben Mitarbeiter des Medizinischen Dienstes eine Matrix, mit der sie im Rahmen ihrer Begutachtungen Risikobereiche in der häuslichen Pflege in den Blick nehmen. Zu den darin enthaltenen Risikobereichen gehört beispielsweise die soziale Isolation, deren Grad die Gutachter in vier Stufen bewerten.
Quelle: Büscher/Klie 2022
Ein Großteil der Pflegehaushalte kommt mit der Situation trotz begrenzter Hilfen vergleichsweise gut zurecht. Diese Arrangements werden in der SQS als „stabil und gelingend“ bewertet. Die psychische Widerstandskraft von pflegenden Angehörigen ist beachtlich. Aber auch hier heißt Subsidiarität nicht, stillschweigend hinzunehmen, dass alles läuft, sondern diese Leistung zu würdigen. Die Stabilisierung gelingender Lebenssituationen durch Würdigung, weitere Unterstützung, Hinweise auf Möglichkeiten, begonnene Wege weitergehen zu können oder Präventions- und Rehabilitationsangebote, ist Ausdruck einer mitsorgenden Haltung des gesamten Pflegesystems.
Projekt erprobt das Instrument.
Das SQS-Projekt untersucht nun, ob die Medizinischen Dienste bei der Begutachtung der Versicherten die benannten Risiken ermitteln und bewerten können. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie sich auf dieser Basis belastbare Handlungsketten und Kooperationsformen entwickeln lassen, um Menschen in häuslichen Pflegearrangements rechtzeitig und angemessen zu unterstützen.
Das Konzept der SQS soll in Bayern, Brandenburg und Niedersachsen in je einer städtischen und einer ländlich geprägten Region erprobt werden. In regionalen Workshops haben die Beteiligten die Versorgungsinfrastrukturen analysiert und über die bestehenden Kooperationen diskutiert. Die Workshops machten deutlich, wie unterschiedlich nicht nur zwischen den Kassen, sondern auch auf regionaler Ebene die Zusammenarbeit und die Aufgabenverteilung im Zusammenhang mit Pflegeberatung gestaltet wird. Große Bedeutung haben dabei informelle Kooperationskulturen und -routinen. Sichtbar wurde überall, dass der SQS-Ansatz einen hoch relevanten Beitrag zu einer verbesserten Kooperation der Akteure vor Ort leisten kann.
Praxistauglichkeit im Fokus.
Gutachterinnen und Gutachter der Medizinischen Dienste aus den sechs Regionen haben die Risiko-Matrix in Workshops auf ihre Praxistauglichkeit geprüft und weiterentwickelt. Überdies haben sie unter Nutzung der Matrix jeweils zehn Gutachten erstellt, um den zeitlichen Aufwand und die Praktikabilität des Ansatzes zu ermitteln. Die Auswertung zeigt, dass die Gutachter die Beschaffenheit häuslicher Pflegearrangements anhand der Matrix gut erfassen konnten und sich der dafür erforderliche Zeitaufwand in einem vertretbaren Rahmen bewegte. In der aktuell anstehenden Projektphase sollen in den Regionen über einen Zeitraum von 24 Monaten jeweils zwei Gutachter bei allen Begutachtungen im häuslichen Bereich die Risiken unter Zuhilfenahme der SQS-Matrix einschätzen. Die Ergebnisse sollen dazu dienen, in den regionalen und lokalen Zusammenhängen unter Beachtung des Datenschutzes Beratungsangebote zu unterbreiten, Hilfe auszulösen, die gesetzlich vorgesehene Pflegeberatung zu veranlassen und im Einzelfall auch Maßnahmen des Erwachsenenschutzes einzuleiten.
Kommunale Zusammenhänge aufgreifen.
Die häusliche Pflege und die ambulante Versorgung sind das Rückgrat der gesundheitlichen Versorgung in Deutschland. Das gilt auch und gerade für die Langzeitpflege. Der Personalmangel in der Pflege führt heute schon regional zu erheblichen Versorgungslücken. Die Zunahme von Ein-Personen-Haushalten in der Pflege erhöht den Unterstützungsbedarf auch und gerade zu Hause. Die Eigenkapazitäten sind weithin erschöpft. Der Fachkräftemangel führt dazu, dass Heimplätze nicht genutzt werden können. Die Unterstützung von häuslichen Pflegearrangements, die stärkere Ausrichtung von Beratungsangeboten auf die Region, auf die Gemeinden und Städte sind unverzichtbar. Das Konzept der SQS kann die stärkere Orientierung an häuslichen Pflegearrangements flankieren und fördern. Die SQS greift den auf die jeweiligen kommunalen Zusammenhänge ausgerichteten pflegepolitischen Ansatz auf und verstärkt ihn.
Neue Rollen für den Medizinischen Dienst.
Eine Reform im Jahr 2021 hat die Rollen und Aufgaben des Medizinischen Dienstes neu bestimmt. Die SQS setzt auf einen stärker beratungsorientierten Ansatz des Medizinischen Dienstes, der im Gesetz angelegt ist. Das Sozialgesetzbuch XI sieht vor, dass die Gutachter Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten in den Bereichen außerhäusliche Aktivitäten und Haushaltsführung erfassen und Empfehlungen formulieren, auch wenn diese Bereiche keinen Einfluss auf den Pflegegrad haben. Sie gehören aber zu den Bedingungen eines guten Lebens.
- Elmar Gräßel, Elisa-Marie Behrndt: Belastungen und Entlastungsangebote für pflegende Angehörige. In: Klaus Jacobs, Adelheid Kuhlmey, Stefan Greß, Jürgen Klauber und Antje Schwinger (Hg.): Pflege-Report 2016. Schwerpunkt: Die Pflegenden im Fokus. 1. Auflage, Stuttgart: Schattauer, Seite 169–188
- Thomas Klie, Michael Ranft, Nadine-Michèle Szepan: Strukturreform Pflege und Teilhabe II. Pflegepolitik als Gesellschaftspolitik. Ein Beitrag zum pflegepolitischen Reformdiskurs. Hrsg.: Kuratorium Deutsche Altershilfe, Berlin, 2021
- AOK-Bundesverband: Dossier Pflege
Zudem ist im Gesetz festgelegt, dass der Medizinische Dienst zu der Frage Stellung nimmt, ob und gegebenenfalls welche Maßnahmen der Prävention und der medizinischen Rehabilitation geeignet, notwendig und zumutbar sind, um entweder Pflegebedürftigkeit zu vermeiden oder einen Beitrag zu einer selbstständigen, am Ziel der Selbstbestimmung orientierten Gestaltung der Lebensbedingungen von Pflegebedürftigen zu fördern. Indirekt werden in diesen Aufgaben die im SQS-Ansatz angelegten Risikofelder reflektiert und gerade mit Blick auf stabile Pflegearrangements dem Medizinischen Dienst und den Pflegekassen eine aktive unterstützende Rolle zugeordnet.
Kooperationen unterstützen.
Dieses umfassende Aufgabenkonzept des Medizinischen Dienstes wird in der Praxis allerdings nicht umgesetzt. Dies hat nicht zuletzt mit der Datenverarbeitung zu tun. Zudem sind die Pflegekassen mit einer großen Zahl von Gutachten konfrontiert, die ihnen eine systematische Auswertung kaum ermöglicht. Ein Screening, wie in der SQS vorgesehen, könnte eine solche Auswertung erleichtern. Das SQS-Projekt zeigt: Die Pflegekassen nutzen das Potenzial pflegefachlicher Begutachtung durch den Medizinischen Dienst für die Qualifizierung der häuslichen Pflegearrangements und die Identifizierung von Risiken bisher nicht systematisch, um den Vorrang der häuslichen Pflege zu unterstützen. Das Konzept der Pflegebedürftigkeit gemäß Paragraf 14 SGB XI ermöglicht weit mehr als die Ausweisung eines Pflegegrades. SQS kann dazu dienen, die Rolle des Medizinischen Dienstes zu stärken und die Pflegekassen mit ihren regionalen und örtlichen Partnern in die Lage zu versetzen, Pflegehaushalte angemessen zu begleiten. SQS eignet sich insofern, eine effiziente Kooperation zwischen Medizinischem Dienst und Pflegekassen zu unterstützen.
An bestehende Netzwerke anknüpfen.
Schließlich kann und soll SQS dazu dienen, auf regionaler und örtlicher Ebene einen Beitrag zu einer besseren Kooperation zu leisten und Infrastrukturdefizite zu erkennen, die eine adäquate häusliche Versorgung gefährden. In den Workshops hat sich gezeigt, welches Bewusstsein für Risikosituationen besteht, wenn quartiers- und dorfbezogene Sorgekonzepte, Ansätze zugehender Beratung und eine gute Vernetzung mit Hausärzten, der örtlichen sozialen Arbeit, ehrenamtlichen Diensten und dem Betreuungswesen etabliert wurden. Solche Netzwerke können ihrerseits vom Ansatz der SQS profitieren. Die systematische Ermittlung von Risikosituationen in Pflegehaushalten macht die Netzwerke sichtbar und löst sie aus.
Die Pflegekassen ihrerseits können über den SQS-Ansatz erkennen, wo ihre Chancen, aber auch ihre Grenzen der haushaltsbezogenen Unterstützung und Beratung liegen. Zu den Regionen, in denen SQS erprobt werden soll, gehören in Niedersachsen die Grafschaft Bentheim und das Emsland: Hier liegen kassenübergreifende Erfahrungen mit einem regionalen Case-Management und einem Pflegekompetenzzentrum vor. Diese scheinen sich gut mit dem Ansatz von SQS beziehungsweise der Verarbeitung der aus dem SQS resultierenden Unterstützungsstrukturen und -formen verbinden zu lassen.
Literatur bei den Verfassern