Mut zur Vielfalt im Pflegealltag
Für die Pflege kann es keine standardisierten Lösungen geben, so der Tenor einer Veranstaltung der AOK Baden-Württemberg. Orientierungspunkt müsse der Mensch selbst mit seinen individuellen Bedürfnissen sein. Von Ines Körver
Einsamkeit und fehlende Netzwerke
können dazu führen, dass hochaltrige Menschen verwahrlosen – dabei müssen sie noch nicht einmal pflegebedürftig sein. „Es ist daher eine Aufgabe der Gesellschaft, Netzwerke zu etablieren, die Hochbetagten das Gefühl geben, gebraucht zu werden und sich selbst immer wieder zu aktualisieren“, erklärte Professor Dr. Frank Schulz-Nieswandt auf der Veranstaltung AOK im Dialog Ende November.
Die AOK Baden-Württemberg hatte eingeladen, um sich über das Thema „Lebensphase Pflege – Angebote, Ansprüche und Ausblick“ auszutauschen. Der Kölner Sozialwissenschaftler warnte davor, standardisierte Angebote zu machen: „Nicht jeder Rentner will am Stadtrand leben und Eichhörnchen zählen. Viele wollen mitten in der Gesellschaft aktiv am Leben teilhaben. Dem müssen wir Rechnung tragen.“
Rahmenvertrag geschlossen.
„Viele Menschen denken über Alter und Pflege erst nach, wenn es soweit ist. Dabei gibt es schon hervorragende Unterstützungsangebote“, so Dr. Christopher Hermann, Vorstandsvorsitzender der AOK Baden-Württemberg. Er verwies auf einen kürzlich geschlossenen Rahmenvertrag zwischen Kommunen, Kranken- und Pflegekassen über Pflegestützpunkte – der bundesweit erste und bisher einzige dieser Art. In Baden-Württemberg betonen die Vertragspartner, dass die Versorgung nur gemeinsam gelingen kann und vor Ort massiv unterstützt werden muss.
Um das Bewusstsein für altersbedingte Veränderungen zu schärfen, nimmt die Stadt Schwäbisch-Gmünd Kontakt zu älteren Mitbürgern auf – ähnlich wie bei den Präventiven Hausbesuchen, einem erfolgreich abgeschlossenen gemeinsamen Projekt des Landessozialministeriums und der Pflegekassen in Baden-Württemberg.
Der Leiter des Sozialamtes Schwäbisch-Gmünd, Dieter Lehmann, sagte: „Wir kommen zum 65., 75. und 85. Geburtstag vorbei zum Gratulieren, zeigen uns dabei als Ansprechpartner und machen auf Angebote aufmerksam.“ Er sieht seine Aufgabe insbesondere in der Vernetzung von Akteuren, die sonst kaum zusammenfinden.
Weiche Faktoren wichtig.
Wie gut Pflege und Versorgung älterer Menschen funktionieren, hängt laut Schulz-Nieswandt von vielen Faktoren ab: manchmal von „charismatischen Wanderpredigern“, die andere mit ihrem Enthusiasmus anstecken, aber auch von finanziellen und personellen Ressourcen sowie der Weltoffenheit der Akteure – „die weichen Faktoren sind die wichtigen“.
Der Sozialwissenschaftler stellte zudem die Finanzierung der Pflegeversicherung zur Diskussion. Diese werde oft als Teilkaskoversicherung bezeichnet. Teilkasko bedeute aber: Bis zu einem bestimmten Betrag zahlt der Versicherte, darüber hinaus übernehme die Versicherung die Kosten.
Bei der Pflegeversicherung sei es genau umgekehrt: Der Versicherte müsse alles über einen bestimmten Betrag aus der Versicherung hinaus selbst finanzieren. Das treibe viele in die Sozialhilfe und müsse korrigiert werden, auch wenn es die Gesellschaft etwas koste.
Die Vorstandsvorsitzende von „Der Paritätische“ Baden-Württemberg, Ursel Wolfgramm, betonte: „Es gibt viele Landkreise, da läuft es nicht so gut wie in Schwäbisch-Gmünd. Wir müssen flächendeckend gute Angebote haben.“ Dabei sieht sie eine Reihe von Schwierigkeiten. Es gebe beispielsweise mehr Anfragen nach Pflege, als die Anbieter bedienen könnten. Es fehle an Fachkräften, sodass Pflegedienste und Pflegeheime gezwungen wären, jeden einzustellen – ob er nun ins Team passe oder nicht.
Angebots-Vielfalt wünscht sich AOK-Chef Hermann auch für das Wohnen im Alter: „Wir müssen Schluss machen mit der Einordnung in Häuslichkeit und Heim. Die Menschen sind vielfältig, also sollten es die Wohnformen auch sein dürfen. Wir denken noch zu sehr in Kategorien wie Krankenkasse, Pflegekasse und Kommune. Im Mittelpunkt muss der Mensch stehen. Die Institutionen müssen auf seine Bedürfnisse eingehen.“