Noch kein Feierabend: Ärztinnen und Ärzte stellen insgesamt fast sieben Millionen Arbeitsstunden pro Woche für die ambulante Versorgung zur Verfügung.
Arzttermine

Zeit genug für alle Patienten?

Offene Sprechstunden, schnellere Terminvermittlung – der Gesetzgeber will den Zugang zur ambulanten Versorgung verbessern. Ob die Kapazitäten der Ärztinnen und Ärzte dafür ausreichen, berechnet Dirk Bürger.

Der Hausarzt, der von früh bis spät

für seine Patientinnen und Patienten da ist, stirbt langsam aus. Heute legen auch Ärztinnen und Ärzte Wert auf eine ausgewogene Work-Life-Balance. Aber arbeiten sie derzeit weniger als ihre Kollegen in früheren Jahren? Und reicht deshalb die Kapazität für die ambulante Versorgung in Deutschland nicht mehr aus?

Zunächst bleibt festzuhalten, dass sich die Zahl der Ärztinnen und Ärzte auch im Jahr 2017 positiv entwickelt hat. Laut Bundesärztekammer waren insgesamt 385.149 Ärztinnen und Ärzte berufstätig, ein Plus von 6.542 gegenüber dem Vorjahr (siehe Grafik). Im stationären Bereich waren 198.500, im ambulanten Bereich 154.369 Mediziner beschäftigt. Zum Vergleich: Im Jahr 1990 arbeiteten 118.087 Ärztinnen und Ärzte in einer Klinik (80.000 weniger als 2017), 92.289 praktizierten ambulant (62.000 weniger als 2017).

Seit 1990 hat sich die Arztdichte weiter verbessert: Stand rein rechnerisch im Jahr 1990 noch ein Arzt für 335 Einwohner zur Verfügung, ist dieses Zahlenverhältnis bis zum Jahr 2017 auf 214 Einwohner je Arzt gesunken. Auch im Bereich der vertragsärztlichen Versorgung („Kassenärzte“) hat sich das Arzt-Einwohner-Verhältnis positiv entwickelt. Gab es 1990 für jeweils 864 Einwohner jeweils nur einen Vertragsarzt beziehungsweise eine Vertragsärztin, ist dieses Zahlenverhältnis bis zum Jahr 2017 auf 534 Einwohner je Arzt gesunken.

Praxisinhaber arbeiten rund 50 Stunden.

Dennoch warnte der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Professor Dr. Frank Ulrich Montgomery, bei der Vorstellung der Ärztestatistik 2017: „Die Zahl der Ärztinnen und Ärzte in Deutschland steigt, aber wer nur Köpfe zählt, macht es sich zu einfach. Die Realität ist komplexer. Uns fehlen Arztstunden. Und wenn wir nicht endlich entschieden gegensteuern und mehr Ärzte ausbilden, dann wird sich dieser Mangel verschärfen.“

Es sei nicht zielführend, dass die Krankenkassen immer wieder auf den Zuwachs an Medizinern verweisen, so Montgomery. Vielmehr müsse man im Blick haben, wie sich das Arbeitszeitvolumen in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat.

Grafik: Zahl der in Deutschland ambulant tätigen Ärztinnen und Ärzte stetig gestiegen

Seit 1990 ist die Ärztezahl im ambulanten Bereich stetig gestiegen. Im Jahr 2017 arbeiteten bundesweit insgesamt 154.369 Ärztinnen und Ärzte in einer Niederlassung. Auch die Arztdichte hat in diesem Zeitraum zugenommen: Kamen 1990 auf einen ambulant tätigen Mediziner 335 Einwohner, waren es 2017 nur noch 214.

Quelle: Bundesärztekammer

Mit dieser Frage beschäftigt sich das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi). In seinem im vergangenen Jahr veröffentlichten „Zi-Praxis-Panel“ (ZiPP) hat das Institut die Arbeitszeit der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte ermittelt.

Laut ZiPP kommt ein niedergelassener Praxisinhaber durchschnittlich auf eine 50-Stunden-Woche. Darüber hinaus haben die Forscher herausgefunden, dass angestellte Ärzte vor allem Teilzeitmodelle bevorzugen und mit rund 24 Wochenstunden im Schnitt nur halb so viel arbeiten wie die selbstständigen Praxisinhaber.

Arbeitszeitvolumen ist gestiegen.

Obwohl niedergelassene Ärztinnen und Ärzte mit 50 Stunden pro Woche im Vergleich zu allen Erwerbstätigen in Deutschland überdurchschnittlich viel arbeiten, sah sich der Gesetzgeber sogar veranlasst, Terminservicestellen einzurichten, damit gesetzlich Versicherte bei Bedarf zeitnah in die Sprechstunde eines Facharztes gelangen. Einiges scheint demnach darauf hinzudeuten, dass der BÄK-Präsident mit seiner Analyse Recht hat. Dennoch lohnt es sich, noch einmal genau nachzurechnen.

Im Jahr 1990 haben rund 92.300 Mediziner die ambulante Versorgung gewährleistet. Wenn von ihnen niemand mit einem reduzierten Versorgungsauftrag tätig gewesen wäre und alle durchschnittlich 60 Stunden pro Woche praktiziert hätten, wären die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte damals auf insgesamt rund 5,5 Millionen Stunden wöchentlich gekommen.

Im Jahr 2017 waren rund 154.400 niedergelassene Ärzte tätig. Wenn 115.800 von ihnen durchschnittlich 51 Stunden pro Woche tätig waren, haben sie 5,9 Millionen Stunden zur medizinischen Versorgung beigesteuert. Wenn man für die verbleibenden 38.600 durchschnittlich 24 Wochenstunden Praxistätigkeit veranschlagt, kommen weitere 0,9 Millionen Wochenstunden hinzu. Insgesamt haben niedergelassene Ärztinnen und Ärzte im Jahr 2017 somit 6,8 Millionen Stunden wöchentlich für die medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt.

Mehr Versorgungszeit als jemals zuvor.

Im Jahr 1990 lebten in Deutschland rund 79,8 Millionen Einwohner. Bis 2016 stieg die Zahl der Einwohner auf rund 82,5 Millionen. Setzt man nun die 1990 vorhandene ärztliche Arbeitszeit (sie belief sich auf rund 5,5 Millionen Stunden wöchentlich) ins Verhältnis zur Einwohnerzahl, standen pro Kopf durchschnittlich rund vier Minuten pro Woche für die medizinische Versorgung zur Verfügung. Im Jahr 2016 lebten rund 82,5 Millionen Einwohner in Deutschland, für deren medizinische Versorgung die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte rund 6,8 Millionen Stunden pro Woche angeboten haben – das ergibt pro Kopf fast fünf Minuten, also etwa eine Minute mehr als 1990.

Gesetzlich versicherte Patienten haben Schwierigkeiten, zeitnah einen Arzttermin zu erhalten.

Während die Einwohnerzahl in diesem Zeitraum nur um knapp 3,4 Prozent angestiegen ist, hat sich die zur Verfügung stehende ärztliche Versorgungszeit also um fast 25 Prozent erhöht. Selbst unter der Annahme, dass im Jahr 2017 die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte eine geringere wöchentliche Arbeitszeit leisten als diejenigen, die im Jahr 1990 tätig waren, bieten die ambulant arbeitenden Mediziner heute mindestens 1,3 Millionen Stunden pro Woche mehr Versorgungszeit an als zum damaligen Zeitpunkt. Damit ist die These von BÄK-Präsident Montgomery widerlegt, wonach mehr Mediziner nicht zu einem Mehr an Versorgungszeit führen.

Klärungsbedarf wegen der Wartezeiten.

Es bleibt zu klären, warum trotz mehr ärztlicher Arbeitszeit gesetzlich krankenversicherte Patientinnen und Patienten erhebliche Schwierigkeiten haben, zeitnah einen Behandlungstermin zu erhalten.

Es ist aber auch zu klären, wie viele Stunden ihres sicherlich hohen Arbeitszeiteinsatzes niedergelassene Ärztinnen und Ärzte aufwenden, um gesetzlich versicherte Patienten zu versorgen. Erfüllen alle von ihnen die Vereinbarungen des Erweiterten Bewertungsausschusses von Ärzten und Krankenkassen (EBA) für die vertragsärztliche Tätigkeit?

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung stellte im Jahr 2011 klar, dass der EBA „(…) seinerzeit das Zeitbudget für die vertragsärztliche Tätigkeit mit 51 Wochenstunden kalkuliert hat. Davon umfassen 44,6 Stunden patientenunmittelbare Tätigkeiten. Dies sind nicht die Sprechstundenzeiten im engeren Sinne, sondern die abrechnungsfähigen Zeiten – zum Beispiel Befundungen oder andere Zeiten – die zwar für den Versicherten zu erledigen sind, aber ohne dessen Anwesenheit durchgeführt werden können. Die restlichen 6,4 Stunden stehen für die Praxisorganisation (Einweisung des Personals, Besprechung von Praxisabläufen etc.) zur Verfügung“.

Die Klärung der genannten Fragen ist dringlich, denn die Große Koalition will mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz niedergelassene Vertragsärzte verpflichten, mehr Sprechstunden anzubieten. Statt bisher 20 Stunden pro Woche sollen sie künftig mindestens 25 Stunden pro Woche für Kassenpatienten freihalten.

Arztgruppen der unmittelbaren und wohnortnahen Versorgung wie Haus- und Kinderärzte, konservativ tätige Augenärzte, Frauenärzte, Orthopäden und Hals-Nasen-Ohren-Ärzte müssen mindestens fünf Stunden als offene Sprechstunde anbieten. Ob die Kapazitäten dafür reichen, wird sich zeigen.

Dirk Bürger ist Referent für Gesundheitspolitik beim AOK-Bundesverband.
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