Hausaufgaben für bessere Gesundheit
Der neue EU-Gesundheitsbericht belegt: Deutschland gibt pro Kopf mehr für Gesundheit aus als alle anderen Mitgliedstaaten. Das Ergebnis aber ist durchschnittlich. Zugleich bemängelt der Bericht ineffiziente Strukturen. Aber es gibt Lichtblicke. Von Thomas Rottschäfer
Der erstmals 2016 eingeführte
Gesundheitsbericht „State of Health in the EU“ ist ein Vermächtnis des im Dezember ausgeschiedenen EU-Gesundheitskommissars Vytenis Andriukaitis. Der Kardiologe aus Litauen hat den zweijährigen Berichtszyklus eingeführt, um Mitgliedstaaten, Gesundheitsbehörden und Wissenschaft vergleichbare Daten für das Lernen voneinander und politische Lösungen für eine bessere Gesundheitsversorgung an die Hand zu geben. Nach der Premiere Ende 2017 liegt jetzt die zweite Ausgabe vor.
Bei der Lektüre des Länderberichts 2019 für Deutschland stellt sich schnell ein Déjà-vu-Erlebnis ein: „Deutschland gibt pro Person mehr für Gesundheit aus als andere EU-Länder und bietet einen umfassenden Leistungskatalog, ein hohes Niveau an Gesundheitsleistungen und einen guten Zugang zur Gesundheitsversorgung.“ Das System sei jedoch aufgrund zahlreicher Kostenträger und Leistungserbringer stark fragmentiert.
Im Vergleich hat Deutschland die meisten Klinikbetten, Ärzte und Pflegekräfte.
Dies führe zu Ineffizienzen und einer verminderten Qualität der Versorgung in bestimmten Versorgungseinrichtungen und spiegele sich oft in durchschnittlichen Gesundheitsergebnissen wider. Im Jahr 2017 wurde in Deutschland im EU-Vergleich am meisten für die Gesundheitsversorgung ausgegeben: 4.300 Euro pro Kopf. Das entsprach 11,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und lag rund 1.400 Euro über dem EU-Durchschnitt von 2.884 Euro. Die Bundesrepublik gehört außerdem zu den Ländern der Staatengemeinschaft mit den meisten Krankenhausbetten, Ärzten und Krankenpflegekräften pro Einwohner.
Krankenhausreform angesagt.
Der Vorstandschef des AOK-Bundesverband, Martin Litsch, spitzt diese Zustandsbeschreibung so zu: „Wir geben sehr viel Geld aus, aber wir geben es nicht immer richtig aus.“ Der EU-Gesundheitsbericht bestätigt aus seiner Sicht die Forderung der AOK nach einer grundlegenden Krankenhausreform. Litsch: „Zum Glück sind mittlerweile auch die Kliniken und die Deutsche Krankenhausgesellschaft bereit, über Strukturfragen zu sprechen. Und auch die geplante Reform der Notfallversorgung mit einer besseren Zusammenarbeit zwischen Rettungsdiensten, niedergelassenen Ärzten und Kliniken geht in die richtige Richtung.“
Lebenserwartung steigt langsamer.
Mangelnde Effizienz schlägt sich auch in den Zahlen zur Lebenserwartung nieder. Menschen, die 2017 in Deutschland geboren sind, werden laut Gesundheitsbericht voraussichtlich mit im Schnitt 81,1 Jahren fast drei Jahre länger leben als diejenigen, die im Jahr 2000 geboren wurden. Damit liegt die Lebenserwartung in Deutschland zwar leicht über dem EU-Durchschnitt (80,9 Jahre), steigt aber im Vergleich langsamer und liegt unter dem Wert westeuropäischer Länder wie Italien, Spanien oder Frankreich. In Deutschland ist dagegen der Unterschied zwischen Männern und Frauen geringer ausgeprägt. Frauen leben hierzulande im Schnitt 4,5 Jahre länger als Männer (83,4 gegenüber 78,7 Jahre). Im EU-Durchschnitt leben Frauen 5,2 Jahre länger.
Die 2016 begonnene EU-Gesundheitsberichterstattung besteht aus mehreren Elementen. Gemeinsam mit der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) verfasst die EU-Kommission den Bericht „Gesundheit auf einen Blick“ (Health at a Glance: Europe). Darin analysiert die OECD die gesundheitliche Situation der Menschen und die Leistungsfähigkeit der Gesundheitssysteme in den 28 EU-Mitgliedstaaten, in den fünf EU-Kandidatenländern sowie Norwegen, Island und der Schweiz. Hinzu kommen länderspezifische Gesundheitsprofile mit einer Bewertung der Stärken und Schwächen der einzelnen Gesundheitssysteme und einer Darstellung der wichtigsten Reformtrends. Ein Begleitbericht zu den Länderprofilen stellt Trends bei der Reform der Gesundheitssysteme vor.
„Der Anstieg der Lebenserwartung resultiert in erster Linie aus dem Rückgang der vorzeitigen Todesfälle durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen, insbesondere durch ischämische Herzerkrankungen und Schlaganfälle“, heißt es in dem EU-Bericht. Trotzdem machen Herz-Kreislauf-Erkrankungen immer noch 37 Prozent aller Todesfälle in Deutschland aus. Dabei ist die ischämische oder koronare Herzerkrankung (KHK) mit mehr als zehn Prozent die häufigste Todesursache.
Bei den Todesfällen durch Krebs sind Lungenkarzinome in Deutschland weiterhin die häufigste Ursache (20 Prozent), vor Darm- und Brustkrebs. Die Sterblichkeitsraten für Diabetes, Brustkrebs, Lungenentzündung und Darmkrebs sind zwischen 2000 und 2016 zum Teil deutlich gesunken. „Das ist sicher auch ein Ergebnis der von der AOK maßgeblich mitentwickelten Disease-Management-Programme für chronisch kranke Menschen“, betont AOK-Chef Litsch.
Auch der Gesundheitsbericht 2019 beleuchtet die Zahl vermeidbarer Todesfälle. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass im Analysejahr 2015 in der EU insgesamt mehr als 1,2 Millionen Todesfälle „durch bessere Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit oder durch eine wirksamere und schnellere Gesundheitsversorgung“ vermeidbar gewesen wären. Für Deutschland kommt der Bericht in diesem Zusammenhang zu einer Zahl von 158 vermeidbaren Todesfällen pro 100.000 Einwohnern. Dies entspricht dem EU-Durchschnitt (Datenjahr 2016).
Für mehr Prävention plädiert.
Die Berichterstatter mahnen deshalb für die EU, aber auch speziell für Deutschland, noch mehr Anstrengungen im Bereich der Prävention an. Sorgen bereitet ihnen die anhaltend ungesunde Lebensweise der Europäer: „Im Jahr 2016 sind in der EU schätzungsweise 790.000 Menschen vorzeitig an den Folgen des Rauchens, des Alkoholkonsums und einer ungesunden Ernährungsweise oder Bewegungsmangel gestorben.“ EU-weit seien vier von zehn Todesfällen auf verhaltensbedingte Risikofaktoren zurückzuführen. In Deutschland lasse sich fast jeder fünfte Todesfall auch auf schlechte Ernährung zurückführen.
Rauchen und Alkoholkonsum – verhaltensbedingte Risikofaktoren tragen wesentlich zu Erkrankungen und Sterblichkeit in Deutschland bei. So ist beispielsweise der Anteil der Erwachsenen, die sechs oder mehr alkoholische Getränke bei einem einzigen Anlass trinken (Rauschtrinken) mit 33 Prozent deutlich höher als im Rest der EU (20 Prozent).
Quelle: EU-Gesundheitsbericht 2019
Eine nationale Befragung für den EU-Gesundheitsbericht ergab, dass 2017 etwa jeder sechste Erwachsene in Deutschland fettleibig war (Adipositas). In der Gruppe der 15-Jährigen war jeder Fünfte übergewichtig oder fettleibig. „Insgesamt sind die Fettleibigkeitsraten bei Erwachsenen und Jugendlichen höher als in vielen anderen EU-Ländern und in den letzten zehn Jahren gestiegen, auch wenn nationale Daten darauf hindeuten, dass sich die Rate bei Kindern etwas stabilisiert hat“, heißt es im Länderbericht.
Mit Blick auf die demografische Entwicklung zeichnet der Gesundheitsbericht für Deutschland ein durchaus optimistisches Bild. Aktuell ist etwa jeder fünfte Deutsche über 65 Jahre alt. Wer es bis 65 geschafft hat, kann sich hierzulande im Schnitt auf 20 weitere Lebensjahre freuen, die meisten davon bei altersentsprechend guter Gesundheit. Acht Jahre lang müssen Seniorinnen und Senioren EU-statistisch gesehen mit mehr oder weniger schweren körperlichen Einschränkungen leben. Derzeit haben laut Gesundheitsbericht rund 58 Prozent aller Deutschen über 65 Jahre mindestens eine chronische Erkrankung. Das liegt leicht über dem europäischen Durchschnitt. Rund 25 Prozent leiden an einer Form von Depression. Das sind weniger als im EU-Vergleich (29 Prozent). Starke Behinderungen, die zu deutlichen Alltagseinschränkungen führen, betreffen in Deutschland hauptsächlich Menschen, die über 80 Jahre alt sind.
Etwa jeder sechste Erwachsene hierzulande leidet unter starkem Übergewicht.
Für ein Altern bei besserer Gesundheit bieten aus Sicht des Statusberichts auch die neuen digitalen Technologien große Chancen. Die Berichterstatter machen sich jedoch Sorgen, dass nicht alle Menschen gleichermaßen von der Digitalisierung im Gesundheitswesen profitieren werden: „Der Einsatz von elektronischen Krankenakten und e-Rezepten nimmt in allen EU-Mitgliedsländern zu, und immer mehr EU-Bürgerinnen und -Bürger nutzen das Internet, um gesundheitsbezogene Informationen abzurufen und Zugang zu Gesundheitsleistungen zu erhalten. Das Ausmaß, in dem dies geschieht, unterscheidet sich jedoch nach Alters- und sozioökonomischer Gruppe.“
Gesundheitskompetenz fördern.
Hier sieht auch AOK-Vorstandschef Martin Litsch einen Zusammenhang: „Jede und jeder Zweite in Deutschland hat eine eingeschränkte Gesundheitskompetenz: Es fällt diesen Menschen schwer, gesundheitsrelevante Informationen zu verstehen und angemessen damit umzugehen. Wir setzen uns deshalb an vielen Stellen dafür ein, dies zu ändern, unter anderem als Partner beim Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz.“