Behandlungsfehler kommen öfter vor
Medizinische Fehler passieren ständig. Im vergangenen Jahr hat der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) mehr Fachgutachten dazu erstellt und häufiger Fehler entdeckt, die bei Patienten zu teils schweren Schäden geführt haben. Von Thorsten Severin
Im Jahr 2019 haben die Gutachter
des MDK im Auftrag der Krankenkassen 14.553 medizinische Sachverständigengutachten zu möglichen Behandlungsfehlern verfasst. Das waren drei Prozent mehr als im Jahr davor. In jedem vierten Fall (3.688) wiesen die Experten einen Fehler mit Schadensfolge nach. Die Zahl dieser Fehler stieg damit binnen eines Jahres um fast sechs Prozent. In jedem fünften Fall (2.953) bestätigte der MDK, dass der Fehler tatsächlich die Ursache für den Schaden war. Diese Kausalität ist wichtig für die Betroffenen, denn nur so bestehen Chancen auf Schadenersatz.
Meiste Vorwürfe betreffen Orthopädie.
Laut Dr. Stefan Gronemeyer, Leitender Arzt und stellvertretender Geschäftsführer des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS), verteilen sich die Vorwürfe zu etwa einem Drittel auf den Bereich der ambulanten Versorgung und zu zwei Dritteln auf Krankenhäuser. Wie in den Vorjahren wurden die meisten Vorwürfe zu Behandlungsfehlern in der Orthopädie und Unfallchirurgie erhoben.
Zu Beginn der Pandemie zeigten sich zahlreiche Probleme bei Versorgung und Hygiene.
Allerdings ließen sich daraus keine Rückschlüsse auf die Sicherheit in den jeweiligen Bereichen ziehen, sagte Gronemeyer. Es sei vielmehr so, dass Patienten in diesen Fächern mögliche Fehler besser selbst erkennen könnten. Aus wissenschaftlichen Studien sei zudem bekannt, dass die tatsächliche Anzahl vermeidbarer Schäden durch Behandlungsfehler wesentlich höher liege als es die MDK-Begutachtungen vermuten ließen: „Wir sehen nur die Spitze des Eisbergs.“
Viele „Never Events“.
Besonderen Anlass zur Sorge gebe die weiterhin hohe Häufigkeit sogenannter „Never Events“ – Ereignisse, die unter keinen Umständen vorkommen dürften. 128 von ihnen tauchen in der Statistik auf. In 53 Fällen bildete sich bei Patienten im Krankenhaus ein hochgradiges Druckgeschwür (Dekubitus). In 22 Fällen wurden bei einer Operation Gegenstände im Körper zurückgelassen. 16 Mal wurde das falsche Körperteil operiert. Diese „Never Events“ führten nicht selten zu gravierenden Schäden und wären durch entsprechende Sicherheitsmaßnahmen zu vermeiden, erläuterte Gronemeyer.
Covid-19-Auswirkungen unklar.
Schwer zu sagen ist dem MDS-Experten zufolge, ob sich die Corona-Pandemie für das laufende Jahr in der Statistik in Form von mehr medizinischen Behandlungsfehlern niederschlagen wird. Klar sei: „Insbesondere zu Beginn der Pandemiewelle in Deutschland zeigten sich zahlreiche Versorgungs- und Hygieneprobleme, die bei besserer Vorbereitung wahrscheinlich vermeidbar gewesen wären.“ Es sei zu befürchten, dass es dadurch sowohl bei Patienten als auch beim Gesundheitspersonal zu gesundheitlichen Schäden gekommen sei. Als Beispiele nannte Gronemeyer Infektionen wegen fehlender persönlicher Schutzausrüstung und Testkapazitäten oder Schäden durch den Verzicht auf dringende Behandlungen bei Notfall- und Krebspatienten.
Zu späte Behandlungen wegen Corona.
„Die Vermutung ist tatsächlich, dass Patienten deshalb zu Schaden gekommen sind, weil Behandlungen nicht rechtzeitig stattgefunden haben“, ergänzte Professorin Astrid Zobel, Leitende Ärztin beim MDK Bayern. Es seien Behandlungen verschleppt worden, etwa von Herzinfarkt-, Schlaganfall- oder Krebspatienten. „Eine Behandlung, die zu spät erfolgt ist, ist auch ein Behandlungsfehler“, sagte sie. Allerdings müsse man schauen, ob die Behandlung vom Arzt oder Krankenhaus verschoben worden sei, aufgrund von Kliniksperrungen nicht möglich gewesen sei oder ob Patienten aus Angst vor einer Corona-Infektion nicht zu Behandlungen erschienen seien. Auch die Vorsitzende des Aktionsbündnisses Patientensicherheit (APS), Ruth Hecker, sagte: „Wir gehen davon aus, dass es im Tunnelblick, den Corona verursacht hat, eine Unterversorgung anderer Patientengruppen gegeben hat.“
Mehr Daten erforderlich.
Gronemeyer unterstrich, gerade in der Corona-Pandemie stiegen die Anforderungen an die Patientensicherheit. Es gehe darum, aus Fehlern zu lernen. „Damit können wir heute die Behandlungsfehler von morgen vermeiden.“ Dazu müsse man die Fehler jedoch erstmal kennen und analysieren. Insbesondere die Schaffung einer nationalen Never-Event-Liste, verbunden mit einer anonymen Meldepflicht für derlei Ereignisse, habe sich in zahlreichen Ländern bewährt. „Was wir brauchen, sind mehr Daten“, betonte auch Hecker. Fehlermeldesysteme existierten zwar, doch würden sie noch nicht umfassend und optimal eingesetzt. Darüber hinaus dienten sie dem wichtigen Zweck, qualitativ über Fehlerursachen Auskunft zu geben, aber nicht dazu, quantitativ über Fehlerhäufigkeiten oder gar -häufungen Aufschluss zu geben, sagte die APS-Vorsitzende.