Auch sozioökonomisch benachteiligte Bevölkerungsgruppen haben ein Recht auf gute Versorgung und Pflege.
Chancengleichheit

Gesundheit als Bringdienst

Zugehen statt übergehen: Wie sich die Gesundheitschancen von sozioökonomisch benachteiligten Menschen verbessern lassen, diskutierten Fachleute aus Politik und Wissenschaft auf Einladung des AOK-Bundesverbandes. Von Änne Töpfer

Alle Menschen in Deutschland

sollen gut versorgt und gepflegt werden – in der Stadt und auf dem Land. Das haben SPD, FDP und Grüne in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt. Um auch sozioökonomisch benachteiligte Bevölkerungsgruppen zu erreichen, will die Ampel-Regierung Konzepte wie beispielsweise den „Gesundheitskiosk“ umsetzen oder das Berufsbild der „Community Health Nurse“ etablieren. „Der Kiosk kann eine Möglichkeit sein, aber auch alles andere, was zugehend ist. Deshalb ist uns die Verankerung von Community Health Nurses wichtig“, sagte Grünen-Gesundheitsexpertin Maria Klein-Schmeink auf der Veranstaltung „AOK im Dialog“. Über eine bessere Gesundheitsversorgung vulnerabler Gruppen diskutierten mit der Vorstandsvorsitzenden des AOK-Bundesverbandes, Dr. Carola Reimann, auf dem Podium in Berlin neben Klein-Schmeink die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Dagmar Schmidt, der Unionsfraktionsvize Sepp Müller (CSU) sowie Professor Nico Dragano, Medizinsoziologe am Universitätsklinikum Düsseldorf.

Kommunen ins Boot holen.

Auch wenn das deutsche Gesundheitssystem „vergleichsweise egalitär“ sei, gebe es „dominante Muster der sozialen Benachteiligung“, betonte Dragano. Die meisten Krankheiten würden durch die Arbeits- und Lebensbedingungen determiniert, sagte der Medizinsoziologe. Die soziale Ungleichheit in der Versorgung zeige sich beim Zugang zu Gesundheitsleistungen, ihrer Inanspruchnahme und der Ergebnisqualität. So gebe es in ärmeren Stadtteilen weniger Ärzte, es komme teilweise zur Benachteiligung bei der Terminvergabe oder Menschen mit geringem Einkommen lösten ihre Rezepte nicht ein beziehungsweise reduzierten die Dosierung ihrer Medikamente. Auch verstünden Menschen mit geringer Bildung die Hinweise von Ärzten schlechter.

Wir müssen Menschen befähigen, für sich selber einzustehen.

All dem will der Gesundheitskiosk etwas entgegensetzen. Das Modell – von der AOK Rheinland/Hamburg initiiert und gefördert – bietet einen niedrigschwelligen Zugang zur Gesundheitsversorgung und ist in den Hamburger Stadtteilen Billstedt und Horn erprobt worden. Dort leben überdurchschnittlich viele Arbeitslose, Mi­granten, kinderreiche Familien, Alleinerziehende und Menschen mit niedrigeren Schulabschlüssen.

Der Kiosk bietet ihnen bedarfsorientierte und kontinuierliche Gesundheitsbetreuung in ihrer Muttersprache an. „Gesundheitskioske sind ein Angebot, auf vulnerable Gruppen zuzugehen und deren Bedarfe zu decken“, unterstrich AOK-Verbandschefin Reimann. Sie eigneten sich dafür, bundesweit ausgerollt zu werden und stünden für viele Fragen der allgemeinen Daseinsvorsorge zur Verfügung. „Die Kommunen müssen das Modell unterstützen“, forderte Reimann.

Aufbruchstimmung erzeugen.

Oppositionspolitiker Sepp Müller bestätigte: „Die Ampel hat gute Ideen, über die man diskutieren kann. Aber wir warten auf Gesetzentwürfe.“ Er wies auf den Ärztemangel im ländlichen Raum hin und plädierte dafür, in einer gemeinsamen Anstrengung mit den Bundesländern zusätz­liche Medizin-Studienplätze zu schaffen. SPD-Fraktionsvize Schmidt warnte mit Blick auf die flächendeckende Umsetzung des Gesundheitskiosks vor „Schnellschüssen“.

AOK-Bundesverband: AOK im Dialog (Aufzeichnung der Veranstaltung)

In manchen Regionen gebe es bereits gute Netzwerke, an die sich anknüpfen ließe. Schmidt zufolge soll sich eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe mit den Schnittstellenproblemen beschäftigen. Die SPD-Politikerin will „ein bisschen Aufbruchstimmung erzeugen“, um den Sozialstaat neu aufzustellen. „Die Schnittstellen-AG hätte längst tagen können“, monierte Oppositionspolitiker Müller. „Man muss jetzt in die Puschen kommen.“

Das versprach Grünen-Gesundheitsexpertin Klein-Schmeink mit Blick auf die Community Health Nurses. „Ich bin zuversichtlich, dass ein Gesetzentwurf dazu im Herbst vorliegen wird.“ Das Berufsbild erweitere die medizinisch-pflegerische Kompetenz um eine sozial-pflegerische. Das ermögliche eine aufsuchende Arbeit. Es gehe darum, Menschen so früh wie möglich aus einer benachteiligten Situation herauszuholen. „Wir müssen Menschen befähigen, für sich selber einzustehen, und ihnen nicht noch Hürden in den Weg legen.“

Änne Töpfer ist verantwortliche Redakteurin der G+G.
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