Interview

„Wir bieten kulturelle Geborgenheit“

Vor dem Krieg in der Ukraine fliehen auch Familien mit behinderten Kindern. Der Berliner Selbsthilfe-Verein „Die Sputniks“ steht ihnen mit muttersprachlichen Angeboten zur Seite. Das trägt zur Stabilisierung der Geflüchteten bei, meint Wolfgang Dengler.

Herr Dengler, wie finden aus der Ukraine geflüchtete Eltern von Kindern mit Beeinträchtigungen zum Verein „Die Sputniks“?

Wolfgang Dengler: Aufgrund unserer Verkehrssprache Russisch und unseres Bekanntheitsgrades avancierten wir nach Kriegsausbruch zur meistfrequentierten Anlaufstelle für diese Familien. Seit dem 24. Februar bis Mitte Juni sind etwa 2.000 Familien zu uns gekommen: mit Fragen nach Behörden, nach einer Unterkunft oder zur Gesundheitsversorgung, beispielsweise zur Krankenversicherung, Diagnostik, zu Therapien, Hilfsmitteln oder zur Rehabilitation.

Porträt von Wolfgang Dengler, Schriftführer beim Verein „Die Sputniks e. V.“

Zur Person

Wolfgang Dengler ist Schriftführer beim Verein „Die Sputniks e. V.“, einer Vereinigung russischsprachiger Familien mit Kindern mit Beeinträchtigungen in Deutschland.

 Weitere Informationen über „Die Sputniks e. V.“

Bitte erläutern Sie das an einem Beispiel.

Dengler: Kürzlich meldete sich bei uns eine Familie, deren Kind eine Cerebralparese hat, eine frühkindliche Hirnschädigung. Sie hatten es mit einem Intensivtransport bis Berlin geschafft und suchten eine Unterkunft. Wir haben eine Vereinbarung mit der Appartement-Vermittlung Airbnb, die uns Wohnungen bis zu 30 Tagen kostenlos zur Verfügung stellt. Da war die Familie erstaunt und glücklich. Eine Massenunterkunft beispielsweise in Turnhallen ist für Familien mit behinderten Kindern ungeeignet.

Wie hilft der Verein den Familien darüber hinaus?

Dengler: Unsere Peers organisieren den provisorischen Alltag und die medizinische Erstversorgung. Ein Drittel unserer Mitglieder stammt aus der Ukraine. Gleiche Muttersprache und gleiches Schicksal verbinden. Die Sputniks bieten Gruppenberatungen digital oder in Präsenz. Bei diesen Veranstaltungen wird nebenbei das Samenkorn für eine zukünftige gesundheitsbezogene Selbsthilfe gelegt. Die Geflüchteten reden in der Gruppenberatung über ihre aktuellen Bedürfnisse und Erfahrungen.
 
Was verstehen Sie unter Peers?

Dengler: Betroffene für Betroffene: Eltern behinderter Kinder tauschen sich aus. Ich bin Großvater eines autistischen Enkels. Er ist 16 und braucht mich nicht mehr so häufig, deshalb kann ich mich im Verein engagieren. Sich der Probleme peergemäß anzunehmen, bedeutet sich auf Augenhöhe zu begegnen. Das ist für die Betroffenen emotional eine große Hilfe.

Unsere Peers organisieren den Alltag und die medizinische Erstversorgung.

Auf welche Erfahrungen greift der Verein zurück?

Dengler: Wir können auf zehnjährige Erfahrungen mit russischsprachigen Geflüchteten aus dem Kaukasus, Tadschikistan, Usbekistan und ähnlichen Staaten sowie mit russischen EU-Binnenflüchtlingen aus baltischen Staaten zurückgreifen. Im Rahmen der Selbsthilfe haben wir Elternnetzwerke aufgebaut, die relevante Informationen in verständlicher Sprache verbreiten, sich individueller Probleme annehmen oder Familien auf dem Land digital unterstützen. Unsere Selbsthilfe-Strukturen sind ein guter Humus für die Stabilisierung von Geflüchteten. Gruppen, deren Mitglieder einen ähnlichen kulturellen Hintergrund mitbringen, bilden für Geflüchtete und Zuwanderer den Königsweg in die Selbsthilfe. Wir bieten kulturelle Geborgenheit, die für Familien mit behinderten Kindern durch nichts zu ersetzen ist.

Welche Unterstützung benötigt der Verein von außen?

Dengler: Wir benötigen Ressourcen, die unserem Wachstum entsprechen. Unsere gesundheitsbezogenen Selbsthilfe- und Peer-Aktivitäten haben sich infolge des Krieges verdoppelt. Wir hoffen auf Krankenkassenförderung. Zudem versuchen wir, Gesundheitspolitiker als Fürsprecher zu gewinnen.

Änne Töpfer führte das Interview. Sie ist verantwortliche Redakteurin der G+G.
Bildnachweis: privat