Pandemie

Corona-Schutz für Pflegeheime

Auch im kommenden Herbst und Winter werden sich voraussichtlich viele Menschen mit dem Corona-Virus infizieren. Die Politik plant deshalb, Risikogruppen besonders zu schützen. Was das für Pflegeeinrichtungen bedeutet und auf welche Erfahrungen sie sich stützen können, skizziert Silke Jäger.

März 2022, Deutschland erlebt die fünfte Welle der Pandemie. Die Omikron-Variante des Corona-Virus sorgt für hohe Infektionszahlen, auch unter Geimpften. In einem Pflegeheim in Nordrhein-Westfalen fällt das gesamte Personal einer Demenzstation aus. Alle sind infiziert. Wo sie sich angesteckt haben, ist unklar.

Kurz vorher war die einrichtungsbezogene Impfpflicht in Kraft getreten. Zum Zeitpunkt des Ausbruchs waren also mutmaßlich ausschließlich geimpfte Pflegefachpersonen und andere geimpfte Mitarbeiter im Einsatz. Trotzdem kommt es zu diesem Ausbruch. Ein Notstand. Die Heimleitung ist verpflichtet, die Bewohnerinnen und Bewohner vor dem Virus zu schützen: Infiziertes Personal darf sie nicht einsetzen, Besuch nicht mehr erlauben, die Bewohner dürfen ihre Zimmer nicht verlassen. Doch wie erklärt man das alles den dementen Menschen?   

Durch Isolation verschlechtert sich der Allgemeinzustand.

Die Tochter einer Bewohnerin berichtet, dass ihre Mutter alle fünf Minuten vergisst, dass sie in ihrem Zimmer bleiben soll. Für die Frau, bei der eine Demenz vorliegt, fallen zudem wichtige Routinen weg. Um das Ansteckungsrisiko zu reduzieren, gibt es im Heim keine gemeinsame Abendgestaltung mehr. Es ist nicht erlaubt, mit den anderen Bewohnerinnen gemeinsam im Speisesaal zu essen. Die Kaffeekanne auf dem Flur bleibt öfter leer, weil die wenigen Ersatzkräfte mit anderen Aufgaben alle Hände voll zu tun haben und sich nicht immer um frischen Kaffee kümmern können. Ein Problem für die Bewohnerin: Der fehlende Kaffee steht stellvertretend für fehlende emotionale Zuwendung. „Gerade die kleinen Dinge des Alltags sind manchmal so wichtig“, sagt die Tochter. „Meiner Mutter ging es in dieser Zeit noch schlechter als sonst. Sie hat einfach nicht verstanden, warum alles plötzlich so hektisch ist.“ Die Seniorin hat sich nicht angesteckt, aber ihr Allgemeinzustand hat sich durch die eingeschränkte Teilhabe verschlechtert.

Stationäre Pflege im Fokus der Schutzmaßnahmen.

Die Gesellschaft ringt auch im dritten Jahr der Corona-Pandemie um den richtigen Weg im Umgang mit dem Virus. Am Anfang ging es ausschließlich darum, möglichst wenige Menschen an Covid-19 zu verlieren. Jetzt besteht der Anspruch, den Nutzen der Schutzmaßnahmen mit dem Schaden, den sie verursachen können, abzuwägen. Der Deutsche Pflegerat hat im März 2022 einen Expertinnenrat Pflegewissenschaft/Hebammenwissenschaft und Pandemie einberufen. Die pflegewissenschaftliche Expertise ist in anderen Gremien, die die Politik beraten sollen, wenig eingebunden. Im Juni 2022 veröffentlichte der Rat deshalb spezielle Empfehlungen für die stationäre und ambulante Pflege sowie Hebammenleistungen (siehe Kasten „Empfehlungen des Deutschen Pflegerats“). Der Rat betont darin, dass alle vertretbaren Möglichkeiten der Infektionskontrolle ausgeschöpft werden sollten, um Pflegebedürftigen möglichst viel Teilhabe am öffentlichen Leben zu gewährleisten.

Am 23. Juni 2022 veröffentlichte der Deutsche Pflegerat Handlungsempfehlungen zur Vorbereitung auf eine weitere Sars-CoV-2-Welle im Herbst 2022 in der Pflege und im Hebammenwesen.
 
Die Empfehlungen umfassen unter anderem folgende Vorschläge:
 

  • alle Einrichtungen sollen durchgehend für Besuche offen bleiben
  • Bewohnerinnen und Angehörigen sollen Informationen zur Verfügung gestellt werden, mit denen sie ihr individuelles Risiko mit der gewünschten Teilhabe abwägen können
  • Aufbau von Personalpools, um dem höheren Bedarf an Pflege während der Pandemie gerecht zu werden
  • Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts umsetzen
  • Pflegefachpersonen autorisieren, Schutzimpfungen vorzunehmen

Quelle: Deutscher Pflegerat

Ein anderes Gremium, der Expertenrat der Bundesregierung, hat bereits im Mai Empfehlungen für pflegebedürftige Menschen in Pflegeeinrichtungen veröffentlicht und auch eine Stellungnahme dazu, wie sich die Behörden und Einrichtungen auf das Pandemiegeschehen im nächsten Herbst und Winter vorbereiten können. Er empfiehlt einen Strategiewechsel: weg von allgemeinen Schutzmaßnahmen, hin zu speziellen Schutzkonzepten für Risikogruppen. Die stationären Langzeitpflegeeinrichtungen stehen dabei besonders im Fokus.

Ausbrüche bedrohen vulnerable Gruppen.

Covid-19 ist einerseits für pflegebedürftige und vorerkrankte Menschen eine unter vielen Infektionskrankheiten, die ihr Leben vorzeitig beenden können. Andererseits ist Covid-19 eine besondere Bedrohung, weil das Immunsystem der Menschen auch im dritten Jahr der Pandemie dem Virus unterm Strich noch zu wenig entgegensetzt und das Virus über Aerosole leicht übertragbar ist. Da das recht schnell mutierende Virus den Impfschutz unterlaufen kann, kommt es weiterhin zu großen Krankheits-Ausbrüchen. Diese Ausbrüche bedrohen die verletzlichen Mitglieder der Gesellschaft besonders stark.
 
Wie Pflegeeinrichtungen Ausbrüchen vorbeugen können, erläutert das Robert-Koch-Institut ausführlich. Im Mai hat es diese Empfehlungen aktualisiert (siehe Kasten „Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts“). Besonders wichtig sind demnach immer noch drei Bausteine: Impfungen, Tests und ein Aerosol-Management. Diese Bausteine werden je nachdem, wen sie betreffen – Bewohner oder Besucher – variiert. Grob zusammengefasst: Mitarbeiter sind verpflichtet, sich impfen zu lassen und Masken zu tragen, Besucher müssen einen tagesaktuellen Negativtest vorlegen und ebenfalls Masken tragen, Bewohnerinnen wird empfohlen, sich impfen zu lassen und auf Abstand und frische Luft in den Räumen zu achten. Wie Besuche sicher gestaltet werden können, erklärt eine Handreichung des Bundesgesundheitsministeriums (siehe Lese- und Webtipps).

Bundesländer reagieren unterschiedlich.

All das klingt gut. Doch wie läuft es vor Ort? In der Praxis arbeitet jede Pflegeeinrichtung mehr oder weniger allein ein eigenes Hygienekonzept aus. Dabei können sie die Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts nutzen. Die gesetzlichen Vorgaben, wie sie im Infektionsschutzgesetz definiert sind, und die Verordnungen der Bundesländer müssen sie einhalten.

Zum Schutz vor Covid-Ausbrüchen in Pflegeheimen sind nach wie vor drei Bausteine wichtig: Impfungen, Tests und ein Aerosol-Management.

Thomas Fischer ist Professor für Pflegewissenschaft an der Evangelischen Hochschule in Dresden und Sprecher des Expertinnenrats des Deutschen Pflegerats. Er sagt: „Von einem einheitlichen Schutzkonzept für Pflegeeinrichtungen können wir eigentlich nicht sprechen. Die Bundesländer handhaben das in ihren Verordnungen sehr unterschiedlich.“ Eine Forschergruppe um Thomas Fischer hat im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums im Dezember 2021 ein Gutachten veröffentlicht, das die Sars-CoV-2-Ausbrüche in stationären Pflegeeinrichtungen auswertet – oder besser gesagt: auswertet, was darüber bekannt ist. Die Verfasser berücksichtigen darin Veröffentlichungen aus internationalen Datenbanken: sechs Übersichtsarbeiten und 170 Einzelveröffentlichungen, vor allem Arbeiten aus den USA und dem Vereinigten Königreich. Aus Deutschland stammen lediglich zwei der einbezogenen Artikel.

Größere Einrichtungen stärker gefährdet.

Die Expertinnen und Experten interessierten sich besonders dafür, welche Faktoren das Infektionsgeschehen in Pflegeeinrichtungen verstärken und welche sich günstig auswirken. Sie stellten fest, dass eine höhere Inzidenz außerhalb der Einrichtung ein wesentlicher Faktor für Ausbrüche in Pflegeheimen ist. Größere Einrichtungen sind gefährdeter für Ausbrüche als kleinere. Günstig wirkt sich hingegen aus, wenn die Qualität der Einrichtung höher bewertet ist, wenn die Einrichtung nicht auf Gewinnerzielung ausgerichtet ist und eine bessere Personaldecke hat. Zu all diesen Faktoren gibt es keine einheitliche Studienlage, sodass diese Ergebnisse eher als Hinweise zu verstehen sind.

Fischer resümiert: „Die Hinweise aus der Forschung sagen uns, dass es immer einen Zusammenhang zwischen dem gibt, was in der Allgemeinbevölkerung passiert und dem, was in den Pflegeeinrichtungen passiert.“ Diese Erkenntnis ist nicht neu. Man weiß das aus dem Bereich der Tierseuchen schon lange. Der Leiter des Instituts für Virologie an der Universität Gießen, Professor Friedemann Weber, wird im „Spiegel“ vom 20. Mai 2022 mit den Worten zitiert: „Wenn man draußen eine Pest frei laufen lässt, kann man die Tiere im Stall nicht schützen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die sich auch infizieren.“ In allen Corona-Wellen hat sich dieses Muster auch gezeigt. Zuerst stecken sich die jungen, mobileren Bevölkerungsgruppen an und einige Zeit später sickert das Infektionsgeschehen in die älteren, weniger mobilen Gruppen ein.

Übersterblichkeit in Pflegeheimen.

In Deutschland leben zurzeit etwas mehr als vier Millionen pflegebedürftige Menschen, etwa 20 Prozent von ihnen (circa 800.000) in 15.400 Alten- und Pflegeheimen. Das Robert-Koch-Institut listet im Epidemiologischen Bulletin 18/2021 auf, wie viele Menschen in Alten- und Pflegeheimen in der ersten und zweiten Welle an Corona gestorben sind. In der zweiten Welle zählte das Institut zwischen der 40. Kalenderwoche 2021 und der sechsten Kalenderwoche 2022 4.119 Ausbrüche, bei denen 15.028 Menschen starben. Die meisten von ihnen waren älter als 65 Jahre, nämlich 14.731 Frauen und Männer. Über 5.000 Pflegeheimbewohner starben in einem Krankenhaus. Der Anteil an allen Todesfällen betrug in der zweiten Corona-Welle, in der zuerst die Ursprungsvariante kursierte und dann von der Alpha-Variante abgelöst wurde, 93,5 Prozent.

In seiner Handreichung „Prävention und Management von Covid-19 in Alten- und Pflegeeinrichtungen und Einrichtungen für Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen“ vom 27. Mai 2022 empfiehlt das Robert-Koch-Institut unter anderem:
 

  • Basishygienemaßnahmen, wie Tragen von Masken (Mitarbeiterinnen, Besucher und Bewohnerinnen), Abstandsregeln, Husten- und Nies-Regeln, Luftreinhaltung (Lüften, Luftfilter, Lüftungsanlagen)
  • Erweiterte Hygienemaßnahmen, wie getrennte Versorgung von Infizierten und möglicherweise Infizierten, Kohortenbildung (feste Versorgungsteams, feste Bewohnergruppen), besonderer Umgang mit Verstorbenen, Personalschutzmaßnahmen (Schutz­ausrüstung, Desinfektion, Hygienebeauftragte, Ausweitung der strengen Schutzmaßnahmen auch auf nicht betroffene Abteilungen)

Quelle: Robert-Koch-Institut

Das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) stellte im Pflege-Report 2021 fest, dass die Sterblichkeit in Pflegeheimen bereits in der ersten Corona-Welle um 20 Prozent höher lag als im Mittel der Vorjahre. In der zweiten Welle zwischen Oktober und Dezember 2020 stieg die Übersterblichkeit in Pflegeeinrichtungen auf durchschnittlich 30 Prozent. Dabei gab es Wochen, in denen sie bei über 80 Prozent lag. Die Leiterin der Forschungsbereichs Pflege im WIdO, Dr. Antje Schwinger, sagte bei der Vorstellung des Reports: „Die Infektionsschutzmaßnahmen während der Pandemie reichten nicht aus, um die im Heim lebenden pflegebedürftigen Menschen ausreichend zu schützen.“

Schwachstellen in Schutzkonzepten.

Was diese nüchternen Worte ganz real bedeuten, weiß Tobias Krüger. Er ist Geschäftsführer von „Pflegedienst Krüger“ in Sachsen-Anhalt, zu dem drei Pflegeheime und zwei Einrichtungen des Betreuten Wohnens gehören. Er erinnert sich sehr gut daran, wie schlimm die zweite Welle war. „In einer Einrichtung mit 48 Betten hatten wir innerhalb kürzester Zeit zwölf Todesfälle. Das war unbeschreiblich!“ Im Januar 2021 waren alle Bewohnerinnen und Bewohner dieser Einrichtung infiziert. Bis auf zwei Mitarbeiterinnen war auch das gesamte Personal krank. Drei Mitglieder aus Krügers Familie mussten einspringen, um die Versorgung einigermaßen aufrechtzuerhalten. Einige Familienmitglieder arbeiteten in dieser Zeit zwei bis drei Schichten hintereinander, tagelang. Krüger forderte die Hilfe der Bundeswehr an, doch die war für private Pflegeheime nicht zuständig. „Das Virus ging in den ersten drei Monaten im Jahr 2021 zwischen Pflegediensten, Arztpraxen, Krankenhäusern, Heimen und Rettungsdiensten hin und her, immer im Kreis. Es gab an den Schnittstellen kein Schutzkonzept“, sagt Krüger. Er meint damit, dass die strengen Maßnahmen, die für Besucher galten, bei Rettungsdiensten und Ärzten, die ins Heim kamen, nicht griffen. Sie mussten keinen negativen Corona-Test vorweisen. Außerdem durften die Bewohner das Haus verlassen und konnten sich so außerhalb des Heims anstecken. Beides hält er für wesentliche Schwachstellen in den Schutzkonzepten.

Teilhabe weiter ermöglichen.

Wie sich die Erfahrungen aus vorhergehenden Wellen für die Schutzkonzepte im nächsten Herbst nutzen lassen, ist eine große Frage. Pflegewissenschaftler Fischer sind dabei zwei Dinge wichtig: „Erstens, dass nicht wieder viele Menschen sehr krank werden oder sterben. Das heißt, wir brauchen Konzepte, die wieder ein höheres Schutzniveau ermöglichen. Zweitens können wir jegliche Menschenrechte, soziale Teilhabe und Lebensqualität für Menschen in stationären Pflegeeinrichtungen nicht einfach wegwischen.“
 
Viele Pflegeheime haben sich schwergetan, bei nachlassenden Infektionszahlen freiheitseinschränkende Maßnahmen zurückzunehmen. Besuchsverbote wurden zum Teil noch aufrechterhalten, als die Verordnungen der Bundesländer diese gar nicht mehr vorschrieben. Fischer nimmt an, dass dies mit der Traumatisierung des Personals zu tun hatte. Gerade wenn in einer Einrichtung viele Menschen gestorben sind, war die Angst groß, dass das wieder passieren könnte.

Ein Echtzeitmonitoring, das seinen Namen verdient, ist wegen der unzureichenden Digitalisierung kaum möglich.

Inzwischen sind – anders als in der zweiten Welle – viele Menschen geimpft, nicht nur das Personal, auch die Bewohnerinnen und Bewohner. Sie waren zuerst dran, sobald Impfstoff zur Verfügung stand. Und sie werden auch weiterhin von der Ständigen Impfkommission (STIKO) priorisiert. So empfiehlt die STIKO beispielsweise die zweite Auffrischungsimpfung zurzeit nur für Vorerkrankte und Menschen über 70 Jahre. Allerdings berichtet Heimbetreiber Tobias Krüger: „Von unseren Mitarbeitern haben sich circa 95 Prozent impfen lassen. Doch nur 80 Prozent der Bewohner sind geimpft.“ Auf die Frage, woran das liegt, sagt er: „Oft sind die Angehörigen dagegen, weil sie die Impfung für gefährlich halten.“ Das Robert-Koch-Institut stellte bei 1.003 befragten Einrichtungen eine Impfquote von 89 Prozent bei Bewohnerinnen und Bewohnern fest (Zeitraum der Befragung: Oktober 2021 bis Mitte Dezember 2021).

Niedrigschwellige Impfangebote für Heimbewohner.

In der öffentlichen Debatte kommt dieses Problem kaum vor. Dabei sorgt die Impflücke in den Risikogruppen dafür, dass weiterhin viele Menschen an Covid-19 sterben. Die amerikanische Infektionsschutzbehörde CDC gibt an, dass das Risiko zu sterben für zweimal Geimpfte 14-fach geringer ist und für einmal Geboosterte sogar 97-fach geringer. Diejenigen, die ein erhöhtes Risiko bei einer Corona-Infektion tragen, profitieren von den Impfungen besonders stark.
 
Und so überrascht es nicht, wenn der Expertinnenrat der Bundesregierung als eine von vier Empfehlungen zu speziellen Schutzmaßnahmen das niedrigschwellige Impfangebot in Alten- und Pflegeheimen nennt – neben regelmäßigen Testungen der Beschäftigten, Besucher und Bewohner. Der Rat hält es aber auch für nötig, dass die Gesundheitsämter die Heime mehr unterstützen: bei der Erarbeitung von Hygienekonzepten, durch regelmäßigen Austausch und auch durch präventive Besuche.
 
Pflegeunternehmer Krüger hält diese Maßnahme auch für entscheidend. Im Mai 2022 erzählt er: „Bei uns sind tatsächlich zurzeit sehr viele Mitarbeiter in Quarantäne, weil sie positiv getestet sind. Alles relativ harmlose Verläufe, aber eben ein massiver Ausfall.“ Er erlebt, dass die Infektionen zum einen in den Privathaushalten stattfinden, aber nicht nur. „Mitarbeiterinnen stecken sich auch bei unseren Bewohnern an, andersrum eigentlich nicht.“

Infektionsschutzgesetz läuft aus.

Die Schwierigkeit im Herbst 2022 wird für Pflegeeinrichtungen vor allem darin bestehen, schnell auf das dynamische Infektionsgeschehen zu reagieren. Dies kann sich von Region zu Region stark unterscheiden. Deshalb können die Bundesländer abhängig vom Infektionsgeschehen im Landkreis oder der Stadt, in der die Einrichtung steht, zusätzliche Schutzmaßnahmen für die Allgemeinheit ergreifen. Wann die Bundesländer jedoch diese sogenannte Hotspot-Regel aktivieren, bleibt ihnen überlassen. Dabei sollen sie nicht nur die Inzidenz berücksichtigen, sondern auch, wie stark die Krankenhäuser durch Corona-Patienten belastet sind. Die Bundesländer legen die Grenzwerte dafür selbst fest.
 
All das ist im Infektionsschutzgesetz festgeschrieben, das jedoch am 23. September 2022 ausläuft. Was danach kommt, darüber streitet die Ampel-Koalition noch. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach stellte im Juni einen 7-Punkte-Plan zur Vorbereitung auf den Herbst vor. Zuvor hatte er sich mit Vertretern von Leistungserbringern in der Pflege getroffen. Der Plan sieht vor, dass jede Pflegeeinrichtung eine Hygienebeauftragte benennen soll und der Sommer dafür genutzt wird, Impflücken unter den Bewohnerinnen zu schließen. Besucherinnen von Pflegeheimen haben weiterhin Anspruch auf einen kostenlosen Test. Pflegeeinrichtungen können Besuchern dafür eine Besuchsbestätigung ausstellen.

Gegensteuern erfolgt in der Regel mit Verzögerung.

Wie die Einrichtungen ihre Schutzkonzepte anpassen können, ist nicht genau definiert. Dabei haben sowohl die Leitungen der Heime als auch die Gesundheitsämter und Landrätinnen das gleiche Problem: Ein Echtzeitmonitoring, das seinen Namen verdient, ist wegen unzureichender Digitalisierung kaum möglich. Das wäre aber die Voraussetzung dafür, die Schutzkonzepte an das Infektionsgeschehen anpassen zu können.

  • 10. und 11. Stellungnahme des ExpertInnenrates der Bundesregierung zu COVID-19
  • Der Expert:innenrat „Pflegewissenschaft/Hebammenwissenschaft und Pandemie“ des Deutschen Pflegerats: Handlungsempfehlungen zur Vorbereitung auf eine weitere SARS-CoV-2-Welle im Herbst 2022 in der Pflege und im Hebammenwesen. Download
  • Der Bevollmächtigte der Bundesregierung für die Pflege: Besuche sicher ermöglichen. Besuchskonzepte in stationären Einrichtungen der Langzeitpflege während der Corona-Pandemie. Download
  • Bundesministerium für Gesundheit (Hrsg.): SARS-CoV-2 Ausbrüche in stationären Pflegeeinrichtungen. Literaturauswertung zu Ursachen, beeinflussenden Faktoren und Prävention. Dezember 2021. Download

Wie viele Menschen wegen Covid-19 ins Krankenhaus müssen und wie die Dynamik der Ausbreitung einzuschätzen ist, ermöglicht den Blick nach vorn und damit das rechtzeitige Gegensteuern – sowohl für Einrichtungen als auch für die Allgemeinheit. Doch das Gegensteuern erfolgt in der Regel mit einer gewissen Verzögerung. Und genau die kann dazu führen, dass es zu schweren Covid-19-Verläufen und Todesfällen in den Risikogruppen kommt.

Andere Infektionen in den Blick nehmen.

Selbst wenn Maßnahmen rechtzeitig ergriffen werden, reichen sie oft nicht aus, um die Omikron-Variante des Virus tatsächlich von Heimbewohnern fernzuhalten. Im Juni 2022 hat sich die BA.5-Untervariante des Omikron-Virus in Deutschland weit verbreitet. Sie ist ansteckender als die BA.2-Variante, die seit dem Frühjahr in Deutschland vorherrscht, und trägt so zu einer „Sommerwelle“ bei. Alle Schutzmaßnahmen reduzieren das Risiko einer Ansteckung. Infektionen ganz zu verhindern ist jedoch selbst bei Kombination aller Maßnahmen nicht garantiert.
 
Thomas Fischer sagt: „Die Pflegeheime kritisierten auch schon vor der Pandemie, dass es keine langfristige Planung gibt. Sie haben ja auch mit anderen Infektionen zu tun, die aus meiner Perspektive ebenfalls nicht gut genug angeguckt werden. Wir nehmen hin, dass es jedes Jahr Wellen mit dem Norovirus und Influenza gibt. Sie werden sich wahrscheinlich nicht komplett vermeiden lassen, aber konzeptionell wäre da schon noch Luft nach oben.“

Personalsituation verbessern.

Das passt zu den Empfehlungen, die der Expertinnenrat der Bundesregierung in seiner zehnten Stellungnahme vom 24. Mai 2022 gibt. Drei der vier Punkte drehen sich um Aspekte, die unabhängig von der Corona-Pandemie wichtig sind, um pflegebedürftigen Menschen ein würdevolles Altern und Sterben zu ermöglichen und sie dabei angemessen medizinisch zu versorgen.
 
Jede Corona-Welle, die in der Allgemeinbevölkerung grassiert, reduziert das Personal in den Einrichtungen, wenn es selbst erkrankt. Jede Corona-Welle, die in einem Pflegeheim ankommt, setzt Bewohnerinnen und Bewohner unter Stress und reduziert ihre Teilhabemöglichkeiten. Spezielle Schutzkonzepte in Einrichtungen sind ohne Zweifel richtig und wichtig. Wie gut sie das Virus aus den Einrichtungen halten können, hängt aber davon ab, wie gut die Allgemeinbevölkerung das Virus eindämmt. Wie widerstandsfähig die Einrichtungen sind, hängt von der Personalsituation ab. Wie gut die Personalsituation ist, hängt von den Rahmenbedingungen wie Bezahlung, Arbeitsbedingungen und Ausbildungsstandards ab. Und die gibt die Politik vor.

Pflege muss zur Chefsache werden.

Beim Nachdenken über gute Schutzkonzepte wird klar: Die Politik muss bei den Rahmenbedingungen deutlich umsteuern. Die Entwicklung der vergangenen drei Jahrzehnte führte in den Langzeitpflegeeinrichtungen zu teils skandalösen Zuständen. Sich darüber nur zu empören und einzelnes Versagen an den Pranger zu stellen, ist zu wenig. Hier macht die Pandemie einmal mehr deutlich, was schon lange fällig ist: Die Situation in der Langzeitpflege muss zur Chefsache werden.

Silke Jäger ist freie Medizinjournalistin in Marburg.
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